Die Gans hatte Satamun für Kamose und seinen Gast zubereitet.
»Nie gehört«, gestand ich, obwohl ich auf der Baustelle mit Priestern verschiedenster Gottheiten zu tun hatte. »Ist das ein neuer Gott?«
»Atum verbindet sich mit dem Sonnengott Re zum Schöpfergott Atum-Re. Er steht an der Spitze der Großen Neunheit von Iunu. Netjer Seneferu machte Atum-Re zum höchsten aller Götter. Es ist die Sonne selbst.« Rechmire schien als Diener des Re nicht voll hinter der Maßnahme des Königs zu stehen.
»Welche Form hat Atum-Re?« fragte ich, als ich ein Stück Fladenbrot in die fettige Sauce der Gans tunkte.
»Dargestellt wird er als Mensch mit Doppelkrone, Herr der Beiden Länder, mit Was-Zepter und Ankh-Zeichen, manchmal auch in Schlangengestalt.«
»Das klingt ein bisschen so wie ein persönlicher Personenkult des Netjer.« Ich steckte mir das Stück Brot in den Mund.
Mein Vater sah mich irritiert an. Rechmire ignorierte meine Tischmanieren und wies mich zurecht: »Bei Re, wie kannst du so etwas sagen! Netjer ist selbst Gott, er hat es gar nicht nötig, seine Person in den Vordergrund zu stellen. Er ist ganz Gott und eins im Wesen mit Atum-Re.
Netjer Seneferu hat einen neuen Titel angenommen, wenn dieser auch nicht Bestandteil seines Namens geworden ist: er nennt sich jetzt Sohn des Atum-Re. Er machte damit Atum-Re zum heimlichen Reichsgott und erhob ihn über alle anderen Götter.«
»Was sagen die anderen Götter dazu, dass der König nur den einen bevorzugt?« wollte ich wissen. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass Kamose in seinem Essen herumstocherte. Ihm war die Unterhaltung zwischen Rechmire und mir offenbar unangenehm.
»Die Götter schwiegen bisher, die Hohenpriester nicht. Sie sind wütend auf den Lebendigen Gott und mit seiner Bevorzugung des Atum-Re nicht einverstanden. Einer nach dem anderen waren die Hohenpriester im Verlauf des vergangenen Jahres zur Audienz beim König, aber er ließ sich nicht umstimmen: nicht vom Hohenpriester des Osiris von Abodu, nicht vom Hohenpriester des Ptah aus Mempi. Von niemandem.«
»Was können die Hohenpriester denn dagegen tun?«
Rechmire nahm einen Schluck Bier. »Nichts. Ihre Wut bezähmen. Der Lebendige Gott kann tun, was ihm beliebt.«
Mein Vater brachte die Diskussion in eine andere Richtung.
»Wirst du morgen eine Audienz beim Göttlichen haben, Rechmire?«
»Ja, Kamose, ich werde morgen Nachmittag die neuen Pläne für den Atum-Tempel zur Genehmigung vorlegen. Dann werde ich auch berichten, dass wir uns auf dreitausend ausgebildete Arbeiter für die Baustelle in Mempi geeinigt haben. Und ich werde Seine Majestät über die gute Zusammenarbeit zwischen den königlichen Baustellen in Pihuni und Mempi berichten.«
Mein Vater schien zufrieden zu sein.
»Wie ist die Zusammenarbeit mit Prinz Nefermaat?« fragte er, ohne Rechmire anzusehen.
»Der Wesir Beider Länder ist sehr interessiert daran, dass die Grundsteinlegung noch dieses Jahr erfolgt«, sagte Rechmire vorsichtig. »Der Göttliche setzt ihn wohl sehr unter Druck. Der König will den Tempel innerhalb von fünf Jahren fertig stellen. Ein ehrgeiziger Wunsch. Prinz Nefermaat unterstützt die Baustelle durch viele Maßnahmen, sei es durch gut ausgebildete Arbeiter oder eine großzügige Finanzierung der Baumaßnahmen. Er hat mir für die Reliefs an den Außenpylonen die besten Reliefkünstler des Oberen Landes versprochen, die zur Zeit auf der Baustelle des Hathor-Tempels in Yunet eingesetzt sind. Ich habe deren Arbeiten gesehen, die kurz vor dem Abschluss stehen. Ich befürchte keine Probleme.«
»Aperire wird morgen nach Iunu zurückkehren. Entschuldige, ich vergaß, dir das zu erzählen. Es war sehr spät gestern Abend. Er hat mich um seinen Abschied gebeten«, erzählte mir mein Vater eines Tages überraschend.
Ich war betroffen. Aperire war in den sechs Jahren unseres Aufenthaltes ein guter Freund geworden.
Am nächsten Morgen suchte ich Aperire in seinem Zelt. Ich trat ein, als er gerade gehen wollte.
»Nefrit! Zu dir wollte ich gerade, um mich zu verabschieden. Ich kehre zurück in den Tempel.«
»Mein Vater hat es mir gestern Abend erzählt. Warum willst du fortgehen?«
»Meine Zeit auf der Baustelle ist vorüber, Nefrit. Ich hatte mich für sieben Jahre verpflichtet, und ich werde jetzt als Gottesdiener in den Tempel nach Iunu zurückkehren.«
»Aber warum?«
»Der Tempel ist meine Heimat. Ich habe mich schon vor Jahren entschlossen, Priester zu werden.«
»Aber du warst sieben Jahre hier auf der Baustelle!«
»Das war ein Auftrag des Hohepriesters auf Befehl des Königs Huni. Ich habe durch mein Studium an der Tempelschule von Iunu Fähigkeiten und Kenntnisse erworben, die für die Baustelle nützlich waren. Und so beschloss Seine Heiligkeit, der Große Schauende des Re, mich hierher zu entsenden.«
»Was hast du studiert?«
»Tempelriten, Architektur und Imhoteps Regeln, nach denen die heiligen Bilder in Reliefs oder Fresken auf die Wände gemalt werden.«
»Wie ist es im Tempel?«
»Anders als hier«, sagte er leise.
Seine Nachdenklichkeit und seine Traurigkeit übersah ich, weil er sagte, was ich hören wollte: Im Tempel war es anders als hier. Seit Monaten war ich unzufrieden: Alles war besser, als weiter auf der Baustelle zu leben, auch wenn ich mit neun Jahren mehr oder weniger offiziell die Gehilfin meines Vaters, des Königlichen Bauleiters Kamose war.
»Was ist anders?«, fragte ich.
»Wir Priester widmen uns im Tempel dem Wohlergehen der Götter. Der König versorgt uns dafür mit Nahrung, Kleidung, Gold und einer schönen Villa in Iunu.«
»Was muss ich tun, um Priesterin zu werden?«
Aperire lachte. »Du musst in die Tempelschule aufgenommen werden. Die Schule lehrt dich, was du als Priesterin wissen musst.«
»Wie lange dauert die Ausbildung?«
»Sieben Jahre. Zuerst wirst du Lesen und Schreiben lernen, Mathematik und Geometrie, Astronomie und Mythologie. Nach einem Jahr wirst du Tempeldienerin sein, nach einem weiteren Jahr Priesterin Ersten Grades. Nach der Priesterweihe kannst du deine Ausbildung fortsetzen. Du kannst dich zum Erzieher ausbilden lassen oder zum Architekten. Ein anderer Studiengang macht dich zum Offizier des Heeres.«
»Ich will kein General werden!«, scherzte ich. »Aber Priesterin könnte ich doch werden. Wo ist die nächstgelegene Tempelschule?«
»In Abodu wird für den Osiris- und Isis-Kult ausgebildet, in Mempi kannst du Priesterin des Ptah werden.«
»Wann kann ich in die Tempelschule eintreten?«
»Wenn du zwölf Jahre alt bist.«
»Das sind ja noch zwei Jahre!«, sagte ich bestürzt.
»Hast du es so eilig, von hier wegzukommen?«
»Ich kann es kaum noch erwarten! Liegt Mempi weit entfernt von Iunu?«
»Es ist nicht weit. Wir könnten uns besuchen.«
Der Abschied von Aperire fiel mir schwer. Ich begleitete ihn zu seinem Schiff und sah zu, wie es ablegte. Ich lief neben der Barke her und winkte ihm zu. Er stand am Bug, sah zu mir herüber und winkte zurück. Doch als die Pyramide hinter einer Biegung des Hapi verschwunden war, richtete er seinen Blick nach vorn, der Zukunft entgegen. Und ich fragte mich: Wovor fürchtete er sich?
Zwei Tage später schrieb ich heimlich einen Brief an die Verwaltung des Ptah-Tempels in Mempi und bewarb mich um die Aufnahme an der Tempelschule.
Dann verschloss ich den Brief und drückte das Siegel des Königlichen Bauleiters in das weiche Honigwachs. Ich ging hinunter zum Hafen und suchte eine Barke, die stromabwärts segeln würde.
»Bitte