Zsóka Schwab

Die Brücke aus Glas


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um eine Trauerweide abzulichten, die ihre gelbgesprenkelten Äste malerisch in das ruhig dahinfließende Wasser tauchte.

      „Ich glaube, von der Brücke ist die Aussicht noch besser“, rief ich ihr zu. „Von dort hast du auch die anderen Bäume am Ufer im Bild.“

      Zoé ließ die Kamera sinken und betrachtete das Panorama mit fachmännisch prüfendem Blick.

      Anschließend spazierte sie auf die alte Betonbrücke, die sich in einem weiten Bogen über den Fluss streckte wie eine wasserscheue Katze. Erst als sie fast auf der anderen Seite angekommen war, blieb sie stehen.

      „Du hast recht, das hat was – Gabo, du hättest wirklich Fotograf werden sollen! Du hast ein viel besseres Auge dafür als ich.“

      Sie zeigte mir das typische begeisterte Zoé-Strahlen, das ihr ganzes Gesicht zum Leuchten brachte. Dann gehörte sie wieder ganz ihrer Kamera.

      „Wahnsinn, was für Farben!“

      Bis sie alle nötigen Rädchen für Schärfe und Belichtungszeit eingestellt hatte, hatte ich sie längst eingeholt.

      „Ich glaube, zu Weihnachten kaufe ich dir eine Digitalkamera …“, warf ich wie nebenbei in den Raum, während ich mich neben ihr gegen die Reling lehnte. Zoé blickte unverwandt durch den Sucher.

      „Untersteh dich.“

      Ich musste lachen. Das war immer so an diesem Punkt unserer traditionellen, vorweihnachtlichen Kamera-Diskussion.

      „Wie hältst du das nur aus? Sechsunddreißig Bilder auf einem Film, und für jedes brauchst du eine viertel Stunde!“

      „Du erinnerst dich doch, was Opa gesagt hat.“

      Von ihm stammte übrigens das unschätzbare Erbstück.

      „Zeit und Liebe sind das Wertvollste, was wir haben. Deshalb braucht alles, was von Wert sein soll, möglichst viel davon.“

      Und sie drückte den Auslöser.

       ~ 4 ~

      Hunderte winzige gelbe Blätter besprenkelten die marmorne Grabplatte, als wäre sie nicht erst einen Windstoß zuvor mit einem Handbesen freigefegt worden.

      „Es bringt nichts, Oma. Wir sollten wiederkommen, wenn alle Blätter von den Bäumen gefallen sind.“

      Obwohl Jana es war, die das sagte, war auch sie es, die sich hinabbeugte, um wenigstens den butterfarbenen Chrysanthemenkranz aus dem dünnen Laubteppich zu befreien.

      Es war früh am Nachmittag, und die Herbstsonne stand hoch über ihren Köpfen. Eigentlich ein wunderschöner Tag, selbst hier auf dem Stadtfriedhof. Jana hätte diesen Besuch bei ihrem Großvater auf eine melancholische Weise genossen, wäre ihre Erkältung, die sie aus Ottawa mitgebracht hatte, über Nacht nicht schlimmer geworden. Alles nur, weil sie gezwungen gewesen war, mitten in der Nacht in die Kälte hinaus zu stampfen und diesen Kindskopf Thorsten Stockhausen daran zu erinnern, dass es Wichtigeres auf der Welt gab als sein Vergnügen.

      Dass der sich in fünf Jahren aber auch kein bisschen hatte ändern können!

      Von ihm als Miesepeter hingestellt zu werden, hatte Jana nie viel Freude gemacht und würde es auch nie. Aber so wie die Dinge standen, würden sich ihre Klingen wohl noch öfter kreuzen. Jana seufzte. Dann musste sie plötzlich niesen.

      Blöder Thorsten!

      Grummelnd zog sie den Schal enger um ihren Hals und setzte sich neben ihre Großmutter auf die leicht windschiefe Bank. Oma Anabelle hatte ihre Augen geschlossen und betete stumm mit einem Rosenkranz zwischen ihren knotigen Fingern. Nicht einmal ihre faltigen, trockenen Lippen bewegten sich.

      Versonnen betrachtete Jana ihre erstaunlich vollen, weißen Naturlocken und ihre zierliche Gestalt, an der das cremefarbene Sonntagskostüm geradezu schlotterte.

      Sie sieht aus, wie ein Grabesengel, dachte sie und erschrak über diese Assoziation. Sie rief ihr nämlich ins Gedächtnis, dass Oma womöglich auch nicht mehr lange da sein würde.

      Obwohl ihre Großmutter sich nie beklagte, merkte Jana als scharfe Beobachterin, dass ihre Kopfschmerzen immer öfter auftraten und länger andauerten. Manchmal waren sie so schlimm, dass sie gezwungen war, sich hinzulegen, bis sie wieder erträglich wurden. Zum Arzt gehen wollte sie aber partout nicht – und da die Bergmann’sche Familiensturheit weder sie noch Jana übersprungen hatte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich deswegen stritten.

      Jana jedenfalls war fest entschlossen, ihre Oma bis an ihr Lebensende nicht mehr allein zu lassen und irgendwie dafür zu sorgen, dass sie sich ärztlich behandeln ließ – zum einen, weil es ihr wehtat, zuzusehen, wie sie sich quälte. Zum anderen aber hatte Jana Angst … eine schreckliche, geradezu würgende Angst.

      Oma war alles, was ihr an Familie geblieben war. Wenn ihr etwas passierte, was sollte sie dann tun? Du hast deine Eltern, rief sie sich streng ins Gedächtnis. Sie leben weit weg, aber sie sind da, und du liebst sie doch. Du hast sie gerade erst besucht.

      Doch wenn Jana an diese drei Monate zurückdachte, fand sie keine Erinnerung an ein Zuhause. Sicher, ihre Eltern hatten sich ein schönes Leben in Ottawa aufgebaut. Sie hatten eines dieser schmucken viktorianischen Häuser gekauft, wie man sie aus kanadischen und amerikanischen Filmen kennt: mit schmalen, hohen Fenstern, weiß lackierter Holzvertäfelung und einer großen überdachten Veranda, auf welcher nicht einmal der obligatorische Schaukelstuhl fehlte. Das alles hatten sie Jana stolz präsentiert und immer wieder betont, dass es einmal ihr gehören würde – dass sie bei allem, was sie taten, auch an ihre Zukunft dachten.

      „Wir hätten dich so gerne mitgenommen, damals vor zehn Jahren“, hatte vor allem ihre Mutter ständig wiederholt, „aber du wolltest absolut nicht nach Kanada. Erinnerst du dich? Du hast dich auf Omas und Opas Dachboden verbarrikadiert und bist erst runtergekommen, als wir dir versprochen hatten, dass du bleiben kannst. Wie lange warst du noch mal da oben?“

      „Zwei Tage“, hatte Jana sich erinnert.

      „Richtig, zwei volle Tage! Wir sind fast an dir verzweifelt! Warum warst du damals eigentlich so stur?“

      Das war schnell erklärt:

      „Ich wollte Oma und Opa nicht alleine lassen.“ Schließlich hatte ich schon damals mehr Zeit mit ihnen verbracht gehabt als mit euch, hatte sie noch dazu gedacht, es aber nicht ausgesprochen. Wem hätte das jetzt noch genützt?

      Jana hatte nie daran gezweifelt, dass ihre Eltern sich durchgesetzt und sie notfalls auch gegen ihren Willen nach Kanada mitgenommen hätten, wenn ihnen so viel daran gelegen hätte. Wie hätte ein neunjähriges Mädchen sich schon gegen sie wehren sollen?

      Nein, sie hatten Oma und Opa die Vormundschaft für sie übertragen, weil sie schließlich eingesehen hatten, dass sie bei ihren Großeltern besser aufgehoben war. Das war praktisch seit ihrer Geburt so gewesen, weshalb hätte sich also in einem fremden Land etwas daran ändern sollen?

      So hatte jeder bekommen, was er wollte: Ihre Eltern konnten sich ohne schlechtes Gewissen mit ihren Forschungsprojekten austoben und Jana durfte bei den Menschen bleiben, die ihr am nächsten standen – wobei Letzteres leider nicht lange währte.

      Als Jana dreizehn Jahre alt war, starb ihr Großvater an einem Herzinfarkt, und sie blieb mit Oma alleine zurück.

      Das war der Beginn der schwersten Zeit ihres Lebens: Nicht nur, dass der Tod ihres stets gutgelaunten, zwinkernden Großvaters einen riesigen Krater in ihrem Leben hinterließ, es stellte sich auch noch heraus, dass ihre Großeltern ein Hochbegabtenstipendium für sie beantragt hatten – an einem renommierten Schlossinternat, das sechshundert Kilometer von ihrem Zuhause entfernt war. Nicht einmal eine richtige Zuganbindung gab es, denn Züge fahren nur ungern auf hohe Berge, besonders auf solche, wo es nichts gibt außer Wald und eben einem einzigen, einsamen Schloss.

      All dies teilte Oma Jana zwei Wochen nach der Beerdigung mit und bestand darauf, dass sie die geforderten