Susanne Kilian

Brave Tochter, altes Kind


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      Dass die Evangelischen für die Katholischen eigentlich nur verirrte Schäfchen sind, obwohl beide ja doch Christen sind.

      Für diesen seinen philosophischen Scharfsinn wird er in der Kaffeerunde bewundert.

      Und das in seinem Alter!

      Kuchen und Torte gehen weg wie warme Semmeln, dazwischen bimmelt das Telefon.

      Das hat jedes Mal ein hektisches Aufspringen meiner Eltern zur Folge.

      Jetzt kommt meine Mutter zurück und berichtet, dass ihr Bruder samt Frau und meine andere Kusine samt Mann heute nicht mehr kommen werden. Aber dann zum Geburtstag meines Vaters Ende September.

      „Siehst du, ich hab’s ja gleich gesagt."

      Das hat von Seiten meines Vaters ein Arme-hoch-Werfen und ein durch die Zähne gepresstes „Men-schens-kin-der!" zur Folge.

      Daraufhin der lakonische Kommentar von Marianne:

      „Ei Herbert, warum regst du dich denn gleich wieder so künstlich auf?"

      Ich liebe sie für solche Bemerkungen.

      Sie ist die Einzige, die sich das traut.

      Trotz Unkerei meiner Mutter finden sich Gottseidank immer wieder Nachbarn ein, die diese ansonsten frostige Atmosphäre aus Nörgelei und Schreierei etwas erträglicher machen.

      Der Pfarrer hat längst das Feld geräumt.

      Ich stehe mit Marianne in der Küche und wir spülen gemeinsam.

      Meine Mutter konnten wir erfolgreich überreden, bei ihren restlichen Gästen zu bleiben.

      Erstaunlich.

      Wir kriegen Spülen und Abtrocknen auch ohne ihre genauesten Anweisungen hin.

      Marianne sagt:

      „Jetzt geh doch heim. Seit wann bist du denn schon da? Halb zehn? Mach dir doch keinen Kopp. Jetzt kommt niemand mehr."

      Ich suche im Kühlschrank die halbe Flasche Sekt.

      Ich hab doch gesehen, wie meine Mutter die wieder reingestellt hat.

      Komisch.

      Der ganze Kühlschrank riecht aber nach Wein.

      Im Gemüsefach findet sich die fast ganz ausgelaufene Flasche.

      Liegend, der fantastische Sektverschluss ist drauf.

      Gerade kommt mein Vater in die Küche und ich zeige ihm die Bescherung.

      Maßloses Erstaunen.

      „Ja, wie kommt das denn jetzt?"

      Er hat vorhin nur Selters und Orangensaft ins Türfach gestellt.

      Aber genau da hatte meine Mutter den Sekt hingestellt; hat er …?

      Nein. Hat er nicht. Wie kommt das jetzt?

      Hoffnungslos.

      Dann waren das die Heinzelmännchen.

      Da ist noch eine volle Flasche; die und Orangensaft und Wasser bringe ich rein.

      Die Gäste sind durstig geworden und meine Mutter fragt:

      „Haben wir noch Schnittchen? Wenn noch jemand möchte … Du könntest doch jetzt noch die Schnittchen …?"

      Nein.

      Hier will im Augenblick niemand Schnittchen.

      Bald löst sich die Gesellschaft auch auf, in der Küche packt meine Mutter jedem ein Kuchenpäckchen.

      Nicht zu großzügig.

      Morgen will man ja auch noch was vom Geburtstag haben, morgen kommt die Isabel zum Saubermachen und die soll auch was kriegen.

      Zuerst wird gemault, weil ich einen halben Frankfurter Kranz und eine halbe Käsesahnetorte mitgebracht habe, und jetzt ist fast alles weg.

      Plötzlich ein Aufschrei meiner Mutter:

      „Susel! Wir müssen ja noch abrechnen! Hast du alle Zettel mitgebracht? Hast du nichts vergessen? Warte, ich hole mein Portemonnaie."

      „Was will sie denn jetzt?"

      Fragt die Marianne.

      Ich sage, dass ich alle Zettel von Einkäufen für den Geburtstag aufhebe, ihr vorzeige und zusammenrechne und dann das ausgelegte Geld kriege.

      „Also, das wäre mir zu blöd."

      Sie guckt mich an, guckt zur Decke und schüttelt den Kopf.

      „Und warum gibt sie dir nicht einfach hundert Euro und sagt: Mach mal und behalt den Rest? Du hast doch auch die Rennerei und die Fahrkosten."

      „Frag sie. Vielleicht hat sie Angst, ich haue mit dem Geld einfach ab? Das ist schon immer so, ich hab mich dran gewöhnt."

      Da kann sie mich nur mitleidig anschauen.

      Wir gehen ins Wohnzimmer.

      Marianne und Frau Grabert bleiben bis zum Abend, werden mit meinen Eltern die letzten Schnittchen vertilgen und dann beim Aufräumen helfen.

      Na, wenn das so ist …

      Ich warte nicht auf meinen Mann, ich fahre mit dem Zug nach Hause.

      Auf dem Weg zum Bahnhof Stille.

      Keiner sagt was, fragt was, labert mich mit irgendeinem Blödsinn zu.

      Wie ich mich jedes Mal freue, wenn Geburtstag, Weihnachten oder was auch immer mit meinen Eltern hinter mir liegen.

      Aber kaum hab ich mal Luft geholt, da kommt schon das Nächste.

      Dabei reicht mir schon der Alltag.

      Das abendliche Telefonieren.

      Die wöchentlichen Besuche ein- oder zweimal.

      Und die niederdrückende Gewissheit, dass es noch jahrelang so weitergeht.

      Und meine Eltern werden älter und älter.

      Und ich mit ihnen.

      An einem eiskalten, stürmischen Tag Ende Januar stirbt völlig überraschend Lilo, die Schwester meines Vaters.

      Er selbst hat sie nur immer Franz genannt.

      Vielleicht hätte er lieber einen Bruder gehabt.

      Sie war zwei Jahre jünger als er. Und keine Krankheit, gar nichts deutete auf so ein unverhofftes Ende hin.

      Meine Kusine hatte angerufen und nur ganz kurz mit meiner Mutter gesprochen. Ihr praktisch nur den plötzlichen Tod mitgeteilt. Es war ganz unvorhergesehen in der vorigen Nacht passiert. Wie man sich vorstellen kann, hatte sie für nähere Details keine Zeit.

      Nach dem allerersten Schock und nachdem er sich einigermaßen gefasst hatte, erregte das nun sofort den Unmut meines Vaters:

      „Ja, kann denn das sein? Warum hast du mich denn nicht sofort ans Telefon gerufen? Wann wird die Beerdigung sein?"

      Natürlich kann meine Mutter ihm jetzt im Moment auch nicht mehr sagen.

      Nein.

      So übermittelt man seinem Onkel diese Nachricht nicht. Das ist doch unglaublich. Er weiß sozusagen nichts. Er wird im Unklaren gelassen. Über alles.

      Er weiß zur Stunde nicht, wann die Beerdigung sein wird.

      Vielleicht steht die noch gar nicht fest?

      Im Augenblick wird meine Kusine anderes zu tun haben, als Onkel und Tante haarklein und detailgenau zu informieren.

      Vielleicht will sie das auch gar nicht.

      Meine Eltern sitzen neben dem Telefon.

      Weil sie nie ein schnurloses haben wollten, können sie sich nun nicht von diesem Telefon wegrühren.

      Dann teilen sie mir doch kurz mit, dass sie sich nach