Enno Woelbing

Sehnsucht nach südlicher Sonne und schönen Mädchen - Teil 1


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Für Molly jedenfalls nicht, denn er lehnte die angebotene Belohnung für seinen seelischen Beistand – „von hinten und vorne“ – lachend ab. Trotzdem begleitete er sie das kurze Stück zu ihrer Wohnung. Einer seiner Gäste begleitete ihn auf seine Bitte hin mit.

      „Man kann nie wissen“, sagte er.

      Im Großen und Ganzen betrachtet, brachte ihm diese Begebenheit, ein größeres Ereignis war es ja nicht, Zustimmung vom beifälligen Gemurmel bis hin zu wohltuendem Lob ein. Eine Begebenheit wurde dann zu einem größeren Ereignis.

      Es fand an einem der letzten philippinischen Grillabende des Jahres im Garten und im größeren Kreise von deutsch-philippinischen Ehepaaren mit ihren Kindern statt. Da war einer, der war ziemlich wohlhabend, ein etwas älterer Kerl wie ein Baum, nach allen Seiten hin und mit dem größten Auto deutscher Fabrikation. Er war in allen Restaurants bekannt wegen seines gehobenen Anspruchs betreffs der angebotenen Speisen und Getränke und ging täglich essen. Allein. Aber er galt als guter Gesellschafter.

      Gut, seine Ehefrau würde nie unter Gewichtsproblemen im Sinne von zu viel zu leiden haben, dafür war sie einfach nicht der Typ. Sie litt unter dem zu wenig, denn sie war klapperdürr – genauso wie ihre zehnjährige Tochter mit den traurigen schwarzen Augen in ihrem kleinen spitzen Gesicht und den langen, schwarzen Haaren. Es war ein offenes Geheimnis: Sie bekamen beide zuwenig zu essen, viel zuwenig. Der Kerl war geizig. Für seinen Hund gab er mehr Geld aus als für die beiden zusammen. Selbst für philippinische Verhältnisse war das Haushaltsgeld, das seine Frau bekam, äußerst bescheiden. Sie aßen sich bei anderen Leuten durch und klagten nicht. Trotzdem wussten es viele, und sie freuten sich und lachten darüber, dass der fette Hund ihn einmal in die Hand gebissen hatte. Heute lachte niemand.

      Der Hund und er langten ordentlich zu, mitgebracht hatten sie nichts, und die Peinlichkeit ihres Verhaltens nahmen sie nicht wahr. Er redete, sogar noch mit vollem Mund, und bot seiner Frau und Tochter von den vorzüglichen Speisen an. Speisen aus ihrer Heimat. Alleine ihr unvergleichlicher, wenn auch undefinierbarer Geruch verführte zum Verzehr. Als beide dankend ablehnten – sie wären noch satt – bat Chris um ein Gespräch mit dem Vielfraß, dem Zweibeinigen.

      „Gerne, was kann ich für dich tun?“

      „Komm’!“

      Chris war merkwürdig grau im Gesicht, soweit es nicht vom fein gestutzten und gepuderten Bart verdeckt wurde. Eine steile Falte auf seiner Stirn versuchte durch das Lächeln zu dringen.

      „Komm’!“

      Er zeigte hinter sich. Und hinter der Hausecke trat er dem anderen mehrmals kräftig in die breite Kehrseite und dann zwischen die Beine von vorne.

      „An dir mache ich meine Hände nicht dreckig. Aber zwinge mich nicht, sie zu gebrauchen. Ich weiß, dass du in den rosaroten Kneipen verkehrst. Ich versichere dir: Meine Erfahrungen in diesen sind größer als deine. Versuche erst gar nichts.“

      Der andere rief nur nach seinem Hund, und der leckte Chris die Hände, erst die eine, dann die andere. Der Rest des Abends fand ohne den Hund und seinen Herrn statt. Sie gingen. Die hungrige Frau mit ihrem gemeinsamen Kind folgte ihnen. Und Chris lächelte und ihnen mit seinen hellen, grauen Augen über den Rand seiner Brille nach.

      Mitten in die Vorbereitungen zur Reise in die östliche Richtung platzte die Nachricht von dem Verschwinden des Mädchens – des ewig hungrigen Mädchens, das so fürchterlich dünn war. Nach einem Tag seit Beginn des Verschwindens beteiligten sich viele Nachbarn, Bekannte und Einwohner der Stadt an der Suche. Der schon langsam beginnende Winter hatte die letzte Wärme des Herbstes schon verdrängt. Die Angst vor einer möglichen Entführung und Missbrauch ging um. Auffällig oft wurde der eigene Vater befragt, später sogar verhört. Der Verdacht einer pädophilen Neigung bestätigte sich nicht, aber ein deutlicher Mangel an Angst um das Kind und an Mitgefühl für seine Frau war nicht zu übersehen und wurde auch von den ermittelnden Polizeibeamten verständnislos bemerkt. Es war irgendwie kurios: Der Vater fiel auf durch seine befremdende Teilnahmslosigkeit und die Mutter durch wiederholtes groteskes Lachen, welches ihre Angst und Angespanntheit sichtbar machte, für viele unverständlich.

      Chris beteiligte sich mit vielen anderen und zuletzt übermüdeten Leuten an dieser entsetzlichen Suche rund um die Stadt, in Gräben, Gebüschen und Wäldern. Er hatte sich von seiner geschäftlichen Arbeit ein paar Tage frei genommen und trug in der Tasche eine Tafel Schokolade bei sich, Schokolade gegen Hunger – nicht seinen, er kannte keinen Hunger – dem des Mädchens, das er zu finden hoffte.

      Endlich wurde es gefunden, unversehrt, aber weit von ihrem Zuhause, welchem es zu entfliehen versucht hatte, entfernt. Es war auf der Straße völlig entkräftet und unterkühlt am dritten Tag seiner Flucht zusammengebrochen liegen geblieben und aufgefunden worden.

      Chris brachte die Schokolade ins Krankenhaus, streichelte das Mädchen, das ihn mit großen, dunklen Augen ansah und nichts sagte – auch nichts, als der große Mann seine grauen Augen strahlen ließ. Ihr Kopf mit dem kleinen, spitzen Gesicht, umrahmt vom schwarzen Haar, verschwand fast im weißen duftenden Kissen ihres Bettes und fand Schutz darin und Wärme.

      Das Mädchen kam nicht wieder in die Obhut ihrer Eltern – zuerst in ein Heim, dann zu guten Pflegeeltern – und Cindy war stolz auf ihren Mann. Sie beobachtete ihn, wie er vor dem Spiegel stand, sich betrachtete und zulächelte. Ja, er war schön, ihr großer Junge, schön wie der Hirtenjunge aus der griechischen Mythologie.

      „Chris, worauf freust du dich? Auf unsere Reise?“

      Cindy freute sich darauf, sie würde ihn behutsam näher an ihre Heimat heranbringen. Seine Antwort verblüffte sie, denn sie stand in keinem Zusammenhang mit ihrer Frage. Er drehte sich nicht weg von seinem eigenen Spiegelbild.

      „Das ist kein Kabinettstückchen. Was glaubst du? Wird sie, wenn sie satt wird, auch lachen können? Du bist doch Kinderärztin, Herzi.“

      Ihre Freude, die eben noch so schön gewesen war – dahin – im Strom des Nichtverstehens.

      „Sie muss Hilfe bekommen, zum Glück ist sie nicht missbraucht worden. Ich glaube, ihr fehlt Liebe.“

      Und Cindy dachte bei sich: Mein Gott, öfter glaube ich, sie fehlt mir auch.

      Die Kluft zwischen ihrer beider Berufe war groß. Chris hatte einmal sogar von einer geistigen Unebenheit gesprochen. Ihr Intellekt, auf ihren täglichen Umgang und auf ihre Arbeit bezogen, war grundverschieden von dem des anderen. Es schien ihr, dass diese Kluft durch Intelligenz nicht oder nur schwer zu überbrücken war. Heilen und verkaufen, welch ein Gegensatz. Sie lebte lange genug hier, sie konnte mit beiden Kulturkreisen umgehen, den des Westens und dem des Ostens. Bei diesem Mann war sie oftmals überfordert. Das hatte nichts mit ihrem Denken als Frau zu tun, da war sie sich sicher. Sie kannte sich genau, ihren Körper, ihren Geist und hatte großen Einblick in ihre Psyche. Ihre Seele hatte Hunger. Ihr Körper war schön, und ihr Geist war sauber. Sie wusste es genau: Das Überfordertsein war eine eigenartige Form von Hilflosigkeit, die ihr in Bezug auf Männer nicht gänzlich unbekannt war, von der sie aber angenommen und gehofft hatte, dass sie nicht mehr vorhanden sei. Dieser Gedanke machte sie jetzt unsicher – ein Schwebezustand wie auf einer Schaukel, mal hinten, mal vorn, aber ihre Midlife-Krise hatte noch nicht begonnen.

      Dann erlebte ihr Chris eine Überforderung; Cindy entdeckte zum ersten Male eine Unsicherheit bei ihm und freute sich darüber. Sie sollte noch später oft darüber lachen.

      Es war eins der wenigen Male, das sie zusammen in einem Zug fuhren, erster Klasse, extra für Chris. Die einfache Klasse wäre besser gewesen. So gerieten sie in ihrem Abteil mit ihrer Hündin Nina an eine kleine, weißhaarige und, weil sie schon sehr alt war, äußerst zerknitterte Dame. Alles an ihr war zerknittert: ihr grüner Rock, ihre blaue Jacke, die weiße Bluse darunter, ihre Hände und ihr Gesicht, sogar der kleine Mund mit den schmalen, etwas zu rot geschminkten Lippen. Doch das war nur äußerlich so. Ihr Haar war nicht zerknittert. Es umgab den Kopf wie ein weißer Helm. Eine einzige Strähne versuchte von der Stirne aus in die Höhe zu gelangen wie eine kleine Antenne. Ob es nun diese Antenne war oder das kleine schnuppernde Näschen, auch schon reichlich zerknittert – die Dame witterte einen Arzt und duldete keine Widerrede,