Barbara Goldstein

Die Baumeisterin


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dem König und seinem Gefolge.

      Es wurde ruhig auf dem Platz: Die Menge wartete.

      Aus dem Tempel drang kein Laut nach draußen. Der König brachte im Sonnenhof die vorgeschriebenen Speise- und Trankopfer für Ptah dar, und der süße Duft des Weihrauchs mischte sich mit dem Geruch von verbrennendem Fett, das von dem geschlachteten Opferstier in das Feuer tropfte.

      Fliegende Händler schritten durch die Reihen der Wartenden, die ihren Platz während der stundenlangen Krönungszeremonien nicht aufgeben wollten, und verkauften Datteln, Nüsse und heißes Fladenbrot mit Ziegenkäse.

      »Was geschieht jetzt im Tempel?«, fragte ich nach einer Weile.

      »Der Lebendige Gott nimmt die Throne Beider Reiche in Besitz. Erst besteigt er den Thron des Unteren Landes und erhält die rote Mehus-Krone aufgesetzt, dann setzt er sich auf den Thron des Oberen Landes und erhält die weiße Schemas-Krone als Zeichen seiner Macht.«

      »Wer setzt ihm die beiden Kronen auf?«, wollte ich wissen.

      »Der Hohepriester des Ptah.«

      Dann öffneten sich die Tore, und die Prozession verließ den Tempel, zuerst die Bewaffneten, dann die Gottesdiener und schließlich die Sänfte des Königs.

      Seneferu trug nun die Sechemti-Doppelkrone, die aus der roten Krone des Unteren und der weißen Krone des Oberen Landes bestand. In den über der Brust gekreuzten Händen hielt er Zepter und Geißel.

      Der Wesir Nefermaat schritt vor der königlichen Sänfte her und rief mit lauter Stimme, damit es die ganze Welt vernehme: »Ich verkünde die Inthronisation des Herrn der Weltordnung, Seneferu Nebmaat, des Großen Gottes, Sohn des Re, Licht der Welt, Eroberer der Fremdländer, Herrscher des Oberen und Unteren Landes. Möge er tausend Jahre regieren!« Und dann: »Huldigt dem Lebendigen Gott! Gelobt sei sein geheiligter Horus-Name in Beiden Ländern!«

      Die Menschen sprangen auf und jubelten dem neuen König zu. Möge er tausend Jahre regieren!

      Und ich konnte nichts mehr sehen!

      »Warum hat der König so viele Namen?«, fragte ich meinen Vater.

      »Die Namen des Herrschers sind so etwas wie sein Regierungsprogramm und zeigen dem Volk, was er sich vorgenommen hat. Der Name Nebmaat bedeutet, dass Seneferu die Welt durch die Maat vollkommen machen will. Als Gottkönig, Hohepriester und Stellvertreter des Gottes Horus auf Erden, wird er für Ordnung, Gerechtigkeit und die Vervollkommnung der Welt sorgen. Er wird die Fremdländer unterwerfen: die Libyer im Westen, die Kuschiten im Süden und die Sumerer im Osten.«

      Ich drängte nach vorn, um etwas sehen zu können.

      »Komm zurück! Das darfst du nicht!«, rief mein Vater entsetzt und wollte mich festhalten, aber ich riss mich los, kroch zwischen den Beinen der Leibwachen durch, die die Ehrengasse für den Netjer bildeten, und stand mitten auf dem Weg, auf dem sich die Prozession näherte.

      Die Menschen warfen sich zu Boden, als die Sänfte des Göttlichen sich näherte. Fasziniert sah ich den König an und vergaß, mich vor ihm niederzuwerfen, um den Staub unter seinen Füßen zu küssen.

      Der Blick des Göttlichen war in die Unendlichkeit gerichtet, sein Gesicht war unbewegt. Nur ein feines Lächeln des Triumphes lag auf seinen Lippen.

      Ein Bewaffneter packte mich an der Schulter und drückte mich in den Staub. Aber ich ließ meinen Blick nicht vom Lebendigen Gott.

      Da sah er mich an! Sein Blick traf mich wie ein Sonnenstrahl!

      Verstohlen winkte ich ihm zu.

      Er lächelte.

      Doch dann hob er wieder den Blick zum Horizont und war nicht mehr Mensch, sondern König und Gott.

      Sein Triumph war unermesslich.

      Die Krönungsfeierlichkeiten im Tempel des Ptah und die ausgelassene Feier auf dem großen Platz vor dem alten Königspalast von Mempi schienen der Höhepunkt im Leben aller Menschen zu sein. Doch noch in derselben Nacht gebar die Gottesgemahlin Ahmes sein erstes Kind. Die Prozession in den Tempel des Ptah und die anschließenden Empfänge für die fremdländischen Botschafter und Gaufürsten waren zu viel Aufregung für sie gewesen, und so setzten die Wehen einen Mond zu früh ein. Noch war das Schicksal Seneferu gewogen, und Ahmes schenkte einem gesunden und kräftigen Sohn das Leben.

      Das Volk jubelte dem Göttlichen zu, als er den Neugeborenen vom Erscheinungsfenster des Palastes aus zeigte: »Seht her, Völker des Papyrus- und des Lotuslandes. Dies ist mein erstgeborener Sohn, den ich Rahotep nennen will!«

      »Wann fahren wir nach Hause?«

      Mein Vater sah mich betroffen an. »Wir werden nie mehr zurückkehren, mein kleiner Liebling. Ich bin nach Mempi gekommen, um zu arbeiten. Der Lebendige Gott will das Grabmal seines Vaters des Netjer Huni zu Ende bauen. Huni hinterließ eine unvollendete Pyramide nahe der Residenz von Pihuni. Ich will dort Arbeit finden.«

      Er wies auf den Ausrufer, der mit lauter Stimme an der Straßenecke verkündet hatte, dass König Seneferu Arbeiter für das neue Pyramidenbauprojekt in der königlichen Residenz von Pihuni suchte.

      Alle für das Bauprojekt notwendigen Hilfsarbeiter wie etwa Steinmetze, Steinschlepper oder Wasserträger sollten aus der arbeitsfähigen Bevölkerung des ganzen Landes Kemet rekrutiert werden. Jeder, der Arbeit suche, sollte sich in einem Arbeitsamt melden. Seneferu verlor keine Zeit, sich ein Grabmal erbauen zu lassen. »Und was ist mit unserem Feld am Ufer des Hapi?«

      Mein Vater hatte eine kleine Parzelle am Rand des kultivierten Fruchtlandes westlich des großen Stromes Hapi besessen. Das Land meines Vaters war nicht groß, nur etwa zweihundert königliche Ellen in der Länge und etwa einhundert in der Breite, aber für mich schien es die ganze Welt auszufüllen. Er baute Gemüse an: Linsen, Kichererbsen, Bohnen, Gurken, Zwiebeln, Rüben und Salat. Sein Traum war, Dattelpalmen und Granatäpfelbäume auf seinem Land anzubauen. Immer wieder steckte er die Setzlinge in den Boden, doch niemals schlugen sie Wurzeln.

      »Das Feld habe ich verkauft«, gestand er leise.

      Jetzt wusste ich, woher die Kupferbarren für die Fahrt nach Mempi stammten!

      »Jeder Mensch muss seinem König dienen«, tröstete er mich. »Die Arbeit am Grabmal des Herrschers wird gut entlohnt. Jeder Arbeiter wird am Totenkult des Königs teilhaben. Erinnerst du dich, wie einsam deine Mutter in ihrem Felsnischengrab liegt?« Ich nickte stumm. Meine Mutter Cheti war bei meiner Geburt gestorben.

      «Vielleicht werde ich eines Tages im Schatten der Pyramide mein Grab haben!«, sagte mein Vater mit verklärtem Blick.

      Wie konnten wir denn ahnen, dass er eines Tages in der Pyramide begraben sein würde!

      Der Weg nach Pihuni war weit und führte uns tagelang an den überfluteten Feldern vorbei, die wie ein riesiger See in der Sonne funkelten. Das Vorwärtskommen war mühsam, da die Uferstraße am Hapi ebenfalls überschwemmt war. Wir suchten unseren Weg entweder in den knietief unter Wasser stehenden Feldern oder im roten Sand jenseits des Fruchtlandes.

      Für die Bauern bestimmte die jährliche Flut den Rhythmus des Lebens. Wenn sich die Frucht bringenden Wasser des Hapi zurückzogen, kamen die Landvermesser, um die Parzellen und Felder neu zu vermessen. Zerstörtes, abgetragenes oder sumpfiges Land wurde durch einen Schreiber in die Grundbuchrolle eingetragen. Anhand der ermittelten Bodenqualität veranschlagten die Beamten den zu erwartenden Ertrag und damit die Höhe der Steuern, um sie später nach der Ernte einzutreiben.

      Weiter stromaufwärts und an der Grenze des Fruchtlandes zur Wüste war das Land bereits vermessen und durch Stöcke oder Pfähle im durchweichten Boden markiert. Die Bauern setzten die Bewässerungskanäle instand. Ochsen, Kühe oder Esel trotteten mit gesenkten Köpfen über die feuchten Äcker und zogen, immer wieder einsinkend und stockend, die schweren Pflüge. Kinder liefen hinter den Gespannen her, verscheuchten die aufgeregt umherflatternden Vögel und streuten das Saatgut aus umgehängten Leinenbeuteln in die schwarze, süßlich duftende Erde.

      Wir waren einige Tage