Petra Jaenicke

ENGELSCHAUER


Скачать книгу

doch kolossal verstört! Mich vorsichtig umschauend entdecke ich keinen Schimmer mehr von etwas Außergewöhnlichem. Als nächstes begutachte ich verunsichert meinen Zustand. Bewege vorsichtig die Beine, betrachte genau, von allen Seiten, meine Hände und Arme, sehe auf die Uhr und checke den Nachrichteneingang auf meinem Smartphone. Alles scheint normal. Weder ist etwas erkennbar verändert, noch fühle ich mich erleuchtet! War das ein Wunder, ein Traum oder die Folge meiner eigenen Verrücktheit? Engel, gibt’s die überhaupt? Wieso kannte er meinen Namen? Und was soll dieses bescheuerte „Yes, you can“ bedeuten? Die letzten Minuten waren mehr als grotesk. Restlos überfordert lehne ich mich an die nächste Hauswand und atme tief durch.

      Was bleibt sind Fragen über Fragen, und ich könnte sicherlich viele Hypothesen dazu aufstellen, nur, ich bin und bleibe absolut ratlos. Auch jetzt noch, Stunden nach dieser Begegnung fühle ich mich wie aus einem wirren Traum erwacht, dabei habe ich noch kein Auge zugetan. Die Nacht ist bisher ein einziger Horrortrip. Was für eine Achterbahn! Ganz klar, meine Nerven liegen blank. Ich ermahne mich: „Reiß dich zusammen! Kann doch alles nicht so schlimm sein. Einfach still liegen bleiben … dem eigenen Atemrhythmus lauschen … die Konzentration nach innen richten … hinein spüren … tief ein- und ausatmen.“ Alles sinnlos! Der Versuch, das Geschehene zu negieren, wenigstens für ein paar Stunden Schlaf, misslingt mir vollkommen. Ich, am Rand der Welt, ein Engel hat mir quasi seine Hand entgegen getreckt. Egal welche Gründe er dafür hatte, meine Nerven sind eindeutig überstrapaziert.

      Schon wieder hochgeschreckt, mittlerweile auf der Bettkante sitzend, schreibe ich zu meiner Beruhigung „Don`t panic“ auf ein Blatt Papier, das ich an der Wand gegenüber, direkt in meinem Blickfeld aufhänge, damit ich es bei Bedarf sofort sehen kann. Und genau wie Arthur Dent in „Per Anhalter durch die Galaxis“ schreibe ich „Don´t panic“ auch noch dick und fett vorn auf meinen Italien-Reiseführer.

      5. April, Parma, Altstadt

      Nach der gestrigen Begebenheit und der durchwachten Nacht bin ich wie in Trance. Mich selbst motivierend mit einem: „Los, die Stadt inspizieren!“ schleppe ich mich und meinen müden Körper, gehorsam und diszipliniert, in Richtung centro storico. Schließlich gönne ich mir diese Reise, weil ich dringend zu mir kommen muss und Abstand von meinem Liebsten brauche. Kein Totalversagen, nein, nur kleinliche Streitereien, Ärgernisse und zunehmende Langeweile. Ein ganzer Sack voll Anzeichen eines schleichenden Beziehungs-Burnouts, der wohl eine Pause notwendig macht. Mein Liebster und ich haben uns irgendwie aus den Augen verloren, unsere Gefühle füreinander sind auf Tauchstation gegangen, sie treiben unter einer trüben Oberfläche langsam auseinander und es fällt mir immer schwerer, noch an unsere Liebe zu glauben. Dazu ich, gefangen gehalten von zu vielen Verpflichtungen, Stress und Zeitnot.

      Die Gedanken an zu Hause stülpen sich mir wie eine Käseglocke über den Kopf. Zum Glück holt mich schon bald ein sensationell guter Duft aus meinem Wolkenkuckucksheim. Ich stehe vor einer typisch italienischen Trattoria. Dem Wohlgeruch folgend, setzte ich mich und bestelle in einem Zustand der Entrückung. Der prosciutto di Parma ist köstlich, hauchdünn und morbide schmelzend auf der Zunge, der erste Schluck Franchiacorta weckt meine Lebensgeister und die frische Pasta con asparagi e funghi wirkt auf meine Seele wie Baldrian. Alles wird gut.

      Erheblich entstresster streife ich bald weiter durch die Straßen der Altstadt. Erst Richtung San Giovanni und dann zurück zum Fluss. Dort angekommen bleibe ich auf der Brücke stehen, Schlammgeruch steigt zu mir hoch. Ich mag die Schäbigkeit und den Geruch dieser alten Viertel, denn sie zeugen von Durchhaltevermögen und der Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu reduzieren, kein Prunk, kein Überfluss, aber jede Menge Leben.

      Langsam spaziere ich weiter. Dabei immer wieder heimlich und überaus vorsichtig den Himmel beobachtend, um, halb ängstlich, halb sehnsuchtsvoll, Ausschau nach dem geflügelten Wesen zu halten, das gestern mit mir zwischen den Welten gependelt ist.

      6. April, Brescello, Dorfplatz

      Brescello, einst Filmkulisse, jetzt unscheinbares Dörfchen am Po. Vieles hier erinnert immer noch an den kommunistischen Bürgermeister Peppone und den kämpferischen Dorfpfarrer Don Camillo. Zwei, die es fertig gebracht haben, die Tragödien dieser Welt zu einem Lustspiel zu machen.

      Am Dorfplatz steht die kleine Kirche, in der über dem Seitenaltar noch das Filmkreuz hängt, von dem Jesus mit Don Camillo gesprochen hat. Ich kann einfach nicht hinsehen. Als Artefakt würde es mich vielleicht schon interessieren, ich will nur vorsichtshalber nichts herausfordern, denn seit gestern fürchte ich überraschende spirituelle Erlebnisse. Ja, ich bin diesbezüglich heute etwas ängstlich, das muss man ganz klar so sagen.

      Don Camillo musste hier über seinem himmlischen Mysterium brüten, und ich martere meinen Kopf mit der Suche nach einer Erklärung dafür, was es mit diesem„Yes, you can“ auf sich haben könnte. Der konkrete Mitteilungsgehalt dieser Aussage ist, gegenüber der überwältigenden Begegnung mit der überirdischen Daseinsform ihres Überbringers, enttäuschend banal. Seit wann sprechen Engel Englisch und benutzen Werbesprüche, die ihr Verfallsdatum längst überschritten haben? Selbstbewusst muss ich wohl mal klarstellen: Ich kann wenn ich will, und bin, normalerweise, weder ängstlich noch schüchtern, gebe nur mein eigenes Geld aus und fühle mich auch alleine komplett. Das ist mein Ernst, also … was sollte dieses „Yes, you can“? Leider verstehe ich die Welt mal wieder nicht. Und noch immer wechseln sich tiefe Verunsicherung und euphorische Begeisterung über die Begegnung mit dem Engel im Sekundenrhythmus ab. Sicher ist nur, ich bin seit gestern sehr aufgewühlt. Man kann sich halt vieles nicht vorstellen, bis es mit einem geschieht, das macht es leider weder besser noch leichter verdaulich.

      Gegen Abend „Passeggiata“. Eine typisch italienische Freizeitbeschäftigung zum Sehen und Gesehen werden. In eine Bar einkehrend, gönne ich mir, zum Glück gerade mal relativ entspannt, einen Prosecco, dazu ein paar von den servierten Häppchen: Käse, Mortadella und eine Handvoll Nüsse. Trivial aber köstlich, ach … ich liebe Italien!

      Weiterschlendernd erregt die Auslage vor einem Antiquariat meine Aufmerksamkeit. Zwischen all den Büchern fällt mein Blick direkt auf einen Einband mit betenden Händen, daneben einer mit Engeln. Begeistert greife ich zu, ist das ein Zeichen? Will dieses Buch zu mir? Bietet es Erklärungen oder Antworten auf das mir begegnete Mysterium?

      Tja, auch wenn es so sein sollte, ich bin mit komplexen Inhalten in italienischer Sprache leider total überfordert. Schade eigentlich. Aber Suchen macht ja bekanntlich anfällig für Hoffnung. Kein Wunder, denn es gibt wohl kaum einen Tag in meinem Leben, der gestern gleicht und an dem ich auch nur annähernd so verstört war. Zum Glück bin ich als reifere Frau halbwegs geübt darin, souverän mit allem umzugehen. Sogar mit Engeln? Ich hoffe doch.

      7. April, Modena

      Neuer Tag, neues Glück. Unter Laubengängen und über das Kieselsteinpflaster aus den nahen Flüssen, schlendere ich durch die Stadt. Endlich vor mir die weiße Marmorfassade von San Geminiano. Vor dem Hauptportal des Doms bleibe ich stehen, den typischen Hauch von Weihrauch und kühlem Stein tief einatmend. Drinnen spüre ich, nirgends ist man schneller mit den spirituellen Energien von Menschen aus vielen Jahrhunderten verbunden als an einem solchen Ort.

      Im Innenraum sparsames Dämmerlicht, es herrscht Fülle und eine weihevolle Erregung. Durch ein Seil werden Touristen und Gläubige voneinander getrennt. Ich versuche mich möglichst unauffällig zu verhalten, sehe mich vorsichtig um, schleiche mich bei den Andächtigen ein. Die tragende Stimme über den Köpfen der hier versammelten Menge, ist vertraut und doch fremdartig. Und wie schon so oft frage ich mich: „Dieser Hüter des Glaubens, und all die anderen, warum sind sie hier? Ist das ein Beweis für den Einfluss der Jahrhunderte andauernden klischeebildenden kirchlichen Macht auf die Wirklichkeit? Ist der Gang zur Messe ein fraglos akzeptiertes Ritual oder ein echtes Bedürfnis?“ Mein persönlicher Spagat zwischen Glauben und Unglauben scheint gegenwärtig für mich akzeptabel und gut lebbar - ich übe mich noch darin, die für mich richtige Haltung zu finden.

      „Kannst