er war doch noch nie hier!«
»Aber jetzt ist er hier! Verschwinde, Nefrit!«
Ich hatte Aperire noch nie so aufgeregt gesehen. Er stürzte aus dem Zelt, nur um kehrtzumachen und eine Papyrusrolle von seinem Schreibtisch mitzunehmen. Dann ging er zehn Schritte und drehte erneut um, als er entdeckte, dass es die falsche Rolle war. Ich ging hinüber zu seinem Schreibtisch und reichte ihm die Gehaltsliste der Arbeiter. Er riss sie mir aus der Hand und verschwand nach draußen.
Der Wesir Nefermaat wurde vom Königlichen Bauleiter Api, den Mitgliedern der Bauleitung und den Vorarbeitern umschwärmt wie das Licht von Motten. Ich beobachtete Aperire, der dem Prinzen in respektvollem Abstand folgte, als er sich in seiner Sänfte über die Baurampe auf die oberste Plattform der Pyramide tragen ließ.
Das Gefolge des Wesirs blieb mit Aperire und den anderen Mitgliedern der Bauleitung zurück. Wenig später begaben sich der Prinz und der Bauleiter Api über die Rampe auf die unterste Stufe.
Prinz Nefermaat, den Bruder des Lebendigen Gottes, von ganz nah zu sehen, das hatte ich mir vorgenommen. Ich rannte um die Zelte der Bauleitung herum und erreichte unbemerkt das Fundament des Pyramidensockels. Ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, kletterte ich die Steinquader hinauf bis zur Plattform. Obwohl es nicht viele Steinlagen waren, war ich außer Atem, als ich mich zwischen die Quader drückte und vorsichtig über den Rand blickte. Prinz Nefermaat und der Bauleiter Api standen nur wenige Schritte von mir entfernt und unterhielten sich. Ich erwartete, dass der Wesir in die Residenz zurückkehren würde, doch ich sollte mich täuschen. Prinz Nefermaat ging mit dem Königlichen Bauleiter Api hinüber zu einer Öffnung: Sie betraten den Schacht zum Grabkammersystem unterhalb des Pyramidenfundaments!
Wenn Djedef hier gewesen wäre, hätte er mich zurückgehalten. Aber er hatte sich im Winter des zweiten Regierungsjahres von König Seneferu von mir verabschiedet. Sein Vater hatte eine Frau kennen gelernt und war mit ihr nach Mempi gegangen.
Wegen des Besuchs des Prinzen war die Plattform menschenleer, und ich nutzte meine Chance. Niemand bemerkte mich, als ich wenige Augenblicke später ebenfalls im Tunnel verschwand und dem Fackelschein vor mir ins Innere der Pyramide folgte. Ich hatte Angst, entdeckt und geschlagen zu werden, aber meine Neugier war größer als meine Furcht.
Der schmale und niedrige Gang führte steil bergab, tief ins Innere der Pyramide. Während der ersten hundert Schritte bestanden die Wände aus den behauenen Blöcken der äußeren Pyramide. Dann änderten sich der Zuschnitt und die Polierung der Steinquader. Nach weiteren hundert Schritten hörten die behauenen Quader völlig auf, und der Boden, die Wände und die Decke des Ganges waren glatt geschliffener Sandstein: Der Gang war an dieser Stelle direkt aus dem Fels geschlagen worden.
Immer wieder richtete ich meinen Blick auf den Prinzen Nefermaat, der vor mir durch den engen Gang kroch. Die Fackel warf einen düsteren Lichtschein bis zu mir herüber. Dann machte der endlose Grabschacht einen leichten Knick in die Waagerechte, hinter dem die beiden verschwanden.
Ich folgte ihnen bis zu einem kleinen Raum, kaum größer als eine Nische, der von oben durch das flackernde Licht einer Fackel erleuchtet wurde.
Ein Seil und eine Winde!
Dort oben war die Grabkammer des Königs.
Unschlüssig blieb ich stehen.
Der Wesir und sein Bauleiter begannen nach ihrer kurzen Besichtigung der Grabkammer, sich wieder in den Gang abzuseilen.
Was nun?
Sollte ich vor den beiden hinaufsteigen und damit im Gegenlicht und im Schein der Fackel deutlich sichtbar sein? Oder sollte ich die beiden Männer passieren lassen, um hinter ihnen die Oberfläche zu erreichen? Aber wo konnte ich mich denn verstecken? Zwei oder drei Schritte hinter mir war eine schmale Nische, mehr ein Mauervorsprung, der wohl durch ungenaue Messungen bei der Ausschachtung des Grabganges entstanden war.
Ich huschte in den tiefen Schatten der Nische.
Gerade noch rechtzeitig!
Der Wesir und sein Bauleiter schritten in gebückter Haltung an mir vorbei die steile Rampe hinauf zum Licht.
Ich presste mich gegen die kalte Wand und hielt den Atem an.
Wenn einer der Männer stehen blieb und sich umblickte, würde er mich im Schein der Fackel entdecken!
Erst als sie das Plateau erreicht hatten, wagte ich mich aus meinem Versteck und rannte den Gang entlang.
Den Eingang des Grabtunnels bewachten Schwertträger, die mir den Fluchtweg versperrten.
Verdammt, damit hätte ich rechnen müssen!
Aber besser zwei oder drei Wächter, deren Aufmerksamkeit irgendwann nachließ, als der schwere Rollstein vor dem Eingang, der mein sicherer Tod gewesen wäre. Also nahm ich geduldig das Schicksal hin, an dem ich selbst schuld war.
Aus der Finsternis des Stollens heraus sah ich Prinz Nefermaat seine Sänfte besteigen und mit seinem Gefolge die Baustelle verlassen. Die Besichtigung des Vorstehers aller Bauarbeiten des Königs war beendet. Aber wenn ich erwartet hatte, dass sich die Bewaffneten nun vom Eingang des Grabschachtes zurückziehen würden, hatte ich mich getäuscht.
Stunden später ging die Sonne unter. Ein Signal ertönte, und die Arbeiter ließen die Schleppseile fallen, wo sie gerade standen, und machten sich auf zur Essensausgabe am Flussufer. Als der letzte Arbeiter seine Ration an frisch gebackenem Brot erhalten hatte, seinen Krug mit süßem Bier gefüllt und sich in seine Hütte zurückgezogen hatte, war es bereits dunkel geworden. Ich dachte an meinen Vater und dass er mich vermissen würde. Ob er mit dem Essen warten würde? Ob er mich suchen oder die Lageraufsicht verständigen würde? Ich richtete mich auf eine lange Nacht im Grabschacht ein und beobachtete die Wächter.
Sie saßen auf der Plattform vor dem Gang, hatten einige Schritte entfernt ein kleines Feuer entzündet und vergnügten sich mit Wein und Essen. Als die drei Wächter die leeren Schüsseln am Rand der Plattform nahe der Baurampe abgestellt hatten, kreiste der Weinschlauch. Sie machten sich nicht die Mühe, den Dattelwein in ihre Becher umzufüllen, sondern ließen ihn unter großem Gelächter direkt in ihre Kehle laufen.
Das war meine Chance! Wenn sie so betrunken waren, dass sie einschliefen, konnte ich an ihnen vorbei nach Hause laufen. Geduldig lehnte ich mich gegen die Wand des Grabschachtes und wartete ab.
Der Mondgott Chons stand schon hoch am Himmel, als einer der Männer auf seiner Binsenmatte eingeschlafen war. Die beiden anderen unterhielten sich, als eine junge Frau die steile Baurampe heraufkam und das Geschirr einsammelte, um es zu waschen. Die Männer winkten sie ausgelassen lachend heran, doch sie ignorierte sie, drehte sich um und wollte wieder hinuntersteigen. Da sprangen beide auf und liefen zu ihr hinüber, um sie zu beschwatzen, einen Schluck Dattelwein mit ihnen zu trinken.
Die junge Frau, deren Gesicht ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, folgte ihnen bis ans Feuer, setzte sich mit dem Rücken zu mir und ließ sich von den Soldaten einschenken. Einer strich ihr über das lange Haar und das Gesicht, betatschte mit der einen Hand gierig ihre schwellenden Brüste und schob schließlich die andere zwischen ihre Schenkel. Dass sie ihn gewähren ließ, schien ihn zu erregen, denn er küsste sie, indem er erst seine Nase an ihrer rieb und dann seine Lippen auf ihre senkte.
Das hatte ich noch nie gesehen! Verblüfft sah ich den beiden zu.
Das Küssen mit den Lippen musste ein fremdländischer Brauch sein, denn im Land Kemet war nur das Nasenreiben üblich als Ausdruck höchster Wertschätzung.
Aus einem Leinensäckchen zog er einen Kupferbarren hervor. Sie schüttelte den Kopf, erhob sich und wollte wieder gehen. Der Mann zerrte hastig einen weiteren Barren hervor und hielt ihn ihr hin. Als die Frau nach beiden Barren griff, lachten die Männer voller Vorfreude.
Schwankend erhob er sich und zerrte die junge Frau zum Eingang des Grabschachtes.
Nein!, dachte ich entsetzt: Nicht hier!
Ich zog mich in die Dunkelheit zurück.
Sie ließ