Jörgen Dingler

Oskar trifft die Todesgöttin


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Eigentlich. Die vermeintlich kleineren Übel bestimmten in der Tat sein Leben.

       Ich funktioniere, ich funktioniere bestens!

      Kein Zittern, kein Verkrampfen – nichts. Wie bei jedem Tötungsjob funktionierte er auch in diesem fehlerfrei. Das sollte reichen! Wenn die Gegnerin nur nicht so verdammt gut wäre – die Beste von allen. Die Beste und die Bestie. Er schlich an den Regalen entlang, bückte sich immer wieder, um nach unten zu sehen, unter den Regalen hindurch. Nirgendwo sah er ihre Füße. Also weiter! Er drehte sich um, erschrak, erblickte das, was er sich erhofft hatte, weswegen er nach vorn strebte: der lange Schatten einer nicht gerade großen Person. Er ging in die Hocke. Kali war also noch im vorderen Teil, pirschte sich wieder an ihn heran. Sie war im benachbarten Gang, ihr Schatten verwischte auf einmal.

       Verflucht, ist die schnell!

      Sie musste zu einem Sprung oder einem weiteren Turnkunststück angesetzt haben. Er blickte gebannt den Gang zwischen den Regalen hinunter, lauerte, zielte. Er musste antizipieren, für ein Reagieren war sie zu schnell. Sobald er sie sehen würde, wäre es zu spät. Und er tot. Soviel war inzwischen klar. Also schoss er dreimal den Gang hinunter, obwohl er noch nichts sah, noch niemand da war. Aller guten Dinge sind drei! Und aller schlechten drei Fehlversuche. Falls die Rechnung nicht aufging, wäre es sein Tod. Er schoss blitzschnell hintereinander, nicht so schnell wie Kali, natürlich nicht. Rund dreißig Meter Entfernung. Flic Flacs schlagend wischte im selben Moment ein schwarzes schnelles Etwas vor den Regalen vorbei – begleitet von einem Stöhnen, gefolgt von einem gar nicht katzengleichen Platsch! Sie musste hinter dem nächsten Regal zu Boden gegangen sein. Und zwar

      Getroffen!

      Oskar war paralysiert. Er hatte Kali erwischt! Die Größte von allen. Die beste, geschickteste, schnellste, kälteste, gerissenste Killerin der Neuzeit, wahrscheinlich aller Zeiten. Hatte er sie erwischt? Er war nicht nur aufgrund des noch nicht sicheren Erfolges paralysiert. Es war ein Schock, Kali erwischt zu haben. Er hatte vielleicht die Frau getötet, die ihn dreimal am Leben gelassen hatte, obwohl sie ihn mit Leichtigkeit hätte töten können. Sie ließ ihm die Chance zu verschwinden, weiterzuleben – gleich dreimal. Aller guten Dinge sind drei.

      Er fühlte sich mit ihr verbunden. Mit ihr, mit Kali. Ihm war klar, dass sich hier und jetzt realisierte, was er sich im Falle eines eher unwahrscheinlichen Erfolges ausgemalt hatte: er konnte Christine wirklich nie mehr unter die Augen treten. Und zwar auch aus eigenem Antrieb. Er hatte getan, was er tun musste und fühlte sich dennoch absolut mies. Wie gesagt, nicht nur wegen Christine. Vielleicht hätte er wirklich gut in diese ‚Familie‘ gepasst. Und vielleicht hätten sich die beiden sogar gemocht – Kali und er. Christines Freundin, die Freundin der Frau, die er liebte. Und wieder mal:

      Worüber denke ich Volltrottel da überhaupt nach?

      Es galt die Lage zu peilen. Am besten erstmal verbal.

      »Was ist mit dir, große Kollegin? Spielst du nicht mehr mit?«

      Keine Antwort, wie erhofft. Wie erhofft? Er schluckte, wartete. Nächste Frage.

      »Oder bist du nur beleidigt und sprichst jetzt nicht mehr mit mir?«

      Er ging wieder in die Hocke und spähte unter den Regalen hindurch. Nichts. Er musste sich hinlegen, um alles einsehen zu können. Ausgerechnet dort, wo Kali liegen musste, standen flache Kartons unterhalb der Regale auf dem Boden, versperrten ihm die Sicht nach ganz vorn. Er erhob sich wieder und pustete durch. Also musste er nach vorn gehen.

      Das Sonnenlicht wurde immer orangener. Draußen könnte man einem bilderbuchmäßigem Sonnenuntergang beiwohnen. Wieviel Zeit war seit dem ‚Fangschuss‘ vergangen? Wahrscheinlich ein paar Minuten. Immer noch nicht das geringste Lebenszeichen von Kali. Er musste sie erwischt haben, hatte einer Legende ein Ende gesetzt. Nein, ein Triumph war etwas anderes. Hier war nichts, worauf er stolz sein konnte. Absolut nichts. Und doch war es gut, überlebt zu haben. Es war gut, dass Greg nun doch ein Honorar bekommen würde. Obwohl: Von den Reichen kann man sparen lernen. Papa Vaarenkroog war ein besonders abgezockter Patron, soviel war mal klar. Sollte kleines dickes Viktor sich querstellen, weil der Auftrag Christine und nicht Kali gegolten hatte, konnte man dem mit dem gewichtigen Argument auf die Sprünge helfen, dass hier das Team auf sein Honorar pochte, das Kali zur Strecke gebracht hatte. Wahrlich kein psychologischer Nachteil, kein schlechtes Argument. Viktor musste zumindest einen Teil des Honorars rausrücken, sonst würde es ihm schlecht ergehen. Die ganze Summe bekäme man sicher nur über seine Leiche. Leichen zahlen keine Honorare mehr, von Nikolas Tyron einmal abgesehen. Auf jeden Fall musste man dem kleinen Dicken Druck machen. Das würfe ein weiteres Argument auf. Ebenso konnte man Viktor bei dieser Gelegenheit einschärfen, dass sich die Sache damit erledigt hatte. Finger weg von Christine!

       Solltest du ihr immer noch etwas antun wollen, kommt der b ö se Oskar, der sogar Kali gekillt hat und tritt dir mit Anlauf in den Arsch! Capisce?

      Der böse Oskar steckte die Walther in den Hosenbund, nahm seine Hände vors Gesicht… und heulte. Alles fiel von ihm ab. Und Kali sollte auch ein paar Tränen davon abbekommen. Auch ihr sollte ein Teil des emotionalen Ausbruchs gelten. Sie hatte es mehr als verdient. Und jetzt musste er nach ihr sehen. Ruckartig den Kopf schüttelnd bemühte er wieder den emotionalen Neustart des Systems. Er zog seine Waffe aus dem Hosenbund. Sicher ist sicher! Als sich nach vorn begeben wollte, hörte er das Röhren eines Sportwagenmotors. Der Wagen bremste sich ein, der Motor verstummte. Oskar lief zum hinteren Ende der Regale, in Richtung der Empore, blieb unterhalb der Metalltreppe, die zur Schaltzentrale hinaufführte, diesem Baucontainer artigem kleinen Haus im großen Haus. Er linste zwischen den Treppenstufen nach vorn in Richtung Eingang. Im Dunkel unterhalb des Überbaus konnte man ihn unmöglich sehen. Die Eingangstür wurde aufgerissen. Kurz danach klickten die Neonröhren, flackerten, summten, erleuchteten schließlich die Halle.

      »Hay alguien aquí?«, hörte er eine vertraute Stimme auf Spanisch rufen.

      Warum war Christine ebenfalls in Barcelona? Konnte sie die Erledigung eines höchst anspruchsvollen Jobs ebensowenig wie Greg aus der Ferne abwarten, als der seinerzeit in Zürich nach dem Rechten sehen musste?

      Was tun, sprach Zeus. Sollte sich Oskar aus der Deckung begeben? Er beschloss, erstmal abzuwarten.

      »Ach du Scheiße!«, hörte er Christine nun auf Deutsch ausrufen.

      Sie war geschockt. Klar. Wenn es einen riss, war man wieder zuhause. Back to the roots, auch sprachlich. Sie musste die auf dem Boden liegende Kali entdeckt haben. Kunststück. Kali musste unweit des Eingangs liegen. Sehr weit konnte sie mit ihrer Turneinlage nicht mehr gekommen sein, als Oskar sie quasi ‚airborn‘ erwischt hatte. Er hörte einen Karton über den Boden schleifen, geschäftiges Rascheln, Stöhnen – Christine arbeitete. Wuchtete sie Kalis Leiche in einen der großen Pappkartons? Kein rühmliches Ende für eine enge Vertraute, erst recht nicht für die beste Killerin aller Zeiten. Andererseits: Wie sollte eine prominente Modedesignerin erklären, warum die Leiche der berüchtigsten Auftragsmörderin in ihrem Lagerhaus lag? Wenn auch kein Normalbürger von der Existenz einer Kali wusste, so waren doch offizielle Stellen schon mit ihren Taten konfrontiert worden. Spezialeinheiten der Polizei musste die Killerlegende ebenso zu Ohren gekommen sein, wie den besseren von Kalis Berufskollegen. Christine wühlte noch immer, wieder ein Schleifgeräusch. Dann war es ruhig. Oskars hoffte, dass sie sich wieder verziehen würde. Hoffte, dass das zierliche, aber kräftige Persönchen genug Kraft hatte, den Karton mit der Leiche rauszuschaffen und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Er wartete gebannt wie vergeblich.

      Warum öffnete sie nicht die Tür, um nachzusehen, ob die Luft rein war, ob sie Kali schon herauszerren konnte? Oder würde sie den Karton mit den sterblichen Überresten einer Superkillerin erstmal irgendwo im riesigen, unübersichtlichen Lagerhaus verstecken, bis der große starke Jean-Pierre dann die Entsorgung übernahm?

      »Oskar, bist du noch hier?«

      Nun zischte Oskar in seinem Versteck ein leises ‚Ach du Scheiße‘.

      »Falls ja, komm raus!«