Barbara Goldstein

Die Baumeisterin


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bei allen Göttern! Was tust du hier? Verschwinde!«

      »Es ist wirklich dringend! Ich muss mit dir sprechen!«

      »Was ist denn los? Ich kann jetzt nicht …!«

      »Der König will dich sehen!«

      »Hast du zu lange in der Sonne gestanden, Nefrit?«

      Ich zog ihn auf die Seite, sodass uns niemand hören konnte. Die Arbeiten am Schlitten wurden eingestellt, und die Arbeiter sahen uns zu, während wir diskutierten. Ich erklärte ihm, was am Vorabend geschehen war, und erläuterte in wenigen Worten seine Aufgabe: für kurze Zeit Bauleiter Kamose zu sein.

      »Das ist Wahnsinn! Wo ist denn der neue Bauleiter Hemset?«

      »Er ist noch nicht auf der Baustelle.«

      »Bei der Göttin Maat! Das kann ich nicht tun! Wenn das rauskommt … Wir werden alle hingerichtet.«

      »Du hast keine Wahl, Vater! Wenn du nicht mitkommst, wird der König zornig sein.« Ich zögerte. »Eigentlich ist er es jetzt schon.«

      Die letzte Andeutung beschleunigte meines Vaters Schritte die Rampe hinunter. Wir liefen an etlichen Schlitten vorbei, die zum Halten gekommen waren. Neugierige Blicke folgten uns bis zum Bauleiterzelt.

      Als wir vor dem Zelt ankamen, erwartete uns Aperire. »Viel Glück!«, flüsterte er Kamose zu. »Er erwartet dich.«

      Gleich hinter dem Eingang warf sich mein Vater demütig auf den Boden.

      Der Herrscher stand mit Prinz Nefermaat am Zeichentisch und hielt einen der Pläne in der Hand. Als wir eintraten, drehte er sich um und betrachtete meinen Vater, der auf der geflochtenen Schilfmatte vor ihm auf Knien lag. Sein zweiter Blick galt mir. »Bist du Kamose?«, fragte er meinen Vater.

      »Ja, Euer Majestät.«

      »Du hast mich lange warten lassen!«

      »Ich war auf der obersten Plattform der Pyramide, Euer Majestät.«

      Die Antwort schien den König zu besänftigen. »Du überwachst die Arbeiten vor Ort? Das ist lobenswert. Was ist mit den neuen Plänen? Warum sind sie nicht fertig?«

      »Euer Majestät, ich … hatte noch keine Gelegenheit, sie mir anzusehen …«

      »Noch keine Gelegenheit?«, fragte der König. »Wann gedachtest du denn, meine Änderungen auf der Baustelle umzusetzen? Nächstes Jahr?«

      »Nein, natürlich nicht … Aber wir haben bis spät nachts …«

      »Ich wünsche, dass du die Berechnungen jetzt gleich durchführst. In meiner Anwesenheit. Ich will vor meiner Abreise wissen, ob die neuen Maße und Winkel umgesetzt werden können.«

      Ich sackte in mich zusammen. Wie hatte ich nur den Fehler begehen können, meinen Vater in diese Situation zu bringen?

      Mein Vater erhob sich und ging hinüber zum Tisch, an dem der Herrscher mit dem Wesir stand. Er warf einen langen Blick auf die neuen Pläne, die ich zu zeichnen begonnen hatte, als der König mit wenigen Pinselstrichen die Arbeit eines Abends zunichte machte. »Die neue Pyramide ist fast doppelt so groß!«, rief er entsetzt.

      »Gibt es da Schwierigkeiten?«, fragte Prinz Nefermaat erstaunt. Er war Widerspruch offensichtlich nicht gewohnt.

      Mein Vater zögerte.

      »Sag mir die Wahrheit, Bauleiter! Sind meine Pläne zu ehrgeizig?«, fragte der König.

      »Im Namen der Maat: Ja, Euer Majestät ...«

      Der Herrscher sah meinen Vater schweigend an. Er wartete den Rest der Antwort ab. Mein Vater war schon zu weit gegangen, um sich jetzt noch aus der Affäre ziehen zu können.

      »Diese Baupläne zeigen eine Schale mit einer glatten Außenseite über der achtstufigen Zentralpyramide. Dabei wird die bestehende Basislänge um fünfzig Ellen auf dreihundert Ellen erweitert. Die neue Basis der Pyramide verschlingt sehr viel Steinmaterial, mehr, als wir in der Kernpyramide bisher verbaut haben. Die Steinbrüche haben nicht mehr so viel Material, um die Pyramide in dieser Größe vollenden zu können. Der Sandboden des Plateaus, auf dem die Pyramide erbaut ist, trägt möglicherweise das gesamte Gewicht des vergrößerten Bauwerkes nicht. Und, was noch dazukommt …« Mein Vater betrachtete den Plan und legte den auf dem Tisch liegenden Winkelmesser an. »Der Neigungswinkel der Schrägen ist zu steil. Die Pyramide wird in dieser Form einstürzen.«

      Prinz Nefermaat schüttelte den Kopf. Der König sah meinen Vater zweifelnd an: »Einstürzen?«

      Nun war mein Vater in seinem Element. Er beachtete den Göttlichen gar nicht mehr und gab sich seinen Skizzen hin. »Eine Pyramide kann entweder in einem Verhältnis drei zu eins oder vier zu eins erbaut werden. Die ursprüngliche Planung sah den flacheren Neigungswinkel vor, Eure Skizze hier nähert sich vier zu eins an und ist damit zu steil.«

      Der Lebendige Gott wartete auf weitere Erläuterungen.

      Mein Vater zog einen neuen Papyrus hervor. Zwischen den Plänen suchte er nach einem Pinsel. Während Kamose noch die Papyri durchwühlte, ging Nefermaat zum Schreibtisch, holte eine Schreibbinse und reichte sie meinem Vater. Der tauchte den Pinsel in die Tintenschale und malte ein großes gleichschenkeliges Dreieck auf den Papyrus.

      »Die Höhe einer Pyramide bemisst sich in königlichen Ellen. Zur Vermessung der Pyramidenbasis können wir keine Ellen nehmen, da ein Seil von beliebiger Länge entweder durchhängt oder reißt. Wir haben daher das Ellenmaß auf eine hölzerne Trommel übertragen. Diese Trommel wird entlang des Fundamentes gerollt. So stellen wir sicher, dass das Ellenmaß immer gleich lang ist. Der Neigungswinkel der Pyramide ergibt sich aus dem Verhältnis ihrer Höhe zu der Zahl der Rollellen vom Zentrum der Pyramide bis zu den Seiten. Das hier ist eine Pyramide im Verhältnis drei zu eins.« Dann malte er daneben ein anderes Dreieck. »Und das hier ist eine Pyramide im Verhältnis vier zu eins. Die Neigung der Seiten ist viel steiler, die Pyramide ist bei gleicher Basis viel höher, die Seitenflächen sind viel länger und benötigen mehr glatte Abdecksteine.« Dann malte mein Vater mit dem Pinsel Pfeile in beide Dreiecke, in das größere mehr als in das kleinere. »Das hier sind die Kräfte, die auf die Pyramide wirken.«

      »Kräfte?« Der König hob die Augenbrauen.

      »Jeder Stein drückt mit seinem Gewicht auf alle darunter liegenden Quader. Bei dieser flacheren Pyramide werden hundertzwanzig Steinlagen verlegt. Die Kraft wirkt aber nicht senkrecht nach unten, sondern nach außen: Die Pyramide droht zu zerspringen, ja: einzustürzen. Um das zu verhindern, werden die Steinlagen leicht nach innen geneigt verlegt.« Mein Vater sah dem König ins Gesicht, ob er verstanden hatte, doch Seneferus Blick ruhte auf den beiden Skizzen. Dann fuhr er fort: »In der steileren Pyramide sind wesentlich mehr Steinquader verbaut. Solch eine hohe Pyramide hat mehr als hundertzwanzig Steinlagen – vielleicht hundertfünfzig oder noch mehr. Das bedeutet, dass der Druck auf alle darunter liegenden Steine viel höher ist als bei der Pyramide mit dem flacheren Neigungswinkel. Bei der gewünschten Neigung wird der Druck die Steine an der Peripherie regelrecht aus der Pyramide herausschleudern. Die Verschalung wird nicht halten, und die Pyramide wird einstürzen. Vermutlich wird nur der Zentralkern stehen bleiben.«

      »Das ist Unsinn! Meinen Berechnungen zufolge hält die Pyramide den Druck von vier zu eins leicht aus«, warf Prinz Nefermaat ein. »Ich bitte Euch, Majestät! Kamose scheint keine Ahnung zu haben.«

      Der König blickte vom Plan auf und sah von einem zu anderen. »Nur einer von euch beiden kann Recht haben. Wird die Pyramide bei diesem Neigungswinkel einstürzen oder nicht?«

      »Sie wird«, antwortete mein Vater und sah den König dabei an.

      »Sie wird nicht«, tobte Prinz Nefermaat.

      »Ich befehle, dass ihr beide eure Berechnungen unabhängig voneinander durchführt und mir morgen in der Residenz vorlegt.«

      Prinz Nefermaat verbeugte sich vor seinem Bruder, und mein Vater warf sich in den Staub.

      Der Netjer begab sich zum Ausgang des Zeltes.