Petra Jaenicke

ENGELSCHAUER


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Ich muss mich ducken, weil etwas mit mächtigem Flügelschlag über mich hinweggeht. Mit klopfendem Herzen warte ich, was weiter geschieht. Da … nochmal und nochmal, immer wieder muss ich den Kopf einziehen, um dem über mich hinwegschießenden Engel auszuweichen. Ich bin irritiert über diese offensichtlichen Angriffe. Was soll das!

      Schutz suchen? Flüchten? Bleiben, beschließe ich, einfach nur reagieren, stehen, ausweichen. Dem folgen, was gerade notwendig scheint, auch wenn das weder rational erklärbar ist noch irgendetwas einbringt. „Gut so, Elisa“, höre ich im Vorbeirauschen und kann jetzt auch deutlich spüren, wie sich das anfühlt. Und schon wieder schießt etwas schemenhaft auf mich zu und um mich herum. Ich lasse mich auf das Spiel mit dem Engel ein und ergebe mich einem fraglosen Reagieren. Der Engel und ich bewegen uns wie in einem harmonischen Tanz. Inzwischen hat ein leichtes Schwingen meinen Körper und ein spürbarer Friede meinen Geist erfasst.

      Ganz und gar im Einklang mit dem Jetzt, mit mir selbst und mit meiner Umgebung. Ich bin tief beeindruckt.

      Viele Menschen um mich, volle Bänke links und rechts. Und doch, offensichtlich hat keiner etwas bemerkt. Nur die Löwen, die die Säulen stützen, schauen neugierig in meine Richtung. Seit Neustem wundert mich gar nichts mehr.

      Dieses Gefühl von schwingender Leichtigkeit hält auch nach dem Verlassen des Doms an. Noch vor mich hin grinsend überquere ich die Piazza Grande, gehe die Via Emilia entlang. In das nächstgelegene Café einkehrend beschließe ich, das Nachdenken über die erneut überraschend wundersamen Ereignisse auf später zu verschieben, wenn ich mich nicht mehr ganz so schwebend fühle.

      Vor allem muss ich meine Gefühle erst mal gründlich vom Alltagsfrust reinwaschen. Das ist schwierig genug, strengt ganz schön an. Allein der Gedanke an meinen Liebsten schnürt mir im Moment die Luft ab. Fühlt sich so Liebe an, wenn sie vergeht?

      Als Ablenkungsmanöver ein Interview mit Karl L. lesend, frage ich mich, was für ein Mensch er ist. Auf jeden Fall sensibel für den eigenen Irrsinn und strebsam bis zur Selbstaufgabe, geißelt er sich und seine Umwelt mit Egozentrik. Leistet es sich, „Karl der Große“ mit dem strafenden Blick zu sein, der den Menschen nicht vergeben kann, aber seine Katze abgöttisch liebt. Trotzdem bezaubert er uns, wird von uns allen bewundert. Auch in mir rührt er etwas an, deshalb wünsche ich ihm einen liebevollen Schutzengel. Nicht eines dieser wunderlichen, geflügelten Wesen, die mich seit kurzem in diese seltsamen Szenarien von Irritation bringen. Warum begegnet mir eigentlich kein Schutzengel? Anscheinend gibt es sogar im Himmel so etwas wie Artenvielfallt. Nur, welchen Job machen die Engel, die mich zurzeit heimsuchen?

      08. April, Bologna

      Nach einer weiteren unruhigen Nacht, einem Morgen mit viel Cappuccino und dem leckeren Mittagessen in einem kleinen gemütlichen Lokal trete ich einen Verdauungsspaziergang an. Mein Shirt ist noch bekleckert mit den Spritzern eines köstlichen Tomatensugo, herabgetropft von der übervollen Gabel mit den Fettuccini alla romana.

      Klein und verloren stehe ich bald im Innern der Basilika di San Petronio, der fünftgrößten Kirche der Welt. Sofort verliere ich mich in der Unendlichkeit dieses wunderschönen Raums. In seinem Innern erfüllt ein unergründlicher Zauber jeden Millimeter, goldenes Licht zeichnet Muster auf den Steinboden. Mein Hiersein erzeugt ein wohliges Gefühl des Aufgehobenseins. Kirchen gehören einfach zu den energetisch herrlichsten Orten der Welt.

      Die verschiedenen Energien in der Basilica wirken auf mich wie Pole. Zwischen ihnen verläuft eine Spannung, zum Greifen stark. Ich schleiche darum herum, bewege mich entlang der Kraftlinien und lasse mich von ihnen durchströmen.

      Plötzlich bin ich völlig desorientiert. Mein Herz setzt ängstlich einen Schlag aus. Die Energie gleicht durchscheinenden Flügeln, ich steige mit ihnen auf und, gefühlt schon auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde, habe ich den Eindruck, irgendeine wahnwitzige Aufgabe lösen zu müssen. „Oh nein, kommt überhaupt nicht in Frage! Ich lasse mich nicht so einfach überrumpeln“. Diesen Gedanken weiter durchsetzend, atme ich möglichst ruhig tief ein-aus-ein-aus, in den Bauch hinein, und versuche mich auf die Glocken zu konzentrieren, deren Ton gerade noch rechtzeitig zu mir vordringt. Nochmal … ein- und ausatmen … endlich schafft es mein innerer Widerstand, den energetischen Sog zu besiegen. Wieder sicher auf den Füßen stehend, flüchte ich erleichtert in die Schatten der seitlichen Säulen.

      Auch hier … merkwürdig, irgendwie klemmt die Zeit und direkt neben mir schwebt schon wieder so etwas wie ein glitzernder Lichtschleier vorbei, anmutig und unfassbar zart. Gebannt schaue ich hinterher. Einer von ihnen? Wer oder was es auch immer war, es ist verschwunden. Rätselhaft, und doch habe ich keine Zweifel. Nur Geistwesen gleiten so leicht über den Boden, denn sie brauchen nie zu laufen bei ihren Jobs. Aber kommen Engel nicht immer mit einem Auftrag und vergehen mit seiner Erfüllung? Einer von ihnen ist erschienen und wieder verschwunden, einfach so, völlig unspektakulär. Habe ich etwas Wichtiges versäumt oder falsch gemacht? Quatsch, wie sollte ich mit solchen Erlebnissen richtig umgehen können? Das alles passt gut hierher in dieses heilige Gemäuer, aber nicht in meine Welt.

      Ich stehe ratlos inmitten dieses, eine morbide Würde ausstrahlenden, kirchlichen Raums. Inzwischen breitet sich spürbar Wärme in mir aus. Tief drinnen schmilzt offensichtlich etwas dahin, stelle ich erstaunt fest. „Können spirituelle Begegnungen auch dann stattfinden, wenn man ein mit Tomatensauce bekleckertes T-Shirt anhat und insgesamt äußerlich wie innerlich nicht im Entferntesten darauf vorbereitet ist?“, frage ich mich leise.

      Diese Verwirrung auslösenden, überraschenden Begegnungen ergeben doch keinen Sinn. Wahrscheinlich bilde ich mir das alles bloß ein. Mir fällt nichts Besseres ein, als mich erst mal auf eine Bank zu setzen, um dort festzustellen: Ich bin eindeutig völlig übernächtigt.

      Ich sitze auf der Terrasse eines gemütlichen Lokals. Um mich typisch italienisches Ambiente. Eine angenehm laue Nacht, am Himmel tausend Sterne, der Frühsommer liegt schon deutlich spürbar in der Luft. Ich könnte das Glas mit dem köstlichen Morrelino und die Fazzoletti all abruzzese jetzt vollkommen genießen, wenn sie nicht von einer süßen, vor Selbstbewusstsein sprühenden jugendlichen Bedienung serviert worden wären, der alle männlichen Gäste hinterherschauen. Die Gefühle, die solche oder ähnliche Situationen seit Neustem bei mir auslösen, können mich richtig fertig machen. Wie kann man als Frau ohne den Verlust von Selbstwertgefühl altern? Jetzt, wo es mich selbst betrifft, finde ich es schwieriger als erwartet, und jeder weitere Geburtstag provoziert einen härteren Kampf mit der aufkommenden Verunsicherung. Ich bin schon langsam in einem Alter, in dem man sich als Frau zunehmend als Defizitmodell wahrnehmen könnte … nicht mehr ganz jung, nicht mehr ganz schlank und faltenfrei, nicht mehr rundum fit. Meinem gealterten Selbst im Spiegel gegenüberzustehen, ist nicht immer ganz einfach. Und ich erwische mich doch tatsächlich schonmal dabei, wie ich mich aus der Perspektive des allgegenwärtigen, sexistischen Schönheitsterrors begutachte, obwohl ich immer eine emanzipierte Frau war. Befremdlich, oder? Am meisten trifft mich aber die Erkenntnis, dass ich mich unaufhaltsam meinem Ende nähere. Dabei gibt mir mein Liebster das Gefühl, zu mir zu stehen, auch wenn ich mal übellaunig bin oder irgendwann tatsächlich uralt sein werde. Da bin ich mir ganz sicher. Obwohl ich im Moment gar nicht gut auf ihn zu sprechen bin, kommt doch leise Sehnsucht nach ihm auf. Bringe ich es heute fertig mit ihm zu telefonieren? Nur die Kühle des Smartphones zwischen uns, mit dessen Hilfe die vielen hundert Kilometer schnell mal überwunden sind. Noch hatte ich nicht das Bedürfnis oder habe ernsthaft darüber nachgedacht. Heute erwäge ich es zumindest.

      9. April, Bologna

      Kein Anruf gestern Abend, weder von mir noch von ihm. Klar, die Akkus unserer Beziehung sind leer. Ich muss geduldig sein, nichts erwarten. Schließlich bin ich, statt unsere Krise durchzustehen, nach Italien abgehauen. Weshalb? Manchmal hilft es eben, auf Distanz zu gehen, auch wenn man sich nach Nähe sehnt. Mich nerven einfach sein introvertiertes Gerede, sein Schnarchen, seine Angewohnheit, schnell im Stehen etwas zu essen und vieles mehr. Ihm geht es mit mir irgendwie genauso, glaube ich jedenfalls. Unsere Liebe