Franziska C. Dahmen

Taubenjahre


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»Der da kommt mit!«, und wies dabei mit seinem Zeigefinger auf Rafael. »Der ist gemeingefährlich!«

      »Franz, komm schon …!«, versuchte dieses Mal der andere Landjäger ihn zu beruhigen.

      »Hast du gesehen, was der Schweinehund gemacht hat? Tätlich angegriffen hat er mich!«, dabei ruhte sein Blick hasserfüllt auf Rafael.

      »Lass es gut sein Franz!«

      »Der kommt mit, habe ich gesagt!«

      Und so wurde Rafael an diesem Abend, begleitet von drei Landjägern, mit auf das nächste Polizeirevier geführt, wo man ihn fürs Erste in eine Zelle einsperrte, um ihn am nächsten Morgen verhören zu können.

      Der Wagen ruckelte und riss Rafael für einen kurzen Moment aus seinen düsteren Erinnerungen heraus, ehe er wieder in sie abtauchte.

      In ein kahles Zimmer hatten sie ihn geführt, wo alles seinen generalstabsmäßigen Verlauf nahm.

      Ein hageres Wieselgesicht von Gendarm beschäftigte sich zunächst mit den Eckdaten seines statistischen Daseins und trug sie gewissenhaft in ein Formular ein, das von einem Reichsadler gekrönt wurde. Anschließend folgte das obligatorische Abnehmen der Fingerabdrücke in zweifacher Ausführung. Schöne, kleine, fein gezeichnete Fingerlabyrinthe auf weißem Papier, die jedes für sich genommen, von einem ebenso feinen, kleinen, schwarzen Kästchen umrahmt wurden.

      Kaum hatte er auf dem Papier sein letztes Fingerlabyrinth hinterlassen, empfing es auch schon seine nächst höhere Weihe: Zunächst wurde ihm ein offizielles Aktenzeichen verliehen, welches auf einer wohlkalkulierten Mischung aus arabischen und römischen Zahlen basierte. Kaum vollbracht, folgte die amtliche Bestätigung einer amtlichen Bestätigung in Form von zwei zusätzlichen Stempeln. Fasziniert schaute Rafael zu, wie sich der rund gerahmte Reichsadler einerseits sowie der in Lettern gebannte Name des horizontal unterstrichenen zuständigen Polizeireviers andererseits zu seinen separiert kasernierten Fingerlabyrinthen gesellte. Aber erst mit der Unterschrift des Beamten wurde das Papier zu einem staatlich sanktionierten, papiernen Beleg seiner physischen Existenz. Akkurat in einer Akte abgeheftet, verschwand es in den tiefen Tiefen der bürokratischen Verwaltung, wo es seiner weiteren ominösen Bestimmung harrte.

      Rafael runzelte die Stirn. Auch in seinem Wagen befand sich ein solches Papier. Zumindest ein recht ähnliches. Zusammen mit seinem Ausweis hatte sein Vater es einen Tag später dem Wieselgesicht überreicht, sodass er das Revier hatte verlassen können. Auf jeden Fall nannte sich dieses Dokument Bescheinigung. Geschmückt wurde es – wie sollte es anders sein – von seinen Fingerlabyrinthen, die mittlerweile inflationär auftauchten. Zusammen mit einem Lichtbild sowie einer exakten Beschreibung besonderer Kennzeichen – er besaß einzig und allein am rechten Fuß einen kleinen Zeh, der sich dank eines Pferdetritts zu weit nach außen wölbte, was wiederum seinerzeit einen Amtsarzt dazu bewogen hatte, selbige Krümmung in den Status einer dokumentarischer Relevanz zu erheben – sollte so in Kombination mit seinem Personalausweis von jedem Außenstehenden jederzeit seine physische Existenz objektiv überprüft werden können.

      Rafael biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ein abstehender kleiner Zeh, der sich bei einer verbrieften Länge von 4,3 Zentimeter um 7,2 Grad zu weit nach außen wölbte sowie 10 Fingerlabyrinthe wurden als Garanten seiner Existenz angesehen – einfach lächerlich!

      Rafael schüttelte den Kopf. Den Zeh durfte er unreproduziert weiter mit sich herumtragen. Die 10 Fingerlabyrinthe wurden hingegen – sofern er richtig informiert war – in Zweitanfertigung an eine in München sitzende arme Kreatur geschickt, die förmlich unter einem Berg an Fingerabdrücken ertrinken musste. Armes Schwein!, dachte er. Aber vielleicht schwamm der arme Kerl sich frei, indem er Abdruck für Abdruck aus seiner schwarz umrandeten Rahmung herausschnitt und auf eine Tapete klebte. In München hatte er einmal in einem Geschäft so eine Tapete gesehen. Gut, die goldfarbenen Kringel auf blass-blauem Grund hatten etwas anders ausgesehen, aber eine gewisse Ähnlichkeit mit seinen Fingerlabyrinthen war durchaus vorhanden gewesen. Vielleicht hatte der Mann sich davon inspirieren lassen und verkaufte sie jetzt an irgendwelche höheren Beamten, die ihre Amtsstuben damit schmückten? Andererseits hatte er noch nie eine tapezierte Amtsstube zu Gesicht bekommen. Sie waren immer in diesem abscheulichen Amtsstubenkalkweiß gestrichen und dünsteten eine derart nüchterne Kälte aus, dass ihm allein bei dem Gedanken daran schauderte.

      Vielleicht durften Amtstuben gar nicht tapeziert werden? Die Gefahr, dass sich die Gedanken ihrer Bewohner in den schmalen Gängen winziger Fingerlabyrinthe verirrten, war mit Sicherheit viel zu groß! Nicht umsonst war jeder einzelne Abdruck in einem eigens für ihn vorgesehenem Kästchen kaserniert worden. Doch was zum Kuckuck stellten sie mit den ganzen Bögen an, die tagtäglich München erreichten?

      Ein heftiger Ruck brachte die Töpfe im Innern seines Wagens zum Scheppern und katapultierte ihn aus dem fernen München ins Hier und Jetzt zurück. Die gedankliche Schieflage erreichte durch Kosaks scheppernden Fehltritt wieder eine Waagerechte und ließ Rafael einen Blick auf seine Umgebung werfen.

      Ohne es zu bemerken, hatte er fast schon sein Ziel erreicht. Denn unmittelbar vor ihm breitete sich das Panorama einer im Tal gelegenen Kleinstadt aus, deren rote Satteldächer das karge Grün der in Reih und Glied stehenden Baumkronen auflockerten. Da, wo die Baumkronen am akkuratesten standen, musste es sich um die Hauptstraße handeln. Sie wurde ihrerseits in der Mitte vom Rathausplatz unterbrochen, dem Rafael ein eigenes, großflächig angeordnetes Karree aus Baumkronen zuordnen konnte. Verlies man diesen Platz und folgte dem weiteren Verlauf der Straße, so wurde man auf den architektonischen Höhepunkt des Ortes geführt: Der auf einer leichten Anhöhe stehenden Kirche, die mit ihrem Glockenturm alle anderen senkrechten Bestrebungen überragte.

      Halb geblendet von den sich in den Dachfenstern spiegelnden Sonnenstrahlen, betrachtete er sie: Schwarz und selbstbewusst stieß sie ihr spitzes Dach in den blauen Himmel. Zusammen mit dem Markt bildete sie das Zentrum kleinstädtischen Lebens. Wie sollte es auch anders sein? Alles hatte eben seine Ordnung!

      Ein verschmitztes Lächeln stahl sich in Rafaels Gesicht.

      Und was für eine Ordnung!, dachte er breit grinsend. Denn genau gegenüber der Kirche würde man auch hier ein Haus finden, in dem sich das Bordell befand, das obligatorisch zu einer Kleinstadt gehörte, wie Hammer und Amboss in eine Schmiede. So war es immer: Himmel und Hölle lagen nun einmal dicht nebeneinander. Dem einem stand der Himmel näher, dem anderen die Hölle, beziehungsweise der Genuss irdischer Güter. Daran konnten auch nichts die Kirchenglocken ändern, die laut und vernehmlich anfingen zu läuten.

      Wer jetzt noch schlafen will, hat schlechte Karten, dachte Rafael. – Wie heißt es so schön? Carpe diem, nutze den Tag! Die Frauen würden beim ersten Glockenschlag in die Kirche hasten, während die Männer ganz andere Pfade gewillt waren einzuschlagen. Gemütlich würden sie das nächstbeste Wirtshaus ansteuern, um hier ihren sonntäglichen Frühschoppen zu genießen, ehe es sie Punkt 12 Uhr zu Schweinebraten und Kartoffeln wieder heimwärts führte. Alles hatte eben seine Ordnung. Nur heute nicht! Denn heute war Markttag.

      Markttag

      Jedes Jahr wurde in der Stadt am ersten Maiwochenende ein großer Jahr- und Viehmarkt abgehalten, und wie jedes Jahr waren auch er und seine Familie dabei. Mit etwas Glück würde er seinen Vater auf dem außerhalb der Stadtmauern angelegten Viehmarkt treffen. Ganz im Gegensatz zu seinen Schwestern: Die zogen den im Stadtkern abgehaltenen Jahrmarkt vor, um dort den gutgläubigen Backfischen aus der Hand zu lesen.

      Ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Die Wahrsagerei der Frauen war ein einträgliches Geschäft, das übers Jahr gerechnet, oft mehr einbrachte als der gesamte Pferdehandel. Seine kleine Schwester Lara konnte ein Lied davon zu singen. Sie wusste ganz genau, wie man den Gadje3 das Geld aus der Tasche zog. Das richtige Minenspiel zur richtigen Zeit gepaart mit einigen gezielt eingesetzten Ahs und Ohs und schon füllten sich bei ihr die Taschen mit Geld. Mit Leichtigkeit würde sie eines schönen Tages eine ganze Familie ernähren können. Der Mann, der sie bekam, konnte stolz auf sie sein. Er würde sich wie fast alle Männer seiner Familie deshalb fast ausschließlich dem Pferdehandel widmen können.