Elisabeth Eder

Die Wächter


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eine Lücke oder Schwachstelle in der Menge. Aber solange er nicht von dem Soldaten loskam, waren seine Chancen gleich Null.

       „Auf unserem Bauernhof, zu Hause!“ Kai wusste nicht, woher ihm dieser Geistesblitz gekommen war, aber er war dankbar dafür: „Ich habe ihre letzte Schafherde verkauft und muss ihnen das Geld bringen! Meine Mutter ist schwerkrank und mein Vater -!“

       „Halt die Klappe!“, brüllte der Soldat. „Ich seh‘ doch, wenn ein dreckiger, kleiner Waisenlümmel vor mir steht! Du kommst jetzt mit auf die Wache -!“

       „Kai!“

       Der Ausruf ließ die verstummten Menschen auseinanderstieben. Der Soldat wandte das Gesicht ab und blickte mit hervorquellenden Augen auf den neuen Störfried. Kais Blut gefror ihm in den Adern, als er die Stimme erkannte, eine Stimme, die er oft gehört und zu fürchten gelernt hatte.

       Beinahe wurde ihm Übel von dem schrecklichen Geruch des Soldaten. Die Sonne blendete auf einmal ungeheuer und von dem kühlen Windhauch war nichts mehr zu spüren. Nachdem ihm eiskalt geworden war, wallte Hitze in ihm auf, Schweiß stand ihm auf der Stirn.

       Ein großer, kräftiger Mann mit kahlem Kopf und dem schwarzen Tattoo eines Vogels ging gelassen auf das Spektakel zu. Der Griff des Soldaten lockerte sich ein wenig und der, der das Verhör führte, klammerte seine Hand um den Schlagstock: „Wer bist du jetzt?!“

       „Ich bin sein Vater – Oh, Kai, was hast du nur getan? Wieso machst du deinen alten Herren so unglücklich?“ Rabenkopf – so wurde er von allen genannt – kam auf Kai zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Der Magen des Jungen krampfte sich zusammen. Rabenkopf war ein treuer Freund von Brimir.

       „Das ist Euer Sohn?“ Der Soldat erinnerte sich daran, dass er eine Amtsperson war. „Dann lasst Euch gesagt sein, dass er ein kleiner Dieb ist! Er hat versucht, zu stehlen!“

       „Das stimmt nicht“, erklärte Rabenkopf ernst. „Ich habe ein Antiquitätengeschäft und ihn mit dem Geld losgeschickt. Er sollte sich diese zerrissene Kleidung anziehen, damit niemand auf ihn aufmerksam wird. Er hat viel Geld bei sich, wisst Ihr?“

       „Er hat uns vorhin angelogen!“, meinte der Mann mit zusammengekniffenen Augen.

       „Oh, Junge … was hast du nur getan?“, fragte Rabenkopf mit täuschend echtem verzweifeltem Blick.

       „Lass ihn los“, wies der Soldat seinen Begleiter an. Der tat das. Kai rieb sich die schmerzenden Schultern und ehe er einige Schritte von Rabenkopf wegtreten konnte, legte dieser eine starke Hand um seine Schulter: „Komm, Sohn, gehen wir.“

       „Augenblick!“ Der Soldat zog seinen Schlagstock und deutete damit auf Kai: „Ist das dein Vater?“

       Was blieb ihm anderes übrig als zu bejahen? Die gaffende Menge hatte erneut zu Tuscheln begonnen.

       „Ja, Sir.“

       „Dann geht“, schnauzte der Soldat. „Mit solchen lächerlichen Dingen verschwenden wir hier unsere Zeit!“

       „Danke“ Rabenkopf machte eine übertriebene Verbeugung und sie drehten sich um. Der Mann nahm kein einziges Mal die Hand von Kais Schulter, als sie durch die Menschenmenge schritten. Die Leute musterten die beiden noch neugierig, dann setzten wieder die üblichen Gespräche, Feilschungen und der neueste Tratsch ein, während die Soldaten ihre Runden fortsetzten. Nur die alte Frau von vorhin blickte missmutig drein und verzog ihren faltigen Mund. Offensichtlich war ihr das Ganze zu unblutig abgelaufen.

       „Da hab ich dir nochmal den Arsch gerettet, hm?“

       Rabenkopf lachte leise.

       Kai wand sich unruhig, aber der Griff des Riesen verstärkte sich dadurch nur noch mehr. Sie steuerten rasch von der Hauptstraße ab und kamen in eine kleine Nebenstraße, die kaum belebt war. Kai bekam von all dem nichts mit. Er roch lediglich den Urin, die Müllhaufen und das nasse Holz.

       „Wohin bringst du mich?“

       „Wirst du schon noch sehen“, knurrte Rabenkopf, dessen falsche Freundlichkeit endgültig abgefallen war. Kai biss sich auf die Lippe. „Wage es ja nicht, zu fliehen. Du weißt, dass es nicht gut ausgeht. Für dich.“

       Jahrelange, schmerzhafte Erfahrungen hatten dem Jungen immer wieder deutlich gemacht, wie richtig Rabenkopf mit diesen Drohungen lag. Angst wallte in ihm auf und er senkte kaum merklich den Kopf.

       Die abgerissenen Häuser, bei denen sie sich befanden, stapelten sich hoch in den Himmel, sodass die Gasse im Dämmerlicht lag. Nicht einmal mehr die Ratten huschten aus den dunklen Ecken davon und der Gestank war so bestialisch, dass Kai befürchtete, demnächst über eine Leiche zu stolpern.

       Plötzlich blieb Rabenkopf stehen und einen Moment später wurde Kai an der Brust von einer starken Hand an die Mauer gepresst.

       Die kalten Augen seines Gegenübers musterten ihn misstrauisch: „Ich weiß nicht, wo ihr kleinen Bastarde euch versteckt, aber Brimir hat’s herausgefunden. Er will, dass du am Abend zu ihm kommst.“ Der Junge rollte mit den Augen und erwiderte den Blick des Mannes trotzig.

       Rabenkopf gab ihm eine gepfefferte Ohrfeige, die Kai beinahe den Boden unter den Füßen wegzog. „Du sollst erscheinen, Kleiner.“

       „Hab ich schon gehört“, fauchte Kai, aber seine Stimme zitterte leicht und seine Wange pochte unerträglich.

       Ein dreckiges Grinsen zierte Rabenkopfs Gesicht. „Du wirst doch nicht etwa Angst haben?“

       Er hob die Hand und schlug dem Jungen kräftig ins Gesicht. Kai biss sich auf die Lippen vor Schmerz, aber kein Laut drang aus seinem Mund.

       „Die Tatsache, dass ich dich gefunden habe, ändert einiges an den Umständen, findest du nicht?“ Rabenkopf schlug Kai mit eisenharter Faust auf die Wange. „Ich hab dich was gefragt!“

       „Vermutlich“, keuchte der Dieb.

       „Vermutlich?!“ Mit wutverzerrtem Gesicht prügelte der Mann auf Kai ein. Als er aufhörte, hing Kais Kopf kraftlos herunter. Haarsträhnen verdeckten seine Augen. Sein Atem ging keuchend, flammender Schmerz fuhr ihm über die Wangenknochen. Seine Lippe blutete vom ständigen Hineinbeißen, aus einer Wunde über der Augenbraue floss eine heiße Flüssigkeit über seine Augen und machte das Sehen schwer. „Lass mich gehen …“ „Das denkst du wohl selber nicht, du kleine Ratte!“, grinste Rabenkopf über ihm. Er packte grob sein Kinn und zwang Kais Kopf nach oben. „Jämmerlich.“ Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit brodelten in ihm. Er unterdrückte Schmerzenstränen und starrte den Mann über sich an, der sein Leben schwer machte, es sogar noch tat, wenn er nicht mehr in seinem Einflussbereich stand. Obwohl es jetzt schlecht aussah, was das anging. „Verschwinde, Rabenkopf!“ Er war sich nicht sicher, ob den Mann schon einmal jemand so genannt hatte. Klatsch. Die Ohrfeige landete sauber auf seiner Wange. Kais Kopf flog herum. Keuchend zwang er sich, in die dunklen Augen zu sehen. „Ich werde dich zu Brimir bringen, Kleiner“, sagte Rabenkopf hämisch und das Tattoo an seiner Stirn schien zu leuchten. „Der wird sich freuen.“ Der Mann packte ihn grob am Oberarm und zerrte ihn weiter. Kai stolperte, fiel auf die Knie und landete mit einem flappenden Geräusch im Matsch. Rabenkopf gab ihm einen Tritt, der ihn von den Knien riss und quer über den Boden legte. „Steh auf, Missgeburt!“, knurrte der Mann und fuhr fort, den Körper des Diebes mit Tritten zu traktieren. „Nimm das Geld“, stöhnte Kai. Die Tritte hörten auf. Mit einiger Anstrengung gelang es Kai, sich auf den Rücken zu drehen und sich aufzusetzen. Rabenkopf kniete sich nieder, sodass er mit ihm auf Augenhöhe war. Kai erwiderte seinen Blick, obwohl sein Herz ihm beinahe aus der Brust sprang und er nichts mehr wollte, als zurückzuweichen. Er sagte ruhig: „Brimir wird es mir abnehmen. Ich werde ihn heute Abend sowieso sehen. Er wird dir nichts geben. Du kannst es jetzt nehmen und damit verschwinden. Niemand wird davon erfahren.“ „Wieso sollte ich es nicht an mich nehmen und dich dann Brimir ausliefern?“, fragte Rabenkopf gehässig. Kais Augen blitzten kurz triumphierend auf. „Weil ich es ihm dann erzählen werde. Und du weißt, wie er auf diese Dinge reagiert.“ Rabenkopfs Blick verfinsterte sich. Kurz huschte Angst über seine Züge, aber er hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. Dann streckte er abwartend die Hand aus: „Los, beeil dich gefälligst, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit, kleiner Mann!“