Barbara Goldstein

Die Baumeisterin


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Prinz Nefermaat an meinem Vater vorbeiging, fauchte er: »Widersprich mir nie wieder, Kamose! Oder deine Karriere ist beendet!«

      Wie sollte der Wesir denn ahnen, dass sie gerade erst begonnen hatte?

      1

      Aperire beschloss, die Täuschung erst einmal fortzusetzen, zumindest bis zum nächsten Tag. Rein rechtlich war Kamose nun Königlicher Bauleiter der Baustelle von Pihuni, denn wer sollte es wagen, den Befehl des Königs anzuzweifeln?

      Ich las meinem Vater die Formeln vor, die Api zur Berechnung der Statik der Pyramide benutzt hatte. Mein Vater konnte weder lesen noch schreiben und stellte die meisten Berechnungen im Kopf an. Ich brachte sie zu Papyrus. Als wir fertig waren, begann ich mit der zeichnerischen Umsetzung der neuen Baupläne in einem Winkel von dreieinhalb zu eins. Mit diesem Neigungswinkel sei die Pyramide noch stabil, erläuterte mir mein Vater.

      Kamose wich nicht von meiner Seite, während ich die Pläne zeichnete. Er hatte nun die Verantwortung für die Baustelle übernommen. Noch bevor der Mondgott in dieser Nacht den Horizont berührte, war der Bauplan für die neue Pyramide fertig.

      Völlig verschwitzt kamen wir am nächsten Morgen in Pihuni an. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich auf einem Esel geritten: Ein herrliches Vergnügen!

      Die Hauptstadt lag inmitten eines Palmenhaines an einem großen Oasensee.

      Wie in Mempi bogen sich die Tische der Händler unter der Last der dargebotenen Früchte. Melonen, Zitronen, Granatäpfel und Weintrauben lagen neben wahren Bergen von Zwiebeln, Gurken und Salatköpfen. Die Stände der Bäcker quollen über von Broten aus Weizen und Gerste und von Honigkuchen. Ich sah Affen und Hunde, die als Haustiere verkauft wurden. Fasziniert starrte ich auf die Schmuckgegenstände aus Gold und dem kostbareren Silber, mit Türkisen aus dem Sinai und Lapislazuli aus dem Zweistromland.

      Der Duft der Garküchen in den Straßen von Pihuni war überwältigend: Es roch nach Gänsebraten, gegrillten Enten und gekochtem Rindfleisch. An einem Stand nur wenige Schritte entfernt wurde Feigenmus angeboten, an einem anderen Bienenhonig. Welche Köstlichkeiten!

      Als Re im Zenit stand, meldeten wir uns bei der Palastwache.

      Der Königspalast war ein großer Gebäudekomplex am Rande der Stadt. Durch ein von Türmen flankiertes Tor betraten wir den großen Hof mit den Kriegerhäusern der Palastwache und der Kommandantur. Durch ein zweites Tor gelangten wir in den Palast des Königs, das Haus der Verehrung, wo der Göttliche mit seiner Familie wohnte. Nur wenige Schritte entfernt ragte der Palast des Wesirs auf, das Ministerium für fremdländische Angelegenheiten, flankiert von etlichen Schreiberbüros und einem Archiv.

      Durch prachtvolle Gänge wurden mein Vater und ich in einen Wartesaal geführt. Die herrlichen Wandgemälde des Saales zeigten den König beim Opfer vor den Göttern Isis und Osiris, Horus und Maat, Amun und Re. Den neuen Gott Atum konnte ich nirgendwo entdecken. Auf der gegenüberliegenden Wand erkannte ich den König als siegreichen Feldherrn, der über die Feinde von Kemet triumphiert.

      Am späten Nachmittag verkündete ein Schreiber: »Seine Göttlichkeit empfängt heute nicht mehr. Kommt morgen wieder.«

      Die Wartenden erhoben sich und verließen schweigend den Saal.

      Ich ging zum Schreiber hinüber.

      »Ihr könnt gehen. Seine Majestät empfängt heute nicht mehr«, wiederholte er.

      »Der König erwartet uns. Er hat uns gebeten, heute hier zu erscheinen und ihm die Pläne zu zeigen.«

      »Seine Majestät bittet nicht, er befiehlt! Welche Pläne?«

      »Der Königliche Bauleiter Kamose soll dem König die neuen Pläne für die Pyramide zeigen und die neuen Berechnungen vorlegen.«

      Der Sekretär sah mich erstaunt an, und ich hielt seinem Blick stand. Dann durchsuchte er eine Liste mit angemeldeten Besuchern. »Hier steht: Bauleiter Kamose aus Tis. Wer bist du?«

      »Seine Tochter.«

      »Du kannst nicht mit hinein. Du musst hier warten.«

      Die Sonne war schon lange untergegangen, als mein Vater in das Audienzzimmer geführt wurde.

      Ich blieb allein zurück und beobachtete, wie der Schreiber seine Schreibbinsen zusammenpackte und die Schale mit den getrockneten und in Honig eingelegten Zitronenscheiben, von denen er während des Nachmittags immer wieder etwas stibitzt hatte, unter sein Schreibpult schob. Seine täglichen Pflichten als Staatsbeamter schienen erfüllt. Ab und zu warf er mir einen irritierten Blick zu, als hielte ich ihn davon ab, in sein Haus zurückzukehren.

      Mein Vater blieb sehr lange fort, und ich wurde immer unruhiger. Was war denn bloß geschehen?

      Sobald der Sekretär seinen Platz verließ, schlich ich mich bis zur hohen Tür aus Ebenholz, um daran zu lauschen.

      Stille.

      Vorsichtig öffnete ich die Tür. Dahinter fand ich einen Gang, der auf ein weiteres Portal mündete. Ich schloss die Türflügel leise hinter mir und huschte den Korridor entlang. Beunruhigt sah ich mich immer wieder um.

      Vor dem nächsten Portal machte ich Halt und horchte.

      Lautlos schob ich einen Türflügel auf und blickte durch den Spalt. Der Raum, das Schreibzimmer der Sekretäre des Königs, war verlassen. An der gegenüberliegenden Seite lag ein durch einen Leinenvorhang abgeteilter zweiter Raum. Der Audienzsaal!

      »Die Berechnungen von Kamose sind völliger Unsinn!«, brachte Nefermaat gerade vor.

      Durch das dünne Leinen konnte ich die Szene im Audienzsaal beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.

      Prinz Nefermaat und mein Vater saßen in Schreiberhaltung vor dem König. Dieser schien verärgert darüber, dass der Wesir und sein Bauleiter sich nicht über den Neigungswinkel seines ehrgeizigen Bauprojektes einigen konnten.

      »Schluss jetzt, Nefermaat! Du hast bisher kein vernünftiges Argument vorgebracht, das für den einen oder gegen den anderen Winkel spricht. Vergiss für einen Augenblick deine Stellung bei Hof und lass dich auf eine sachliche Diskussion mit Kamose ein!«, forderte der König.

      »Jedes meiner Argumente ist sachlich!«, knirschte der Wesir. »Die Pyramide wird mit dem Winkel vier zu eins nicht einstürzen!«

      »Das stimmt nicht«, sagte mein Vater ruhig. »Sie wird einstürzen.«

      »Bei Imhotep«, fluchte der König. »Das kann doch nicht wahr sein! Muss ich mich denn wirklich mit euch beiden herumärgern?«

      Als er sich erhob, sank mein Vater auf den Boden und verneigte sich tief vor dem Herrscher.

      »Ich befehle euch, gut zusammenzuarbeiten. Das heißt für mich, nur um spätere Interpretationen auszuschließen, mein Grabmal in den vorgegebenen erweiterten Maßen mit dem größtmöglichen sicheren Neigungswinkel zu errichten. Die Audienz ist beendet!«

      Am selben Abend – mein Vater und ich waren gerade erst aus Pihuni zurückgekehrt – erwartete uns Aperire im Zelt des Bauleiters. Neben ihm saß ein Priester des Re in Schreiberposition. Beide erhoben sich, als mein Vater das Zelt betrat.

      »Kamose, das ist Hemset, der neue Bauleiter aus dem Sonnentempel in Iunu«, stellte Aperire den Priester vor.

      Mein Vater stand wie zur Statue erstarrt, bleich und zittrig. Sein Traum zerplatzte. Er presste die Baupläne zusammen, bis der Papyrus brach.

      »Hemset, das ist Kamose, den Seine Majestät vor zwei Tagen zum Königlichen Bauleiter ernannt hat«, fuhr Aperire unerbittlich fort.

      Hemset kam auf meinen Vater zu und warf sich ihm zu Füßen. »Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Kamose.«

      Offensichtlich hatte mein Vater mehr Widerstand vom Sonnenpriester erwartet.

      Warum klärte Aperire die Situation nicht auf?

      »Bitte