Franziska C. Dahmen

Taubenjahre


Скачать книгу

vor allem, was dir nicht passt, die Augen! … Ganz besonders, wenn es diesen Kretin«, sie wies dabei auf Karl, »betrifft!«

      »Wie kannst du es wagen …?« Vor lauter Empörung schnappte ihre Mutter nach Luft, während sie ihrem Sohn mit einem frisch gestärkten, weißen Taschentuch übers Gesicht strich. Doch dieser wehrte sich gegen jegliche Form mütterlicher Fürsorge und würgte stattdessen erneut eine undefinierbar stinkende Masse hervor, die das ehedem blütenweiße Taschentuch innerhalb von Sekunden seiner Stärke und Reinheit beraubte.

      »Mein armer Karl!«, seufzte sie, nicht ohne ihrer Tochter abschließend einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

      Mit einem Harschen: »Was ist hier los?«, wurde den sich aufpeitschenden Unmutswogen ein Damm in Gestalt eines rundlichen Polizisten vorgeschoben. Er hatte sich seinen Weg durch die sich immer größer werdende Menschenmenge gebahnt und stand jetzt breitbeinig vor den Kontrahenten.

      »Der besoffene Kerl hier hat mir mein ganzes Geschäft ruiniert. Schauen sie sich das an …«, brauste der Händler los und fackelte damit den Streit wieder an.

      »Das ist nicht wahr! Wie können sie meinem Sohn dafür die Schuld geben?«, verteidigte Hannas Mutter ihren Sohn. »Der da ist an allem Schuld. Der hat meinen Sohn provoziert!«, und warf Rafael einen derart galligen Blick zu, dass dieser unbewusst einen Schritt zurückwich.

      »Ich weiß nur eines, ihr Sohn ist gegen meinen Stand geprallt und hat alles zerstört. Er muss bezahlen!«, beharrte der Händler auf seinem Recht.

      »Sie unverschämter Kerl! Sie stecken mit dem da unter einer Decke. Am Ende sind sie auch noch einer von diesem Zigeunerpack!«, fauchte sie ihn verächtlich an, ehe sie sich an die breitbeinig vor ihr stehende Personifikation von Recht und Ordnung wandte: »Herr Wachtmeister, heutzutage ist man seines Lebens nicht mehr sicher ...«, jammerte sie. »Man wird von diesem Pack verleumdet, bestohlen und betrogen. Dieses …«, verächtlich blähte sie die Backen, um zum Abschluss den zwar wortlosen, dafür aber um so beredeter wirkenden Rest auszublasen.

      »Jetzt wollen wir mal sachlich bleiben. Was genau ist hier passiert?«, hakte der Ordnungshüter in aller Ruhe nach.

      Ein: »Das habe ich ihnen doch schon gesagt …«, kreuzte sich mit einem: »Der da …«, und wurde im selben Augenblick von einem: »Stopp!«, geblockt.

      »Einer nach dem andern oder ich nehme sie alle mit aufs Revier!«, verwarnte sie der Ordnungshüter und vergrößerte dabei gleichzeitig seine Breitbeinigkeit um einige Zentimeter. »Sie, Bürschchen«, er wandte sich dabei mit finsterem Blick an Rafael, »stellen sich da hin.« Er zeigte demonstrativ auf eine Stelle neben Hanna, die sich von ihrer Familie abgewandt hatte. »Und jetzt zu ihnen beiden. Sie reden nur dann, wenn ich ihnen sage, dass sie etwas zu sagen haben!«

      »Also wirklich!«, empörte sich die so zurechtgewiesene Matrone.

      »Ist das klar?«, donnerte es im gleichen Augenblick auf sie herab.

      Seelisch getroffen, aber körperlich unversehrt, beschränkte sich Hannas Mutter auf ein wortloses Nicken, währenddessen sie sich innerlich auf einen erbitterten Kampf vorbereitete, der nur ein Ziel kannte: Die Unschuld ihres Sohnes mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

      »Und da ihnen«, fuhr derweil der Wachtmeister ungerührt fort und wies dabei auf den Händler, der ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken konnte, »das Ganze soviel Spaß bereitet, fangen wir direkt mit ihnen an!«

      »Also, der da«, der Händler wies auf Karl, der aus glasig wirkenden Augen dumpf vor sich hinstarrte, »hat sich auf den da«, er zeigte auf Rafael, »gestürzt. Warum weiß ich nicht. Der«, wieder ein Fingerzeig auf Rafael, »ist ausgewichen, sodass der da«, erneut ein Verweis auf Karl, »in meinen Stand geknallt ist. Das Ende sehen sie ja: Totalschaden, den der da«, erneut ein anklagender Fingerzeig auf Karl, »mir ersetzen muss!«

      »Das ist doch…«

      Ein warnender Blick und eine um zwei weitere Zentimeter verbreiterte Standbeinigkeit des Polizisten ließen Karls Mutter verstummen.

      »Geben sie mir ihre Personalien … Name?«

      »Alfons Jager. Imker.«

      »Und sie?«

      »Helene Schubek, geborene Fluffen. Mein seliger Mann war Hauptmann Heinrich Schubek. Er ist 1916 bei Verdun …«

      »Mutter!«, stöhnte Hanna auf, während Rafael, der eigentlich unbemerkt in der Menge hatte untertauchen wollen, Hannas unvermutete Nähe genoss.

      »Du kannst stolz sein auf deinen Vater.«, fuhr diese entrüstet ihre Tochter an. »Schließlich hat er sein Leben für unser Vaterland gelassen. Das muss einmal gesagt werden! Gott hab ihn selig. Ich brauch mich seiner nicht zu schämen. Schließlich …«

      Mit: »Name des Sohnes?«, wurde sie rigoros von der festen Stimme des öffentlichen Rechts übertönt.

      »… also wirklich!«, empörte sich Hannas Mutter. »Ich bin immerhin die Ehefrau eines Hauptmanns und …«

      »Name des Sohnes?«

      Statt einer Antwort erntete er nur ein missbilligendes Schnauben.

      »Name des Sohnes?«

      »Mein Bruder heißt Karl Schubek.«, sprang Hanna für ihre Mutter ein, die ihr einen verächtlichen Blick zuwarf.

      »Mhm …« Zum ersten Mal verringerte sich die Breitbeinigkeit des Polizisten um einen Zentimeter und wurde gegen ein tiefes Stirnrunzeln ausgetauscht. »Der Name kommt mir bekannt vor.« Die Augen des Polizisten verengten sich zu einem waagerechten Schlitz und fixierten Karl, der seinerseits vergeblich versuchte, sich in die Senkrechte zu begeben.

      Mit einem: »Natürlich ... Dich kenne ich!«, brach sich die polizeiliche Erkenntnis bahn. »Du bist einer von den Halbstarken, die entweder im Grünen Bock oder im Colette rumlungern und für nichts anderes als Ärger sorgen … Karl Schubek und Hans Widerring … Dein Gesicht kam mir doch gleich so bekannt vor, Bürschchen!«

      »Mein Sohn geht nicht ins … ich meine …, er verkehrt nicht …, er betritt nicht so ein Haus!«

      »Tja«, meinte der Ordnungshüter trocken, »vielleicht sollten sie mal ein wachsames Auge auf ihren Filius richten. Die Tatsachen sprechen für sich. Wenn ich mich recht erinnere, ist ihr feiner Sprössling letzte Woche von einem Kollegen im Colette aufgegriffen und wegen Randalierens im betrunkenen Zustand verwarnt worden. Bei mir kommt er nicht so leicht davon. – Ab mit dir auf die Wache …«

      »Ja, und der da?«, japste Karls Mutter empört auf und zeigte auf Rafael, der einzig und allein Augen für Hanna hatte.

      Die Breitbeinigkeit des Wachmeisters verringerte sich für einen kurzen Augenblick, ehe sie wieder ihre alte Ausgangsstellung einnahm. »Ich habe nichts gegen …«, hier stockte er einen kurzen Augenblick und runzelte die Stirn, ehe er weiterfuhr, »diesen Herrn vorzubringen. Von daher …«

      »Der ist ein Zigeuner!«

      »Ich wüsste nicht, dass das in unserem Staat etwas Unrechtes wäre, gnädige Frau.«

      »Sie wollen allen Ernstes den Sohn eines Hauptmanns verhaften und den da …, diesen Vagabunden, diesen Herumtreiber, der alles klaut, was nicht niet- und nagelfest ist, frei herumlaufen lassen? … Schauen sie nur, wie der Kerl alleine schon meine Tochter belästigt! – Hanna!«

      Aber ihre Tochter reagierte nicht. Im Gegenteil: In aller Ruhe und ohne das geringste Anzeichen von Ekel oder Abscheu erkennen zu lassen, unterhielt sie sich mit diesem Kretin. Unfassbar! – Helene Schubek, verstand die Welt nicht mehr.

      »Nun gut!«, die Breitbeinigkeit des Polizisten verbreiterte sich erneut, während er Rafael näher in Augenschein nahm. »Ich werde seine Personalien aufnehmen und mir seine Aufenthaltsbescheinigungen anschauen. Man kann ja nie wissen …«

      Hannas Mutter nickte erstmals zustimmend.

      Indessen hatte Rafael tatsächlich recht wenig, von dem, was um ihn herum geschah,