Franziska C. Dahmen

Taubenjahre


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den Kopf und geriet ins Schwärmen: Da ist Musik …, da ist Harmonie …, da ist Grazie drin! Wie sie schwebt, wie sie tanzt … Oh, dio! Ein Gang zum Niederknien. Das Mädchen hat Musik im Blut. Diese Harmonie, diese Lebensfreude … Selbst mit dem schweren stereotypen Grundschlag der Matrone, der in einem immer gleichen, stapfendem Tam, Tam, Tam bestand, schien sie zu spielen, indem sie ihn in jeder dritten Stufe aufnahm, nur um ihn direkt wieder aufzubrechen und in ein beschwingtes Tamtam umzuwandeln. Das Mädchen war wirklich fleischgewordene Musik, war Rhythmus pur. Es war einfach unbeschreiblich!

      Ungewollt summte er mit. Niemals in seinem Leben hätte er es für Möglich gehalten, dass eine Gadje sich derart bewegen konnte. Doch halt! Ihr Gang hatte sich verändert. Etwas Zögerndes, Schweres, Erdiges hatte sich eingeschlichen und sie aus dem beschwingten Takt ihrer leichtfüßigen Schritte geraten lassen. Immer schwerer und langsamer war ihr Gang geworden, bis sie endgültig auf einer der noch wenigen, ihr verbliebenen Stufen stehen blieb.

      Rafael runzelte die Stirn, als er ihrem Blick folgte, der auf einem schlanken, jungen Mann verharrte.

      Wie ein im Wind schwankender Rohrkolben hatte er sich vor den beiden Frauen aufgebaut und fuchtelte mit den Armen, um einigermaßen aufrecht stehenzubleiben.

      Besoffen! Der Kerl ist schlicht und einfach besoffen, stellte Rafael nicht ohne ein gewisses Maß an Schadenfreude fest, während er neugierig das weitere Geschehen beobachtete.

      Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte das Gesicht der sauertöpfischen Matrone erst einen verschämten, dann einen trotzigen Ausdruck angenommen, ehe es das Leiden schlechthin manifestierte. Ein sich unmittelbar anschließender Wortschwall, der zielgerichtet auf den jungen Mann niederprasselte, sollte ihn wohl zur Räson bringen, aber die von ihr erhoffte Wirkung stellte sich nicht ein, sodass sie letztlich in einer gekrümmten Haltung erstarrte.

      Der junge Mann hingegen, der die Worte der Matrone mit einer harschen Handbewegung abgewehrt hatte, wandte sich dem Mädchen zu, welches den Schwankenden mit bleicher, ausdrucksloser Miene anschaute. – Die Gerade pariert die Schräge, schoss es Rafael durch den Kopf. Und was für eine Gerade! Bewundernd verfolgte er, wie das Mädchen der Hitze des jungen Mannes eine eisige Kälte entgegensetzte, die ohne ein einziges Wort oder eine überflüssige Geste auskam.

      Gleichwohl so ganz ans Aufgeben dachte das schwankende Schilfrohr auf zwei Beinen noch nicht. Je abweisender das Mädchen sich benahm, desto hitziger gebärdete sich der junge Mann, bis er schließlich an einen Punkt gelangte, an dem er sein Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinfiel.

      Rafael lachte laut auf. Die Schräge war abrupt in die Horizontale geraten und bildete mit der Geraden einen perfekten Winkel von 180 °, während etwas abseits eine gramgebeugte Kurve verloren im Raum stand. Doch sowohl Krümmung, Gerade als auch Horizontale gerieten jetzt in Bewegung: Noch während die Matrone dem jungen Mann wieder auf die Beine verhelfen konnte, umrundete das Mädchen die beiden ineinander verhakten Körper und schritt hoch erhobenen Hauptes durch die kleine Menschentraube, die sich in einigem Abstand um das Trio gebildet hatte.

      Schade!, schoss es Rafael mit leisem Bedauern durch den Kopf. Aus dem vivace der tänzelnden Schritte war ein grave geworden. Und das nur, weil so ein besoffenes Schwein wie das da hier auftauchen musste.

      »Hanna! … Nun … sei doch nicht so! … Komm schon…, du … du musst mir helfen …«. Hilfe suchend streckte der junge Mann die Hände nach dem Mädchen aus und versuchte ihr mehr schlecht als recht auf den Fuß zu folgen.

      Gleichzeitig schickte ihm die sich wieder zur Gerade mutierende Matrone lauthals ein: »Karl, so beruhige dich doch mein Junge! … Oh, mein Gott …, oh, Gott! Karl, lass deine Schwester …«, hinterher.

      Aha, der besoffene Kerl hieß also Karl und war ihr Bruder, während es sich bei der entkrümmten Matrone um ihre Mutter handeln musste.

      Rafael schüttelte den Kopf. Ein erwachsener Rom würde es niemals wagen, sich und seine Familie in der Öffentlichkeit derart bloßzustellen. Was dachte sich der junge Mann nur dabei?

      Angewidert spuckte er auf den Boden. Noch während er sich von der ganzen Szenerie abwenden wollte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie dieser Grobian seine Schwester unsanft zu packen bekam und ihr dabei einen derart heftigen Ruck versetzte, dass sie zu stürzen drohte. Doch alles ging gut. Noch bevor er ihr zu Hilfe eilen konnte, gelang es dem Mädchen sich im allerletzten Moment zu fangen.

      »He, du …! Lass das Mädchen endlich in Ruhe!«, fuhr Rafael unwillkürlich den jungen Mann an.

      »Misch … dich da … nicht ein!«, knurrte dieser zurück. Zugleich quetschte er Hannas Arm dabei dermaßen stark, dass diese vor Schmerz laut aufschrie.

      Das reichte! Rafael bewegte sich drohend auf den jungen Mann zu. »Und ich hab dir gesagt, dass du das Mädchen loslassen sollst!«

      »Und ich … hab dir gesagt, … dass dich das nichts angeht, … du Drecksfot!« Im nächsten Augenblick versetzte er Hanna einen Stoß, sodass sie unter einem lautem Aufschrei auf die Knie stürzte.

      »Karl! … Mein Gott, Karl! … Junge!… deine Schwester, du kannst doch nicht …« Hilflos blickte die Matrone abwechselnd auf Tochter und Sohn. Noch während Erstere versuchte mit vor Scham gerötetem Gesicht und blutenden Knien wieder auf die Beine zu kommen, stürzte Karl sich schwankend auf Rafael, nicht ohne ein: »Dir werde ich’s zeigen!«, zu brüllen.

      Doch Rafael gelang es, Karls Angriff geschickt auszuweichen, sodass dieser torkelnd an ihm vorbeistürmte und stattdessen in den Stand eines Imkers krachte, wo er begraben von einer wahren Flut herabstürzender Honiggläser auf dem Boden liegenblieb.

      »Mein Junge! Mein armer Junge!«, hörte Rafael Karls Mutter in einer Mischung aus blankem Entsetzen und purer Besorgnis kreischen, während sie ihm hilflos eine klebrige Strähne nach der anderen aus der Stirn zu streichen versuchte.

      »Das wirst du mir alles bezahlen!«, wütete derweil der aufgebrachte Imker in Karls Richtung.

      »Nichts da! Der da…! Der da ist an allem Schuld!«, verteidigte Karls Mutter entschlossen ihren Sohn und schoss pfeilschnell einen hasserfüllten Blick auf Rafael, dem sich ein ebenso schnell auf ihn gerichteter Zeigefinger seitens der Matrone anschloss. »Der hat meinen Sohn angegriffen. Ich habe es ganz genau mit meinen eigenen Augen gesehen!«

      Einzig der Imker ließ sich nicht beirren. Renitent, wie er in den Augen der Matrone war, stieß er ein unwilliges Schnauben aus und ließ Karl nicht für einen einzigen Augenblick aus den Augen. »Ich weiß ganz genau, wer mir die Gläser zertrümmert hat! Und das ist das Bürschchen hier gewesen! Und so wahr ich Alfons Jager heiße, wirst du mir dafür bezahlen!«

      »Der ist es gewesen! Der da!«, beharrte Karls Mutter steif und fest.

      »Ge … nau!«, unterstützte Karl lallend seine Mutter und fügte der süßlich duftenden Honiglache den säuerlich riechenden Inhalt seines Magens hinzu, sodass der Imker angewidert Abstand von ihm nahm.

      »Das ist nicht wahr!«, mischte sich Hanna dieses Mal ein. »Du weißt genau, dass es Karl war! … Wie immer!«, fügte sie leise in einem Nachsatz hinzu.

      »Du fällst deinem eigenen Bruder in den Rücken?! Schämst du dich den überhaupt nicht?«, kreischte die von blinder Mutterliebe beseelte Matrone ihre Tochter an. »Der da ist nur Abschaum …, der da ist ein erbärmlicher Zigeuner!«, und wies dabei verächtlich mit ihrem Kinn in Rafaels Richtung.

      Rafael wohnte indessen dem Debakel mit versteinerter Mine bei. Es war stets das gleiche Spiel: Egal, wer von den Gadje der eigentliche Übeltäter auch war, am Ende schob man es den Zigeunern in die Schuhe. So war es immer! Schon wollte er sich angewidert umdrehen und seiner Wege gehen, als ihn Hannas Blick traf und seine steinerne Fassade Schlag auf Fall, wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte.

      Blau – grau – grün. Die Farbe ihrer Augen war blau – grau – grün! Wie ein tosender Wildbach, der alles mit sich reißt. – Oh, dio! Ich bin verloren! Rettungslos verloren!, schoss es ihm durch den Kopf.

      »… du Heuchlerin!«, hörte er