Petra Jaenicke

ENGELSCHAUER


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Nähe und Hingabe ist immer noch abrufbar. Das macht mir Mut, denn ich mag ihn, trotz alledem, da bin ich mir relativ sicher, und ich will ihn zurück, nur nicht gleich. Ich verzichte jetzt lieber darauf, die Gedanken an meinen Liebsten weiterzuspinnen.

      Zur Ablenkung gehe ich in die Pinacoteca Nazionale. Bewege mich langsam von Bild zu Bild, suche nach einem Werk, das mich berührt. Endlich … eine großartige „Madonna con il Bambino“. Ein atmosphärisch dichtes Bild mit leuchtenden Farben und einer ausgeglichenen Komposition. Es zeigt M. und ihren kleinen Sohn in der typischen Landschaft des Veneto. Ich schließe die Augen und fühle mich wie beim Wiedersehen mit alten Freunden. Ein Moment des Glücks steigt in mir hoch. Dieses Gemälde hat tatsächlich das Potential, mich mitzunehmen, es beamt mich an den Ort der Gefühle und Impressionen, die mit ihm verbunden sind. Ich springe auf den Sog auf, den es beim Betrachten erzeugt und folge ihm, bis ich fast darin verschwunden bin.

      Der kleine Mann mit dem blonden Lockenkopf steht allein auf der Steinmauer, vor ihm ein Abgrund, dahinter M., ihre Hände zwischen ihn haltend und ihn loslassend, richtet sich ihr Blick nicht auf ihn, sondern weit in die Ferne. „Pass auf, dass er nicht fällt“, will ich ihr zurufen. Denn die schöne, junge M. scheint die Situation nicht richtig einzuschätzen. Schlagartig wird mein eben noch ungetrübtes Glücksgefühl von der surrealen Sorge um den Jungen überlagert. Das Thema „Kinder und Sorgen“ ist immer wieder ernüchternd. Auch so ein Gefühl, das über Jahre gewachsen ist, sich durch als wahr angenommene Erkenntnisse weiter verschärft hat, und, trotz gegensätzlichen Erfahrungen, stabil geblieben ist. Allein der Gedanke daran wirkt auf mich wie das versehentliche Umschalten auf ein schlechtes Programm. Schade, aber das war ein Rauswurf erster Güte aus der magischen Verbindung mit dem Bild.

      Gibt es eine unvernünftigere oder riskantere Entscheidung, als ein Kind zu bekommen? Das Risiko eines gebrochenen Herzens erhöht sich damit auf jeden Fall dramatisch, andererseits erhöht sich auch die Chance, zu wachsen und außerordentliches Glück zu erfahren. Man lernt sich selbst erst richtig kennen, denn das Leben verändert sich dramatisch, wird nie wieder so unbeschwert, wie es einmal war. Auf einmal habe ich jede Lust verloren, mir noch mehr alte Gemälde anzusehen.

      Sechs Stationen mit dem Bus Richtung Stadtrand, um jeder Kirche und der Gefahr weiterer spiritueller Begegnungen zu entkommen, setzte ich mich in die nächste Bar. Umgeben vom Alltag, mit Espresso und der Gazetta de Sport, fühle ich mich sicher und seltsam klar. Keine Flügel, keine Schatten die mir zuflüstern, keine himmlisch verwirrenden Gefühle. Großartig.

      An meinen Espresso nippend starre ich auf mein auf dem Tresen liegendes Smartphone. Hab ich seinen Anruf verpasst? Nein, auf dem Display wird nichts anzeigt. Bin ich enttäuscht? Klar bin ich das, mein Herz schmerzt, wenn ich mich daran erinnere, wie sich unser momentaner Zustand, dieses schleichende Entlieben, anfühlt. Besonders der Vergleich unseres jetzigen Zustands mit den vergangenen lustvollen Begegnungen in Nähe und Liebe tut richtig weh. Ich halte das nicht gut aus, und weil das so ist, bin ich nach Italien geflüchtet. Hier bleibe ich auch, wenigstens noch für eine kleine Weile.

      Bevor ich das Smartphone in der Tasche versenke, entdecke ich die Bibel-App, die ich mir irgendwann heruntergeladen hatte. Sie bringt mich auf eine Idee. In meiner Wörterbuch-App gebe ich erst mal „Engel“ zum Übersetzen ins Italienische ein. Zumindest ein Anfang, damit ich hören kann, wie weich und melodisch dieses „angeli“ klingt. Ein Experiment das leider völlig fehlschlägt. Irgendwie bezeichnend, aber auch nach mehrmaligen Versuchen erscheint immer nur „Schön, dich kennengelernt zu haben“. Ich mache etwas falsch, aber die daraus entstehende Zufälligkeit ist passend, irgendwie.

      Jetzt die Bibel-App. Auch hier schlage ich „Engel“ nach. Angezeigt werden 279 Suchergebnisse. Ohne lange nachzudenken entscheide ich mich spontan für:

      1. Moses 16,9: „Und der Engel Jawes sprach zu ihr“, … das passt schon mal, „… kehre zu deiner Herrin zurück und demütige dich unter ihre Hände“.

      Ratlos schließe ich den Eintrag. Obwohl ich mir so sicher bin, dass es keine Zufälle gibt, überlege ich kurz, ob meine Intuition mich diesmal getäuscht hat oder ich dem Satz doch noch irgendein Zeichen entlocken kann. Bei der Klärung der Frage, warum sich diese Lichtwesen ausgerechnet mir und gerade jetzt in den Weg stellen, hat mir meine Intuition noch nicht wirklich weiter geholfen. Nach wie vor befinde ich mich diesbezüglich in verschiedenen Stadien des Scheiterns. Wie im Moment quasi mein Leben selbst. Klar, das Leben ist eine ständige Herausforderung … schon immer die Männer, im Moment speziell meiner, und seit Neuestem auch noch Engel! Dazu meine manchmal subjektiv schwierige Befindlichkeit. Darüber hinaus muss ich mich auch noch mit dem Älterwerden und seiner Integration in mein Leben anfreunden. Alles zusammen ist grad ein bisschen viel!

      Obwohl es mir auch nicht richtig weiterhilft, ich mag dieses kleine Wundergerät Smartphone. Vielleicht sollte ich mir statt der Bibel-App besser eine Beziehungsberatungs-App herunterladen. Wenn es so etwas gäbe, könnte das nützlich sein. Zum Beispiel wenn einem der Partner gerade all das an den Kopf schmeißt, was sich seit Wochen an Empörung in ihm aufgestaut hat. Frau könnte in diesem Fall: „Was tun bei Beschimpfung?“, eingeben. Oder wenn mein Liebster sich mal wieder taub stellt und keine Antworten auf meine Fragen gibt, sich umdreht und mich wortlos stehen lässt, wie er es so gerne tut. Wäre sicher interessant, was unter „Umgang mit Aggressionen“ so alles an hilfreichen Ratschlägen zu finden wäre.

      10. April, Faenza

      Angekommen in Faenza, der Stadt an der mittelalterlichen Verbindungsstraße von Nord nach Süd, setze ich mich erst mal in ein Straßencafé auf der Piazza del Popolo, bestelle Cappuccino und eine Brioche, und versuche, das noch junge Licht der Morgensonne und das harmonische Ensemble aus Uhrturm und Loggien zu genießen. Nur, die Ereignisse der letzten Tage stülpen sich mir wie ein zu großer Hut über den Kopf. Ich beruhige mich damit, dass mein Schutzengel mich bisher immer zuverlässig begleitet hat. Wo steckt er eigentlich? Ich könnte gerade einen mitfühlenden Helfer brauchen. Diese italienischen Himmelsboten sind eindeutig anders. Hat er mir seine Kollegen geschickt, weil er irgendwie verhindert oder überfordert ist? Sicher braucht er auch mal Urlaub, so wie ich. Sind Engel nicht frei von jeglichem Stress, von Bedürfnissen und sogar von Leid? Sie stehen auf jeden Fall auf einer höheren Stufe der Evolution als der Mensch. Aber die Evolution ist ja noch in vollem Gange, die himmlische Schöpfung also auch. Mich tröstet die Vorstellung, dass der Automatismus der Evolution in seiner andauernden Kontinuität die Auflösung der Trennung von Welt und Paradies irgendwann herbeiführen könnte. Als Ergebnis wären dann Engel und Mensch vielleicht sogar ein wenig gleichgestellt, als Wesen mit und ohne Flügel. Ich muss zugeben, ein guter Plan!

      Beim zweiten Cappuccino denke ich darüber nach, ob mein grundsätzliches Dilemma vielleicht darin bestehen könnte, noch nie den fehlerlosen Partner, die passende Therapie oder den richtigen spirituellen Weg gefunden zu haben. Die Sehnsucht danach stellt mich immer wieder vor komplexe Lebensaufgaben, die noch umfassende Erfolge von mir verlangen. Und dass, obwohl mein Kopf genau weiß, wie unrealistisch diese Wünsche sind. Mein Gott … stopp … manchmal laufen mir meine Gedanken einfach davon!

      Ich zahle und gehe erst mal auf die Suche nach einem Café mit saubererem Klo. Genervt haste ich durch die kleine Stadt. Nach dem vierten starken Kaffee bin ich vollkommen gaga. Der Himmel scheint mir zunehmend strahlender. Auf der anderen Straßenseite taucht etwas auf. Ein Leuchten? Ich ermahne mich dazu, Ruhe zu bewahren. Was auch immer, es ist jedenfalls nicht davon abzuhalten, sich mir in den Weg zu stellen. Ich bewege mich offensichtlich bereits wieder in einer anderen Form von Realität. Sich monolithisch vor mir aufbauend ist der Engel von einer fast aggressiven Dominanz. Ich will davon nichts wissen, schließe die Augen, wie ein kleines Kind überzeugt, so weniger sichtbar zu sein. Es hilft nichts. Er hat mich auserwählt, das ist die einzig mögliche Erklärung. Denn jetzt spricht er zu mir und, was er sagt, klingt wie eine Ermahnung:

      „Elisa, mach einfach dein Ding. Du musst nicht immer alles analysieren oder verstehen. Liebe es einfach.“

      „Was soll das, warum sagst du das zu mir?“, antworte ich mutig. Denn erstaunlicherweise bleibe ich diesmal halbwegs ruhig, und verspüre gleichzeitig den in mir verborgenen