Enno Woelbing

Sehnsucht nach südlicher Sonne und schönen Mädchen - Teil 1


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Weltkrieg, vom ersten Tag an, gleich hinter der Front, zuerst in Frankreich und dann in Russland. Ihre Augen sprühten, es funkte und blitzte in ihnen – wie an der Front, dachte Chris und lächelte charmant. Die Augen waren jung geblieben, ihr Verstand und ihr Gedächtnis auch. Nach mehreren amputierten Gliedmaßen, versorgten Bauch- und Kopfschüssen, nicht mehr behandelbaren zerfetzten Geschlechtsteilen unter der Leitung von Herrn Sanitätsrat soundso – sie wusste Orte und zum Teil die Daten noch – verlegte sie ohne erkennbare Vorbereitung und ziemlich ordinär ihre Fronterfahrung auf eine Randerscheinung bei der Behandlung der verletzten Soldaten. Sie ließ die Worte an Herrn Doktor Mellin mit wippender Haarantenne hervorsprudeln aus ihrem kleinen zerknitterten Mund und duldete keine abwehrende Geste des ihr gegenüber sitzenden vermeintlichen, zuerst amüsierten, danach fassungslosen Doktors.

      „Die meisten hatten Hämorrhoiden, sage ich Ihnen, so groß und noch größer. So!“

      Sie machte eine Bewegung mit ihrem faltigen Daumen und ebensolchem Zeigefinger.

      „Die schnitten wir gleich mit ab und dachten uns oftmals unser Teil, weil da oftmals noch mehr Großes war. Bis eines Tages der Herr Obersanitätsrat soundso ordinär rief: ‚Schwester nun gucken Sie sich das an: Noch so jung und schon so ein großes und ausgeleiertes Arschloch!’ Das ließen wir so, aber ein Bein amputierten wir.“

      Die alte Frontlazarettschwester holte neue Luft in ihre schmale Brust und sprach ihr Gegenüber direkt an. Nina lag vor ihr auf dem Boden und schlief.

      „Was hätten Sie gemacht, Herr Doktor? Einmal ausgeleiert – immer ausgeleiert. Der Herr Obersanitätsrat wusste Bescheid. Und Sie wissen es auch, Sie wollen es nur nicht zugeben.“

      Ihre Augen sprühten ihn an.

      Chris erhob sich, zu einer leichten Verneigung reichte es noch, dann verließ er das Abteil und kam nicht zurück. Die verschlafene Nina zog er an der Leine hinter sich her. Cindy lachte in sich hinein und sah ihre Berufskollegin fast zärtlich an.

      „Aber es stimmt doch, er war wirklich noch ganz jung und hatte ein so großes und …“ Sie verstummte, sah sich ihres verständigen Gesprächspartners beraubt und lehnte sich in ihren Sitz zurück. Sie bedeckte sich mit ihrem aufgehängten roten Mantel und verschwand hinter ihn in seinen Schutz. Der Mantel war genau wie ihr weißes Haar mit der kleinen nach oben strebenden Strähne – auch nicht zerknittert.

      Als Cindy das Abteil verließ, schien die kleine alte Dame, die so viel erlebt und gesehen hatte, zu schlafen. Und das hatte sie sich auch redlich verdient. In ihren Armen waren mehr junge Männer gestorben als ein Pfarrer in seiner Amtszeit insgesamt zu Grabe trug. Sie hatte jahrelang in jeder Minute ihres Lebens die Finsternis des Elends und der Schmerzen erlebt und doch immer einen Schimmer von Licht gefunden, der sie aufrecht erhalten hatte. So wie eben, oder auch anders.

      Und genau in diese Stimmung hinein platzte der Fund, den Cindy machte. Sie fand, als sie sein Gepäck vervollständigte, verschiedene Heilpräparate, Gewürze und einige Stimulanzien, die sie als Ärztin entsetzt und schlichtweg als Drogen einordnete. Ihre Kenntnis hierüber war umfangreich und ihr viele Male bei ihrer Arbeit von Nutzen gewesen.

      „Sind das die Illusionen, die du verkaufst? Wenn das bekannt wird, gibt es einen Skandal. Und ich bin Ärztin, die Menschen helfen soll.“

      Ihr schönes Gesicht war grau. Chris blieb ganz ruhig. Er sah sie über seine Brille an.

      „Diese Situation spricht gegen mich, aber wir sollten von der Wahrheit doch genug übrig lassen. Ich verkaufe nichts davon und benutze es selbst schon lange nicht mehr. Das tun nur Leute, die sich für besonders intelligent halten, oder sie trinken, ich meine: saufen. Ich bin intelligent.“

      Er lächelte.

      „Hörst du, Cindy. Ich – bin – intelligent!“

      Sie spülte alles durch die Toilette, es wollte nicht gleich weg, sie musste mehrmals spülen. Später, als er mit Nina vom abendlichen Spaziergang zurückkehrte und auch ins Bett ging, sagte er zu der noch nicht schlafenden Cindy zwei Sätze, mit denen sie nichts anfangen konnte und nur halbwegs zur Kenntnis nahm.

      „Du kennst nicht die Angst und Schmerzen vieler Deutschen, die entsteht, wenn der Winter sein Kommen ankündigt.“

      Das war der eine Satz. Der andere Lautete:

      „Kannst du nicht auch verkaufen?“

      Am nächsten Tag flogen sie nach Thailand, dem hinterindischen Königreich.

      Als sie zurückkamen, waren sie in der Vorbereitung auf die erste gemeinsame Reise in ihre Heimat weiter entfernt als je zuvor. Cindy überlegte und dachte nach. Ihr Verstand unterlag ihrem Gefühl – sie trennte sich nicht von ihrem Mann. Der war wieder nicht zum Tauchen gekommen in dem schönen fernöstlichen Land, und sie hatte ihn von einem Tempel in den anderen geschleppt, indem sie alle kulturellen Angebote ihres luxuriösen Hotels wahrnahm. Die einheimische Frauenwelt interessierte ihn zu sehr, umgekehrt war es genauso gewesen. Sie hatte alle Anstrengungen unternommen und war kaum zum richtigen Schlafen gekommen, doch es war ihr gelungen, sämtliche Kontakte zur Bevölkerung zu verhindern. Ihr hatte es noch einige gute Trinkgelder gekostet und ihm die Freude an dieser Reise.

      Die Disharmonie zwischen ihnen blieb ihrem großen Freundes- und Bekanntenkreis nicht verborgen. Cindy weinte oft, und Chris sprach von einer momentan instabilen Situation. Seltsamerweise waren es nur der französische Arzt und Timo, die ihre Hilfe anboten, vorsichtig, aber doch deutlich und mit wohlüberlegten Worten. Genauso deutlich, ob wohlüberlegt oder nicht, sagte Chris jedem der beiden dasselbe.

      „Ich kann keinen Tempel und keinen Buddha mehr sehen. Eine Venusstatue wäre mir lieber, aber in ihrem eigenen Land.“

      Timo, aber auch der Arzt fragten sich, ob er damit das Land der Göttin oder das Land seiner Frau gemeint hatte.

      Kapitel 6

       Kapitel 6

      Den typischen nasskalten Winter und den größten Teil des folgenden Frühjahrs, das schon mit beginnender Wärme und Helle anfing, für die vergangenen Monate zu entschädigen, verbrachten sie viel gemeinsam, Chris und Cindy. Sie sahen glücklich und zufrieden aus und scheinbar passte alles zusammen.

      Wer glücklich ist, dem sieht man es an. Es gibt Menschen, die ihrem Glück ständig oder auch nur zeitweise hinterherlaufen und es nicht zu greifen bekommen. Es sah aus, als wären sie der instabilen Situation, von der Chris gesprochen hatte, entronnen und würden den jetzigen Zustand genießen. Der große Mann und seine kleine Frau strahlten. Aber Cindy fühlte sich nicht wohl. Doch am Gerüchtemarkt innerhalb des Freundeskreises wurden sie nicht mehr gehandelt. Zu seiner Familie bestand ohnehin kaum ein Kontakt.

      Cindy hatte einen Wunsch, einen geheimen Wunsch und das schon längere Zeit. Nina lag zu ihren Füßen, als sie freudig durchs Fenster das Zaunkönigpärchen im Garten entdeckte – beim flatternden Liebesspiel, hören konnte sie nichts. Nur Nina wackelte ein paar Mal mit ihren Ohren und hob lauschend ihren Kopf. Sie drehte sich auf den Rücken, als ihre Herrin sie streichelte und kraulte.

      „Nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung. Ich habe mir schon jetzt alle meine Wünsche erfüllt, allein. Für diesen Wunsch brauche ich ihn, den kann nur er mir erfüllen. Hörst du, Nina, ich brauche ihn, und wenn ich nicht bald wieder einmal anständig, so nach allen Regeln dieser Kunst, und möglichst eine ganze Nacht …“

      Sie schloss die Augen und atmete tief die Luft in sich hinein, tief, ganz tief.

      Nina knurrte voller Wohlbehagen, und der Zaunkönig flatterte immer noch auf seiner Königin herum – im Garten, an der Mauer im Gebüsch. Schließlich war sie Ärztin, und Liebe geht durch den Magen. Dieser Spruch hat überall Gültigkeit. Es gelang ihr nach wenigen Tagen, ihm ihre Gefühle aufzuzwingen, eine Vergewaltigung war es nicht gewesen, und nach einem berauschenden Finale – es standen auch ein paar leere Sektflaschen neben dem Bett – hatte sie sich einen Wunsch erfüllt, ihm nicht. Sie schlief, selig und zufrieden lächelnd mit geröteten Wangen, und die grauen Augen sahen auf sie herab – gleichgültig,