Rolf-Dieter Meier

Ernteplanet


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es behielt seine Geheimnisse für sich. Er musste zugeben, dass der technische Fortschritt während seines Lebens eine erhebliche Entwicklung durchgemacht hatte. Und das „SuperOhr“ war das Ergebnis einer dieser Entwicklungssprünge. Zu seiner aktiven Zeit hatte es so etwas noch nicht gegeben.

      Bevor ich mit meiner Geschichte begann, wollte ich das Gerät noch einmal testen. „Aufnahme“, rief ich, um gleich ein „Test“ folgen zu lassen. Als Nächstes versuchte ich es mit „Abspielen“, was das Gerät auch ohne größere Verzögerung tat: „Test“. Meine Stimme klang in meinen Ohren zwar ungewohnt, war aber klar und deutlich und in ausreichender Lautstärke. Ich wollte jedoch die Möglichkeiten des Gerätes ergründen und so sagte ich: „Lauter“. Unvermittelt erklang meine Stimme aus den Lautsprechern des Zimmers. Da für meine Zwecke die Lautstärke des Geräts ausreichend war, rief ich: „Leiser“. Tatsächlich kam das „Test“ wieder aus dem Gerät. Nachdem ich mich von der Funktionstüchtigkeit überzeugt hatte, machte ich mich ans Werk. Ich hatte nicht lange überlegen müssen, wie ich anfangen wollte, es bot sich geradezu an. Ich rückte noch einmal meine Sitzposition zurecht und begann:

      „Mein Name ist Edvard Stendahl.“

      Der alte Mann saß am Fenster und schaute hinaus auf die Straße. Am Nachmittag hatte es einen Wetterumschwung gegeben. Die Luft hatte sich aufgeheizt und es war schwül geworden; er hatte die Terrassentür geschlossen und die Klimaanlage eingeschaltet. Am westlichen Horizont ballten sich bereits die ersten dunklen Wolken, die von dem am Nachmittag aufkommenden Wind Richtung Osten getrieben wurden. Gegen 18:00 Uhr war es so dunkel geworden, dass er Licht angefordert hatte. Die Wände selbst waren aus einem leitfähigen Material und hatten bestimmungsgemäß in einem warmen Licht zu Leuchten begonnen. Bis 19:30 Uhr hatte er, von kurzen Trinkpausen abgesehen, dem „SuperOhr“ seine Geschichte erzählt. Als er sein Abendbrot einnahm, ein paar kleine Schnittchen mit Wurst und Käse belegt, dazu ein Feldsalat mit einem delikaten Dressing sowie einem Glas Buttermilch, war er sehr zufrieden mit dem heute Geleisteten. Er hatte den Eindruck, nicht nur den ersten Schritt getan zu haben, sondern darüber hinaus ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Nach dem Essen stand die obligatorische Nachrichtensendung auf dem Plan. Danach hatte er überlegt, ob er noch ein wenig von seiner Geschichte nachlegen sollte; hatte dann aber doch darauf verzichtet, da sich ein erster Anflug von Müdigkeit breit machte. Er wollte aber vor dem zu Bett gehen noch etwas entspannen und hatte sich deshalb ans Fenster gesetzt. Seltsamerweise überkam ihn erneut die Lust nach einem Glas Wein. Dieses Mal wählte er einen Valpolicella, der ihn an Italien, an Verona gutes Essen und einige Opernaufführungen erinnerte, die er allesamt genossen hatte. Aber das war lange her. Draußen hatte der Wind stark zugenommen und es schien nur eine Frage der Zeit, bis das Unwetter, das sich erstaunlich viel Zeit gelassen hatte, losbrechen würde. Die wenigen Passanten auf der Straße schienen in Eile, was in Anbetracht des fernen Grummelns nicht weiter verwunderte. Hin und wieder der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos. Schließlich setzte der erwartete Regen ein, erst tröpfelnd, dann stetig zunehmend, bis selbst hinter den gut isolierten Fenstern ein beständiges Rauschen wahrnehmbar wurde. Blitze erhellten nun die Dunkelheit, denen ein Grollen in unterschiedlicher Lautstärke folgte. So verging die Zeit, während er das Glas Wein leerte und die mittlerweile menschenleere Straße betrachtete. Es war Zeit, sich zur Ruhe zu begeben.

      Ich war mit meinem Werk gut vorangekommen. Seitdem ich mit der Aufzeichnung meiner Geschichte begonnen hatte, war es fortlaufend wärmer, man konnte schon sagen, unerträglich heiß geworden. Immer wieder zogen abends Gewitter auf, sodass ich in der letzten Zeit das Haus nur selten verlassen hatte. Ich bedauerte diesen Umstand nicht sonderlich, kam es doch meiner Arbeit entgegen. Heute war es jedoch bedeutend kühler und nur wenige kleine weiße Wolken kontrastierten mit dem intensiven Blau des Himmels. Ich hatte daher beschlossen, das Frühstück in einem der Bistros in der Fußgängerzone einzunehmen. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, wieder einmal unter Menschen zu sein. Die Vorstellung, Menschen zu begegnen, erheiterte mich zusehends und so machte ich mich auf den Weg. Ich verließ meine Wohnung über die Terrasse und rollte durch ein sich automatisch öffnendes Tor auf den Gehweg, der die Straße flankierte. Bereitwillig hielt ein Auto, als ich mit kräftigen Zügen auf dem Zebrastreifen dem gegenüberliegenden Bürgersteig zustrebte. Ich begegnete einer Gruppe junger Mädchen, für die es wohl nichts Aufregenderes gab, als den jungen Mann auf der anderen Straßenseite. Sie plapperten und kicherten, während der junge Mann sichtlich bemüht war, Desinteresse zu zeigen und eilig dahin schritt. Das Objekt ihres Interesses nicht aus den Augen verlierend, öffneten die jungen Damen eine Gasse, damit ich meine Fahrt ohne Verzögerung fortsetzen konnte. Hin und wieder traf ich einen Anwohner, den ich schon länger kannte. Allerdings beschränkte sich die Konversation in diesen Fällen auf ein „Guten Tag“ oder „Schönes Wetter heute“; was man eben so sagt, wenn man eigentlich keine Lust auf eine längere Konversation hat, aber auch nicht unhöflich erscheinen will. Eilig setzte ich meinen Weg fort, denn ich hatte Hunger. Die Mahlzeiten der letzten Wochen waren nicht gerade üppig ausgefallen und hatten sich auf das Notwendigste beschränkt. Fast rastlos hatte ich mich meiner Geschichte gewidmet, immer in Sorge, nicht rechtzeitig fertig zu werden. Zumindest für heute hatte der Wetterumschwung auch zu einem Umschwung in meinem Kopf geführt, ich wollte eine Auszeit nehmen, mich zumindest für ein paar Stunden entspannen, um danach wieder mit frischer Kraft ans Werk zu gehen. Als ich nach gut zwanzig Minuten in die Fußgängerzone einbog, war ich annähernd am Ziel. Das Bistro mit dem charmanten Namen „Mon cher Ami“ befand sich noch rund fünfzig Meter weiter auf der linken Seite. Schon von meiner Warte aus konnte ich den Maître erkennen, der gerade ein paar Sonnenschirme aufstellte. Sein Name war Jean und er gab vor Franzose zu sein, was natürlich, trotz seines prächtigen französischen Akzents, bezweifelt werden durfte; gleichwohl hatte er die meiner Ansicht nach besten Croissants. Noch beim Zurechtrücken eines gerade aufgespannten Sonnenschirms erkannte er mich und winkte mir mit einem breiten Lächeln zu. Ich hatte gerade die Sushi-Bar erreicht, die vor dem Bistro lag und naturgemäß um diese Zeit noch geschlossen hatte, als er wie immer versuchte, mich vor seiner wahren Herkunft zu täuschen: „Bonjour, Monsieur Edvard! Ein schöner Morgen, um bei mir das Frühstück einzunehmen. Ich habe knusprige Croissants, sie sind gerade aus dem Ofen gekommen.“ Fragend breitete er seine Arme aus: „Wo möchten Sie Platz nehmen?“ Ich entschied mich für den mittleren Tisch in der ersten Reihe, um einen besseren Überblick über das Treiben zu haben. Die Fußgängerzone war etwas breiter als die übrigen Straßen der Umgebung und bot somit eine Menge Raum zum Flanieren. Der Boden war mit Naturstein gepflastert, immer wieder unterbrochen durch üppig bepflanzte Blumentröge und Bäume, die den Passanten Schatten boten. Das Bistro war nur mäßig besucht; von den neun Tischen waren nur drei besetzt. Abgesehen von mir, hatten sich noch ein älteres Paar und ein junger Mann niedergelassen, der noch auf das Bestellte wartete, während das Pärchen bereits speiste. Ich orderte bei Jean einen Cappuccino und ein mit Käse und Schinken gefülltes Croissant. Während Jean hineinging, um das Gewünschte zu besorgen, richtete ich mein Interesse wieder auf die Fußgängerzone. Ich war etwas enttäuscht, denn es war, anders als ich es erwartet hatte, wenig los. Allerdings wäre es wohl auch übertrieben gewesen, wenn es hier und jetzt ein heftiges Kommen und Gehen gegeben hätte, nur weil ich die Lust verspürt hatte, unter Menschen zu sein. Ich schmunzelte bei dieser Überlegung, was Jean, der gerade das Bestellte an den Tisch brachte, veranlasste festzustellen: „Ich sehe, es geht Ihnen gut“. Ich bestätigte dankend seine Vermutung und machte mich über mein Frühstück her.

      Der alte Mann hatte gerade sein zweites Croissant, dem er nicht hatte widerstehen können, verspeist und den letzten Rest Cappuccino getrunken, als eine ältere Dame den Weg herunterkam und seinen Tisch ansteuerte. Es war Julia, eine Mitbewohnerin der Seniorenresidenz, die wohl etwas weiter oben das „Café zur Linde“ besucht hatte. Nachdem sie sich begrüßt hatten, fragte er sie, ob sie noch Lust auf einen Espresso hätte. Er war sich sicher, dass sie zustimmen würde und er hatte sich nicht getäuscht. Auf seine Bitte hin nahm sie an seinem Tisch Platz und man begann über dieses und jenes zu plauschen. Julia war, wie man so schön sagte, von schlichtem Gemüt und deshalb beschränkte man sich auf das Alltägliche, das Wetter, das Essen und diverse Zipperlein, von denen sie geplagt wurde. Im Gegensatz zu ihr war er augenscheinlich ein Ausbund an Gesundheit. Er hatte bisher keinen allzu großen Kontakt zu seinen Mitbewohnern gehabt, so auch nicht zu Julia. Er war ihr zum ersten Mal begegnet, kurz nachdem er in die Seniorenwohnanlage gezogen war. Sie war damals noch am