Rolf-Dieter Meier

Ernteplanet


Скачать книгу

eine andere Begleitmusik zu wählen. Also machte er sich ans Werk und goss als erstes eine Tasse Kaffee ein, dessen aromatischer Duft auch den allerletzten Rest von Müdigkeit vertrieb. Er hatte sich für heute noch einiges vorgenommen.

      Als er sein Frühstück beendet hatte, stand die Sonne bereits so hoch am Himmel, dass auch der letzte Rest von Schatten auf der Terrasse vertrieben war. Zudem hatte sie an Kraft gewonnen und verbreitete zunehmend Wärme, die er allerdings noch nicht als unangenehm empfand. Trotzdem zeigten sich bereits erste kleine Schweißperlen auf seiner Stirn, die sich jedoch in Grenzen hielten, da ein leichter, kühler Wind ständig einen Teil der Feuchtigkeit mit sich nahm. Der alte Mann stapelte nun sein Frühstücksgeschirr auf das Tablett, das sich, nachdem der Tisch vollständig abgeräumt war, unverzüglich auf den Weg zur Küche machte. Während im Hintergrund die Big-Band in dezenter Lautstärke ihr Werk verrichtete, lehnte sich der alte Mann in seinem Sessel zurück, um so in entspannter Haltung die Aussicht auf den vor ihm liegenden Park zu genießen. Plötzlich überkam ihn das Verlangen nach einer Zigarette und so formulierte er seinen Wunsch dem unsichtbaren Dritten gegenüber. Er rauchte nicht viel, nur hin und wieder einmal und er genoss es. Gesundheitliche Aspekte waren für ihn kein Beweggrund mehr, darauf zu verzichten. Er war so alt geworden und bei bester Gesundheit, da spielten solche Überlegungen keine Rolle. Diesmal erschien nicht das schwebende Tablett, sondern Sven mit einem Aschenbecher, einer Packung Zigaretten und einem Feuerzeug und setzte sich auf den zweiten Stuhl zu seiner Linken. Er lächelte, kein kritischer Blick, keine hochgezogene Augenbraue, die getadelt hätte. Der alte Mann nahm sich eine Zigarette und zündete sie an. „Was möchtest du heute unternehmen?“, fragte Sven und mit einer Handbewegung zum Park hin fügte er hinzu: „Einen Spaziergang?“ Merkwürdig, dachte der alte Mann, auch Sven benutzte diesen Ausdruck, obwohl er, wie auch die anderen, bei ihrer Wortwahl immer sehr treffsicher waren. „Ja“, antwortete er, „ich werde ein Weilchen im Park herum rollern.“ Er konnte es sich nicht verkneifen, mit dem Begriff „herum rollern“ indirekt seine Missbilligung auszudrücken. Sven schien die versteckte Kritik nicht bemerkt zu haben oder er ignorierte sie geflissentlich, denn er behielt sein freundliches Lächeln bei. Im Gegenteil, das Lächeln schien sich in ein Grinsen zu verwandeln, was den alten Mann etwas irritierte. Dieser Zustand war allerdings nur von kurzer Dauer und seine bis dahin ärgerlich herabhängenden Mundwinkel bewegten sich zügig nach oben, um in einem vergnüglichen Lächeln zu enden. So saßen sie beide Seite an Seite und feixten um die Wette.

       Nachdem ich meine Zigarette zu Ende geraucht hatte und die Kippe als stilles Denkmal eines vergangenen Genusses im Aschenbecher ruhte, beschloss ich nun die bereits geplante Ausfahrt zu unternehmen. Vorher erteilte ich Sven, der immer noch lächelnd neben mir auf seinem Stuhl saß und mich interessiert beobachtete, noch einen Auftrag. „Sven, besorge mir doch bitte ein Aufnahmegerät.“ Er schien nicht überrascht und gab nur ein bestätigendes „ok“ von sich. Ich fand das schon ein bisschen merkwürdig, ehrlich gesagt, ich war überrascht. Ich hatte schon erwartet, dass er mich fragen würde, was ich vorhatte. Er hätte ja wenigstens Neugierde vortäuschen können. Aber nichts dergleichen. Ich war tatsächlich ein wenig enttäuscht und versuchte durch ein Nachfassen ihn doch noch aus der Reserve zu lo cken. „Ich werde jetzt meine Runde durch den Park drehen, lege mir das Aufnahmegerät bitte auf den Tisch im Wohnzimmer. Ich möchte noch vor dem Essen loslegen.“ Ich beobachtete gespannt sein Gesicht, in der Hoffnung, dass das mit dem „Loslegen“ irgendeine Reaktion bei ihm auslösen würde. Aber nichts Derartiges. So, als wüsste er schon, was ich vorhatte und es damit keiner weiteren Fragen bedurfte, stand er auf und erklärte lapidar: „Wird erledigt. Viel Spaß bei der Rundfahrt. Da draußen blühen jetzt ein paar Büsche, die duften, dass es eine wahre Pracht ist. Es wird Dir gefallen.“ Scherzhaft fügte er noch hinzu: „Fahr vorsichtig und fall mir nicht in den Teich. Als Fischfutter taugst du nicht.“ Nach diesen Worten lachte er plötzlich in einer Lautstärke los, die ich überhaupt nicht von ihm kannte. Er musste wohl meine Überraschung erkannt haben, denn das Gelächter ebbte ab. Ich erhob mich nun ebenfalls von meinem Stuhl, um wieder in meinem Rollstuhl Platz zu nehmen. Sven unte rnahm nichts, um mich dabei zu unterstützen. Das hätte ich mir auch verbeten und er wusste das. Allerdings schien er jederzeit bereit, helfend einzugreifen, falls es erforderlich geworden wäre. Aber das war noch nie der Fall gewesen. Soweit hatten sie mich ganz gut hinbekommen.

      Nachdem der alte Mann die richtige Sitzposition in seinem Rollstuhl gefunden hatte, ergriff er die Greifräder, positionierte den Stuhl in Fahrtrichtung, um sich dann zügig Richtung Park in Bewegung zu setzen. An der Südseite der Terrasse hatte man auf zwei der Blumenkübel verzichtet und so einen ca. zwei Meter breiten Durchgang zu einer leicht abfallenden Rampe geschaffen, die es ihm ermöglichte, ohne den Umweg durch seine Wohnung zu nehmen, direkt den vor dem Haus verlaufenden Parkweg zu erreichen. Er ignorierte die Möglichkeit links oder rechts abzubiegen, und bewegte sich, vom Schwung der Abfahrt angetrieben, auf dem Weg fort, der direkt auf ein kleines Wäldchen im Hintergrund zuführte. Die Wege des Parks waren mit hellbeigen, feinkörnigen Kies bestreut, der sehr schön mit dem gepflegten Grün des Rasens und den üppig blühenden Blumenrabatten harmonierte. Gerade passierte er einen Brunnen zu seiner Rechten, der einem Wasserfall nachempfunden war. Das Rauschen des fallenden Wassers war nun deutlich vernehmbar und veranlasste ihn, eine kurze Rast einzulegen. Was für ein schöner Tag! So etwas wie Hochstimmung erfasste ihn; seine Sinne registrierten die Geräusche der Natur, das Plätschern des Wassers, das Zwitschern der Vögel, die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht. Wenn es noch eines weiteren Anstoßes bedurft hätte, sein Projekt umzusetzen, dann war es dieser Moment.

      Ich fühlte eine Kraft aufkommen, geradezu eine Lust, noch einmal alles für eine Aufgabe zu geben. Aber eine Zeit der Geduld wollte ich mir noch abringen, Zeit, um die Gedanken zu ordnen und eine Abfolge zu entwickeln. Und wo gab es einen besseren Ort, als den kleinen Teich, der sich hinter dem Wäldchen verbarg. Also nahm ich wieder Fahrt auf und entfernte mich vom Rauschen des unentwegt herabstürzenden Wassers. Der Kies unter den Reifen meines Rollstuhls knirschte und war somit eine ständige Begleitmusik meiner gemächlichen Fahrt. Zug um Zug näherte ich mich den Bäumen, die den südlichen Teil des Platzes mit dem Springbrunnen begrenzten. Sie standen hier dichter als auf der östlichen und westlichen Seite und bildeten so etwas wie einen kleinen Wald, der an heißen Tagen genug Schatten spendete, um den Eindruck von Kühle zu erwecken. In diesem Wäldchen änderte sich der Verlauf des Weges; hier war er nicht mehr schnurgerade, sondern schlängelte sich in sanften Schwüngen durch das Grün der Büsche zu Füßen der Bäume. Noch einmal öffnete sich das Wäldchen zu einer Lichtung, in deren Mitte sich eine Blumenrabatte befand. Rosen in allen Farbschattierungen umsäumten eine Säule, darauf eine Nachbildung der Venus von Milo. Allerdings war sie von hoher Qualität, entstammte doch der Marmor wie beim Original von den Steinbrüchen der Kykladeninsel Paros. Sie wurde von einem bekannten griechischen Künstler, der am Anfang des 22. Jahrhunderts für einige Jahre in Deutschland gelebt hatte, geschaffen. In der Tat unterschied sie sich in nichts von dem Original; selbst die kleinsten Schäden waren akribisch nachgearbeitet. Robin hatte mich auf einer meiner Spazierfahrten begleitet und mich an diesem Platz ungefragt ausführlich über die Entstehungsgeschichte dieser Statue unterrichtet und ich muss zugeben, dass ich ihr seit diesem Zeitpunkt deutlich mehr Interesse schenkte. Dies ging sogar so weit, dass ich sogar einen großformatigen Ausdruck des Originals mitnahm, um einen Vergleich vorzunehmen. Und ich musste Robin recht geben, es war alles an seinem Platz. Noch heute bewundere ich, wie die Statue aufgestellt worden war. Das Podest war aus schlichtem dunkelgrauen Marmor, darauf erhob sich die Venus von Milo, und zwar so, dass sie den Betrachter, der den Weg hinaufkam, direkt anschaute, leicht zurückgelehnt, distanziert, jedoch, wie ich fand, nicht unfreundlich. Je näher man herankam, umso abwesender wurde ihr Blick, ging ins Leere, in die Ferne, so, als hätte etwas Neues ihr Interesse geweckt. Also blieb ich stehen, um nicht aus ihrer Sichtweite zu geraten. Nun sah sie also mich, diesen alten Herrn in seinem Rollstuhl. Was hatte die Frau, die vielleicht Modell für die Venus gestanden hatte, zu ihrer Zeit gesehen? Sie konnte keine Geschichte mehr erzählen, obwohl das sicher interessant gewesen wäre. Ich dagegen konnte es noch und ich würde es tun.

      Der alte Mann in seinem Rollstuhl schaute wie gebannt in das Antlitz der Venus von Milo. Erst ein lauter Vogelruf riss ihn aus der Bewegungslosigkeit. Für einen Abschied ist es wohl noch zu früh, dachte er, bevor er seine Hände wieder auf die Greifreifen legte und mit kräftigen