Rolf-Dieter Meier

Ernteplanet


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Rest an Eigenständigkeit wollte er sich unbedingt so lange wie möglich bewahren. Nachdem er seinen Körper so gut es ging abgetrocknet hatte, setzte er sich, nackt wie er war, wieder in seinen Rollstuhl und fuhr, sein Gefährt fast lässig mit seinen Händen vorantreibend, zum Ausgang des Bades. Bevor er nach links in den Flur abbog, warf er einen Blick in die dem Bad gegenüberliegende Küche, in der der Kaffeeautomat gerade sein automatisches Reinigungsprogramm startete. Allem Anschein nach, war man bereit, ihm sein Frühstück zu servieren.

      Ein paar Meter den Flur entlang befand sich auf der linken Seite sein Schlafzimmer. Hier stand auch ein größerer Schrank, in dem er seine Kleidung aufbewahrte. Als er vom Flur in das Zimmer abbog, wusste er bereits, was ihn erwarten würde. Insoweit war er auch nicht überrascht, einen jungen Mann auf dem Stuhl, der neben seinem Bett stand, sitzen zu sehen. „Heute ist also Sven wieder an der Reihe“ dachte er. Sie wechselten alle fünf Tage, insgesamt waren es drei verschiedene Pfleger, die ihm seit seinem Schlaganfall beim An- und Auskleiden behilflich waren. An die erste Begegnung mit einem seiner Helfer konnte er sich noch gut erinnern. Fast acht Wochen war er nach seinem Schlaganfall praktisch rund um die Uhr betreut worden bis er eines Abends für sich entschieden hatte, fit genug für den Versuch zu sein, das morgendliche Bad mit allem Drum und Dran alleine zu bewältigen. Dies hatte er der diensthabenden Schwester unverzüglich mitgeteilt. Sie hatte ihn, der da eher tatenlos als tatendurstig im Bett lag, eher mitleidig, so schien es ihm, angeschaut, sich dann aber doch zu einem: „Wenn du meinst!“ durchgerungen. Dass sie augenscheinlich an seiner Fähigkeit zweifelte, seinen Wunsch auch in die Tat umzusetzen, beflügelte ihn umso mehr. „Du wirst schon sehen, ich bekomme das hin“ hatte er ihren Worten entgegengesetzt. Er war davon überzeugt, dass sie ihn in diesem Moment unter der Rubrik „störrisches Kind“ verbuchte. Dann stolzierte sie aus dem Zimmer, wobei sie, wie er fand, aufreizend mit dem Po wackelte. Nun gut, insoweit waren seine Reflexe noch nicht ganz verkümmert. Am nächsten Morgen hatte er es tatsächlich geschafft, seinen Wunsch Realität werden zu lassen. Die damit verbundene Euphorie erhielt jedoch einen Dämpfer, als ihm klar wurde, dass er sich nach der Körperpflege nunmehr der Prozedur des Ankleidens unterwerfen musste. Noch in Gedanken, wie er das bewerkstelligen könnte, kurvte er in sein Schlafzimmer. Er hatte die Türöffnung noch nicht einmal vollständig durchfahren, als er fast beiläufig die Person erfasste, die dort auf einem Stuhl sitzend bereits auf ihn wartete. Den Kopf in Richtung des unbekannten Mannes drehend, entschlüpfte dem jetzt weit geöffneten Mund ein Laut des Erschreckens. Der Anblick des nackten alten Mannes im Rollstuhl mit einem Gesichtsausdruck des Entsetzens veranlasste den unbekannten Mann, der gerade mal das 20. Lebensjahr erreicht haben durfte, sich mit großer Geschwindigkeit aus dem Stuhl zu erheben. Wie zur Beschwichtigung hob er die Arme, die Handflächen nach vorne gerichtet, wobei er, statt in der Bewegung zu verharren, noch einen Schritt nach vorne machte. Er hatte allerdings nicht mit dem ausgeprägten Vorwärtsdrang des Rollstuhlfahrers gerechnet, der in Anbetracht der unerwarteten Situation das Bremsen vergessen hatte. Der rechte Fuß des jungen Mannes geriet also unter die Fußstütze des Rollstuhls und bremste damit das Gefährt. Obwohl man annehmen muss, dass diese Begegnung äußerst schmerzhaft gewesen war, drang kein Laut über seine Lippen. Vielmehr schien er sein ganzes Augenmerk darauf zu richten, dass sich sein Oberkörper ungebremst auf den nackten alten Mann in seinem Rollstuhl zu bewegte. Doch bevor das anscheinend unvermeidliche geschehen konnte, zog der junge Mann mit einer fast tänzerisch anmutenden Seitwärtsbewegung seinen rechten Fuß unter der Fußstütze hervor, um sich anschließend rücklings auf das Bett fallen zu lassen. Allerdings machte er keine Anstalten, es sich hier bequem zu machen, um seinen malträtierten Unterschenkel zu massieren. Mit einer geschmeidigen Bewegung begab er sich unverzüglich von der Vertikalen wieder in die Horizontale, dabei gleichzeitig ein freundliches Lächeln aufsetzend. „Entschuldige bitte vielmals, dass ich dich so erschreckt habe. Ich hätte mich doch vorher anmelden sollen.“ Daraufhin folgte eine kleine Pause, um den sichtlich um Fassung bemühten alten Mann ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. „Ich bin Robin…“, fuhr er dann fort „… und werde dir beim Ankleiden behilflich sein.“ Das muss man ihnen lassen, dachte der alte Mann, in Ihrer Wortwahl kann ihnen keiner das Wasser reichen.

      Genau wie ihm damals Robin beim Ankleiden behilflich war, so war es heute Sven. Er hatte sich aus seinem Rollstuhl erhoben und stand im Adamskostüm neben seinem Bett. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, sich so nackt Dritten zu zeigen. Das mochte an seinem Alter, aber vielleicht auch an seiner Erziehung gelegen haben, die sich nicht gerade durch Prüderie ausgezeichnet hatte. Also hob er erst sein linkes Bein, dann sein rechtes Bein, um in die von Sven bereitgehaltene Unterhose zu steigen. Sven zog die Hose so weit hoch, dass er sie greifen und in die richtige Position bringen konnte. Das Unterhemd, das ihm der junge Mann bereits hinhielt, war schnell übergestreift. Er hatte in seinem Leben nur selten auf ein Unterhemd verzichtet; er mochte es nicht, wenn sich der Schweiß, insbesondere im Sommer, auf dem Oberhemd abzeichnete. Ausgenommen waren T-Shirts, aber die trug er nur, wenn es wirklich heiß war. Als hätte er die Gedanken des alten Mannes erraten, hielt Sven ihm ein kurzärmliges, dezent gestreiftes Hemd entgegen, das die ungeteilte Zustimmung erhielt. Nachdem er das Hemd angezogen und zugeknöpft hatte, stieg er in eine zum Hemd passende hellbeige Hose. Anschließend nahm er wieder in seinem Rollstuhl Platz, um sich von Sven die restlichen Kleidungsstücke und ein Paar leichte Lederschuhe anpassen zu lassen. Die ganze Prozedur hatte sich stillschweigend und routiniert vollzogen. Zum Abschluss reichte ihm Sven noch die Armbanduhr, die die Nacht auf dem kleinen Beistelltisch neben seinem Bett verbracht hatte. „Danke, Sven, das war‘s mal wieder!“, sagte der alte Mann, um dann noch hinzuzufügen: „Wird ein schöner Tag.“

      „Das denke ich auch. Eine gute Zeit, für ein Frühstück auf der Terrasse“, antwortete Sven und deutete mit einer Handbewegung die Richtung an. Als ob er nur auf das entsprechende Stichwort gewartet hätte, rollte der alte Mann los, kurvte nach links auf den Flur und von da aus nach rechts in das Wohnzimmer. Dieses durchquerte er ohne weiteren Aufenthalt, um durch die weit geöffnete Tür auf die Terrasse hinaus zu fahren. In der Tat, ein herrlicher Morgen! Das üble Wetter von gestern war abgezogen, nur ein paar versprengte kleine Wölkchen zogen an einem ansonsten strahlend blauen Himmel dahin. Die Sonne stand bereits hoch genug, um über den Wipfel der mächtigen Eiche schräg links von ihm hinweg zu lugen. Auch der restliche Schatten, der sich noch über einen Teil der Terrasse legte, würde nicht mehr lange Bestand haben. Es war kühler, als der alte Mann erwartet hatte. Es musste nach den eher schwülen Tagen zuvor einen ordentlichen Wetterumschwung gegeben haben. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Wölkchen von Ost nach West zogen. Ja, er hatte recht! Üblicherweise kam hier das Wetter aus westlicher Richtung und brachte im Sommer mehr Feuchtigkeit mit. Bei einer Ostströmung kam um diese Jahreszeit eher trockene Luft von den Landmassen im Osten. Nun rollte er noch etwas näher an den kleinen, bereits gedeckten Tisch in der Mitte, der von Blumentrögen begrenzten Terrasse. Er arretierte die Bremse seines Rollstuhls und stemmte sich aus dem Sitz, um sich anschließend in einem der bereit gestellten Stühle niederzulassen. Der Tisch und die beiden Stühle waren aus Rattan gefertigt. Obwohl ansonsten geneigt, auch etwas Neues auszuprobieren, hatte er bei seinem Mobiliar keine Kompromisse gemacht. Hier legte er Wert auf natürliche Produkte. Er liebte Holz, obwohl die Kunststoffe mittlerweile kaum noch von dem Original zu unterscheiden waren, wenn es sich um eine Holzimitation handelte. Auf dem Tisch lag eine zartgrüne Decke. Also heute mal nicht weiß, dachte er, während er seinen Blick über das vor ihm stehende Gedeck schweifen ließ. Es war wie immer alles da: Teller, Tasse, Messer, Gabel und Teelöffel. Nicht zu übersehen, die kunstvoll gefaltete Stoffserviette auf seinem Teller in dem gleichen Farbton wie die Tischdecke. Das hatte Stil, davon war er fest überzeugt. Noch ganz im Anblick dieses Ensembles vertieft, nahm er zunächst nicht wahr, dass aus dem Wohnzimmer kommend ein Tablett heran schwebte. Einen Moment hielt es dann bewegungslos über dem Tisch inne, um dann mit einer sanften Abwärtsbewegung die endgültige Parkposition einzunehmen. Augenblicklich verbreitete sich der Duft gebratenen Specks, der seine Vorfreude auf das Mahl deutlich erhöhte. Auch der Anblick des Spiegeleis, das auf den Punkt gebraten war, genauso wie er es schätzte, ließ ihm, wie man so schön sagt, das Wasser im Munde zusammen laufen. Das Ganze wurde abgerundet durch ein Glas frisch gepressten Orangensaft, einem Kännchen Kaffee mit der dazugehörigen Kaffeesahne, einem Brötchen in einem kleinen Brotkorb sowie einem weiteren Teller mit jeweils einer Scheibe Wurst und Käse. Dazu ein Schälchen mit zwei Stücken Butter. Das sah alles wirklich gut aus. Um dieses Mahl mit einem i-Tüpfelchen