Elisabeth Eder

Die Wächter


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er würde einmal der Herr der Unterwelt Jamkas sein.

       Allerdings hatte Kai bereits Feinde aus größeren Kreisen als aus denen der armseligen Vierteln. Er würde bald Siebzehn werden, was hieß, dass er das Mannesalter erreicht hatte und als Mann war man gefährlicher und einflussreicher, weshalb einige Verbrecher und einflussreiche Händler, denen er mehrmals unangenehme Situationen beschert hatte, versuchten, ihn zu ermorden. Wobei sie nicht mit den schnellen Reaktionen und der unglaublichen Kraft des Diebes rechneten.

       Kai sehnte den Tag heran, an dem er sich von den erbeuteten Schätzen seiner Diebe eigenständig ein Haus in den besseren Vierteln kaufen konnte und nicht mehr fürchten müsste, dass ein Brand oder ein Sturm alles zunichte machen würde, das er mühevoll aufgebaut hatte. Er würde seine Leute wieder beherbergen und viel größere Dinge durchsetzen als das Stehlen von Wertsachen. Vielleicht würde er auch Hehler werden. Kai wollte sich in ein paar Jahren zurücklehnen können, nachdem er die Banden vertrieben hatte, die die Stadt – und ihn – terrorisierten, sich vielleicht eine ehrliche Arbeit suchen und einfach nur seinen Frieden finden.

       „Hey, Träumer“, sagte eine Stimme hinter ihm.

       Kai fuhr herum, blitzschnell hatte er den Dolch gepackt und zielte auf sein Gegenüber. Ein Mädchen, vielleicht etwas älter als er, mit roten Locken stand hinter ihm und musterte ihn mit hochgezogenen Brauen.

       „Ania!“, fluchte Kai und steckte den Dolch zurück. Er wusste nicht, wie sie es manchmal fertig brachte, sich so unauffällig und lautlos zu bewegen. Denn wenn sie durch die Straßen schlichen, war Ania keineswegs so still wie jetzt gewesen. „Kannst du nicht wenigstens eine Vorwarnung geben, wenn du hinter mir stehst?“

       „Wo bliebe dann der Spaß?“, fragte sie und lächelte, aber in ihren Augen stand Besorgnis.

       Kai wusste, woher die kam. „Dir sind die Blutspuren also auch aufgefallen.“

       Ania schloss kurz die Augen, dann nickte sie und murmelte: „Ehrlich gesagt … sind die von mir.“

       „Von dir?!“

       Kais Augen funkelten bedrohlich. Ania nickte und drehte ihren Unterarm. Blutende, rote Kratzer waren auf ihrer zarten Haut zu sehen. Einige waren bereits verkrustet.

       Finster sah er sie an, als sie mit zittriger Stimme fortfuhr: „Es war Brimir.“

       Kai wandte sich der untergehenden Sonne zu. Dunkle Schatten krochen nun über die Häuser, fraßen das letzte bisschen Licht auf. Der schmale, helle Streifen am Horizont verblasste langsam zu einem violetten Ton und dann zu einem dunklen, satten Blau, das in das Tiefschwarz der Nacht überging.

       Es herrschte Stille zwischen den beiden. Ania trat neben Kai, der die funkelnden Sterne betrachtete und die schäbigen Hütten nicht ansehen wollte, die unter dem Firmament lauerten wie ein finsterer Abgrund.

       Schließlich sagte Kai: „Gut, ich werde mich darum kümmern.“

       „Wer ist er?“

       Kai hob den Kopf und blickte sie schweigend an.

       Anias Kinn bebte, ehe sie trotzig das Kinn reckte und ihn anfunkelte: „Er kommt uns in letzter Zeit ständig in die Quere, Kai! Er verrät uns! Er hat eigene Männer! Brimir hat Jael schon getötet und unzählige verletzt! Wieso sagst du uns nicht, wer er ist?“

       Der Dieb senkte den Blick. Bitterkeit und Trauer wallten in ihm auf. „Jael ist gestorben, weil er ihn herausgefordert hat, anstatt mit uns zu fliehen. Das weißt du.“

       Ania schnaubte. „Und ob ich das weiß! Aber Jael wollte nur Klarheit, Klarheit über diesen verfluchten Brim-!“

       Bevor sie zu Ende reden konnte, knurrte Kai: „Das ist eine Sache zwischen mir und ihm. Misch dich nicht in Dinge ein, die du nicht verstehst, Ania!“

       Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust und funkelte ihn unter ihrer Haarmähne heraus wütend an. „Wieso? Wenn er hierherkommt, um mich zu attackieren, dann habe ich doch das Recht, zu erfahren, was er überhaupt will!“

       „Nein“, sagte er finster. „Das ist meine Angelegenheit.“

       Ania schwieg.

       Kai drehte sich um. Er presste die Kiefer fest aufeinander und knirschte mit den Zähnen. Draußen bellte irgendwo ein Hund. Und trotzdem war es merkwürdig still. Eine Stille, die Kai bewusst machte, dass draußen Gefahren lauerten, die sich in den tiefsten, unscheinbarsten Winkeln versteckten.

       Er seufzte. „Hast du die anderen weggeschickt?“

       „Musste ich ja wohl. Sonst hätte er es noch mitbekommen“ Kai hörte, wie sich Ania bewegte. Offenbar ging sie im Raum auf und ab. „Diesmal war er knapp dran, das Haus zu finden. Ich bin ihm entkommen, weil er alleine war. Ich hatte Glück. Wir hatten immer Glück! Wenn er beschließt, noch einmal hierherzukommen und sich beginnt zu fragen, warum ich bei dieser Mauer herumgelungert bin, dann ist er drinnen. Dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder sein Tod oder unserer, wenn er entwischt und nachher seine Freunde mitbringt!“ „Das ist mir schon klar!“, knurrte Kai. Er wollte niemanden töten oder seine Diebe in Gefahr bringen. Aber was konnte er gegen Brimir ausrichten? Nichts. Er hatte zu viel Macht über Kais Leben, als dass er ihm je wieder unter die Augen treten könnte. Solange Brimir ihn nicht fand, war alles in Ordnung. Ania seufzte resigniert. Sie gab es endgültig auf und beschloss, das Thema zu wechseln: „Hast du es?“ „Hm? – Oh … ja“ Kai erinnerte sich in dem Moment wieder an seine eigentliche Mission. Er fischte das Kästchen aus der Tasche und öffnete es geschickt. Zwischen roten, samtenen Pölsterchen ruhte eine blank polierte Goldmünze mit einem Adlerkopf. Er deutete grinsend eine höfische Verneigung an: „Aus der Zeit von König Adlerfaust!“ Er reichte es Ania mit einer dramatischen Geste. Sie rollte mit den Augen, nahm das Kästchen und musterte es fasziniert. „Das ist bestimmt ein Vermögen wert. Wie seid ihr da ran gekommen?“ Kai grinste listig. „Use hat den Händler abgelenkt indem sie ihm Fragen über diese Münze gestellt hat. Dann hat sie sie ‚unabsichtlich‘ in den Kanal fallen lassen. Ich habe einige Straßen weiter gewartet, bei der Kanalbrücke, und es herausgefischt. Und ich denke, Use ist rechtzeitig entkommen, bevor er sie einsperren lassen konnte.“ „Das war dumm“ Ania schloss das Kästchen mit einem leisen Klonk. „Jeder andere hätte es aus dem Fluss fischen können.“ „Nein“ Kai schob sich die Hände in die Hosentaschen. „Weil dort gerade ein paar Männer dabei waren, Fische auszunehmen und du weißt, die vertreiben jeden. Die einzige freie Stelle war bei der Kanalbrücke.“ „Die Fischmänner haben es nicht bemerkt?“ Ania runzelte die Stirn. Er zuckte mit den Schultern. Ihm war selbst klar, wie waghalsig sein Unternehmen gewesen war. Sie seufzte und warf das Kästchen achtlos auf Kais Schlafmatte. „Die ist bestimmt fünfhundert Goldmünzen wert. Verkauft es nicht unter dem Preis, wir brauchen das Geld!“ „Verkauf du es doch!“ Kai ärgerte sich, dass Ania manchmal mit ihm redete, als wäre sie die Herrin dieses Hauses. Dabei war sie genauso dankbar wie alle anderen, dass er sie aufgenommen hatte und das wusste er. Trotzdem reizte es ihn immer öfter, weil sich die Lage mit Brimir zuspitzte. „So was kann ich nicht“, lächelte sie jetzt, wie, um ihn zu besänftigen. Kai wusste, dass Ania ein kluges Köpfchen war und wagte es keine Sekunde, sie zu unterschätzen. „Da bist du besser. Wie auch immer, ich leg mich schlafen. Gute Nacht.“ „Nacht“ Sie verließ das Zimmer.

      Kai starrte noch lange hinaus auf die Sterne. Die einzelnen Lichtpunkte funkelten ihm zu, blitzten und strahlten. Der Vollmond thronte über ihnen und schien über die Nacht zu wachen.

       Aber er konnte nicht in die verborgensten Winkel der Stadt leuchten, die finsterer waren als jede Schlucht und er konnte auch nicht Licht und Hoffnung in die Seelen bringen, die verzweifelt, bitter und kalt waren.

       „Trotzdem ist das Licht da und jeder kann frei entscheiden, ob er hineintreten will oder nicht“, murmelte eine Stimme in Kais Hinterkopf. Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen legte er sich auf seine Decke und schlief ein, beruhigt von dem stetigen Rauschen des Windes.

      Kai rannte. Riesige Gebirge türmten sich vor ihm auf, wie gewaltige Hindernisse. Er schlängelte sich hindurch, musste sich öfter ducken und vor den Schatten verstecken, die überall lauerten. Gefahr. Er spürte sie von überall. Sie kroch auf ihn zu, flüsterte ihm Drohungen und