Zsóka Schwab

Die Brücke aus Glas


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Testament ihres Großvaters war sie es nicht. Als hätte er seinen Tod vorausgeahnt, hatte er es kurz zuvor noch erneuern lassen. Und aus dem neuen Testament ging eindeutig sein Wunsch hervor, dass seine Enkeltochter Jana Maria Bergmann auf Schloss Eberfelsheim ihren Abschluss machte. Das konnte man nicht reinen Gewissens ignorieren. Also überwand sich Jana dazu, die Prüfungen abzulegen, in der Hoffnung, dass man ihr ihren Widerwillen ansehen und sie schon allein deshalb ablehnen würde. Zu ihrem Unglück wurde sie jedoch genommen.

      Nie in ihrem Leben, weder davor noch danach, hatte Jana so viel geweint, wie an dem Abend auf dem verstaubten Dachboden, als sie das enthusiastische Willkommensschreiben des Internats in ihren Händen hielt.

      All dies lag lange zurück. Jana hatte die Schule erfolgreich beendet und war nun frei, ihr Leben selbst weiter zu gestalten. Und was immer Oma vorbringen würde, sie würde sich nicht überreden lassen, auf eine andere Universität zu wechseln. Niemals!

      „Jana, Liebes“

      Jana schrak auf. „Was denn?“

      Omas wässrige, blassblaue Augen musterten sie mit liebevoller Belustigung.

      „Lass den armen Schal doch leben.“

      Verdutzt blickte Jana auf ihre Hände, die tatsächlich Opas alten Strickschal umklammerten, als wollten sie ihn erwürgen. Sie spürte, wie sie errötete, und senkte den Blick auf ihre Stiefel – was ihr prompt in Erinnerung rief, dass sie das Erbrochene von dem gestrigen Typ auch mit der Schrubberbürste nicht ganz wegbekommen hatte. Ein blasser Fleck prangte immer noch auf dem rechten Stiefel wie ein düsteres Mahnmal an Jana: Betrete niemals mit empfindlichem Schuhwerk den Dunstkreis von Thorsten Stockhausen!

      „Hast du dein Gebet gesprochen?“, wollte Oma wissen. „Ich würde nämlich gerne langsam gehen, wenn es dir nichts ausmacht. Mein knochiger, alter Hintern ist schon ganz durchgefroren.“

      „Äh … nein, ich bin noch nicht fertig.“

      „Dann aber schnell.“

      Während Jana mit gefalteten Händen ein Vaterunser für Opa sprach, mühte sich ihre Großmutter damit ab, trotz der windigen Wetterverhältnisse ein Opferlicht für ihren verstorbenen Mann anzuzünden, wie sie es jedes Jahr an Allerheiligen tat.

      Anschließend hakte sie sich bei Jana unter, und die beiden wandten sich der Hauptstraße des Friedhofs zu. Nur noch einmal schauten sie zurück.

      „Bis bald, Otto“, sagte Oma, und Jana fragte sich, ob nur sie die Zweideutigkeit dieser Worte spürte.

      ~ 5 ~

      Wieder zu Hause angekommen, zog sich Jana mit ihrem Notebook auf den Dachboden zurück. Sie hatte etwas vor, bei dem sie absolute Ruhe brauchte.

      Während Windows hochgefahren wurde, schlenderte sie zur Dachgaube, der einzigen Lichtquelle in dem praktisch leeren, von nackten Stützbalken durchzogenen Raum.

      Sie ließ sich auf dem kleinen Hocker nieder, den ihr Großvater vor über zehn Jahren für sie gezimmert hatte, und schaute durch das große Fenster auf den Garten hinaus. Die kleine Eiche ist wirklich schön gewachsen in den vergangenen Jahren, dachte sie ein wenig wehmütig. Dann beugte sie sich vor, bis ihr Gesicht beinahe die Glasscheibe berührte, und spähte in den Nachbargarten.

      Nach einigen Sekunden entdeckte sie Thorsten, der wie ein zu groß geratenes Kind auf Ostereisuche mit einem weißen Müllsack in der Hand kreuz und quer über den Rasen schlurfte. Nur gelegentlich blieb er stehen, um etwas vom Boden aufzulesen. Er musste ziemlich frieren, denn er trug einen dicken Mantel mit Pelzkragen. Davon abgesehen sah er auch äußerst unzufrieden aus.

      Jana musste grinsen. Manche Dinge änderten sich eben doch nie, und dazu gehörte auch Thorsten Stockhausens „Ich habe einen Kater und muss trotzdem aufräumen“-Gesicht. Auch wenn sie zugeben musste, dass der Rest von ihm sich nicht unbedingt zu seinem Nachteil entwickelt hatte.

      Wie viele Mädchen mich wohl um diesen Logenplatz beneiden würden?, fragte sie sich gutgelaunt. Wenn ich wollte, könnte ich stundenlang hier sitzen und seine große, männliche Gestalt bewundern – viel früher wird er bei dem Schneckentempo ja sowieso nicht fertig.

      „Go, Thorsten!“, feuerte Jana ihn halblaut an. Dann wandte sie sich mit einem leisen Kichern vom Fenster ab und somit der dunklen Hälfte des Dachbodens zu. Mit gespenstisch leuchtendem Bildschirm wartete dort auf dem staubigen Holzlattenboden das Notebook auf sie. Jana seufzte tief.

      Na schön. Bringen wir es hinter uns.

      Sie streckte den Rücken durch, ballte die Fäuste und schnappte sich das Notebook. Im Schneidersitz hockte sie sich auf eine halbwegs saubere Stelle am Boden – anderswo funktionierte das WLAN hier oben nicht – und öffnete den Internetbrowser.

      Wahrscheinlich wäre es am besten, ich mache mir eine Liste …, grübelte sie. Bei all den Communitys, die Basti zu ihren Mitgliedern zählten, verlor man leicht den Überblick. Ein weltoffener Mensch zu sein, hatte eben auch seine Nachteile – zumindest, wenn man die seltsame Eigenart hatte, Pärchenfotos nicht zu löschen, nachdem man mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte.

      Dabei war es jetzt bereits drei Monate her, dass Basti sich von ihr getrennt hatte – als zweite und eindeutig weniger schöne Überraschung an ihrem Abiball, nachdem er extra wegen ihr aus Freiburg zum Internat gereist war. (Basti war ja zwei Jahre älter als Jana und damals bereits Student.)

      Er hatte wirklich gut ausgesehen in seinem schwarzen Anzug mit der weinroten Krawatte – zumindest bis zu dem Moment, als er Jana in eine stille Ecke neben eine Topfpalme zog und diese abscheuliche Trauermiene aufsetzte. Rückwirkend betrachtet tat er es vielleicht, um ihr den Abschied zu erleichtern, denn dieser Dackelblick mit der leicht vorgeschobenen Unterlippe hatte sie in den zweieinhalb Jahren ihrer Beziehung mehr als einmal bis zur Weißglut gereizt.

      „Ich habe über mein Leben nachgedacht und herausgefunden, dass ich mal eine Auszeit brauche“, offenbarte er Jana mit viel Pathos.

      „Du meinst … eine Auszeit von mir?“, entschlüpfte es ihr verblüfft. Basti hob abwehrend die Hände.

      „Nein, nein! Das heißt … ich weiß nicht, ob das mit uns noch funktioniert. Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme nicht richtig an dich heran.“

      „Aha?“

      Jana wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Irgendwie ahnte sie, dass er nicht auf ihr Sexualleben anspielte, auch wenn er es theoretisch hätte tun können. Als Basti noch auf dem Internat war, fühlte sich Jana noch nicht bereit für diesen besonderen Schritt, und als sie dann eine Fernbeziehung führten, war die praktische Umsetzung etwas schwierig geworden. Allerdings war dies nicht ihr einziges Problem gewesen …

      „Wahrscheinlich liegt es an mir“, griff Basti, sichtlich in Not, jetzt auf Allgemeinplätze zurück. „Lass mir einfach ein bisschen Zeit, alles zu überdenken.“

      „Wenn du meinst.“ Jana kam sich schrecklich unbeholfen vor, als sie merkte, wie kalt und gleichgültig ihre Stimme klang. Warum war sie nur so? Wieso konnte sie nicht einfach ehrlich sein?

      Wenn überhaupt möglich, wurde Bastis Miene noch niedergeschlagener.

      „Ich fahre in einer Woche mit einem Freund nach Alaska. Wir ziehen uns dort für eine Weile aus der Zivilisation zurück und leben in einer Fischerhütte. Ich weiß nicht, ob und wie lange ich es dort aushalte, aber Ulli hat es schon mal gemacht, und er sagt, es wirkt sehr reinigend auf Seele und Geist.“

      Jana schossen Hunderte Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an die vielen gemeinsamen Stunden im Musikzimmer zu Beginn ihrer Bekanntschaft im Internat, an die Wettbewerbe und Vorspiele, die sie Seite an Seite überstanden hatten, an die Harmonie, die zwischen ihnen herrschte, wenn sie musizierten … und sie wusste genau: Sie wollte Basti nicht verlieren! Sie wollte, dass er ihr sagte, was sein Problem war, damit sie gemeinsam etwas daran ändern konnten. Doch alles, was sie in diesem entscheidenden Moment herausbekam, war: „Aha?“

      Immerhin riss sie sich noch genug