Elisabeth Eder

Die Wächter


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Sie nickte vorsichtig. „Meine Eltern stammten von dort. Sie kannten Exoton und seine Männer.“

       Kai starrte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an, die wie der Flügelschlag eines Vogels wirkte. Als ihm klar wurde, dass er keine Antwort von ihr bekommen würde, wanderte sein Blick zu der schmalen Treppe, die in den Keller führte. Der sanfte Geruch von Wein stieg hinauf: „Bedient euch, Freunde. Ania kann euch das Essen zeigen. Nehmt so viel ihr wollt, ihr müsst hungrig sein. Morgen erklärt ihr mir und meinen Dieben, wie der Plan aussieht.“ Aufrecht ging der König der Diebe über die Stiegen hinaus in das heulende Unwetter. Regen peitschte ihm ins Gesicht, ein Blitz zuckte vom Himmel, der tobende Wind rüttelte an seiner Kleidung. Kai fuhr zusammen und blinzelte, doch die Sekunden des Erleuchtens der Umgebung waren vorbei, endgültig weggewischt und es blieb nur prasselnde, nasse Dunkelheit zurück. Trotzdem war er sich sicher, dass er gerade in rauchiger Gestalt das Gesicht einer Raubkatze vor sich gesehen hatte. In dem Moment ging unten ein Ruck durch die Herzen der Versammelten. Ania hielt mitten in der Bewegung inne. Das Fackellicht beleuchtete Berge von Gemüse, Früchten, Broten und Wurststücken, Bier- und Weinfässer standen in einer staubigen Ecke. Flammen knisterten und fraßen sich die Fackeln entlang, das köstliche Essen duftete und ließ die Mägen der Männer knurrten, aber darauf achteten sie im Moment nicht. „Es ist so weit“, sagte Exoton und seine Stimme zitterte vor Ehrfurcht. „Die Neuen wurden auserwählt.“ Ania schluckte und ihr Blick wanderte kaum merklich nach oben. Kai musste es auch gespürt haben. Nicht umsonst bewachte sie ihn ihr ganzes Leben lang, sie wusste, dass er einer von ihnen war. „Nehmt euch“, wies sie die Männer leise an. „Es gibt genug für alle.“

      Die Sonne war noch nicht am Horizont erschienen, da kamen Kais Diebe aus den gräulichen, trüben Schatten der Häuser. Sie wirkten müde und nervös, aber sie waren am Leben. Er ließ sie hinein. Stumm setzten sie sich, warfen seinen neuen Gästen misstrauische Blicke zu, beließen es aber dabei.

       Ania kam noch einmal zu ihm: „Danke, dass du hilfst.“

       „Kein Thema“, antwortete er mit dem Rücken zu ihr. Er schloss die Tür hinter dem letzten Ankömmling und drehte sich dann um. Die Männer saßen auf den Tischen und versuchten ihr Missfallen über die neuen Verbündeten zu verbergen. Kais Diebe – mit zerrissener Kleidung, einigen Wunden und schmutzigen Gesichtern – hockten am Boden und spielten unruhig mit ihren Messern.

       „Wer von euch ist Brimir begegnet?“, fragte Kai und musterte jeden Einzelnen.

       Einige senkten die Köpfe und mieden seinen Blick. Durch die Dunkelheit konnte Kai gestochen scharf erkennen, wie sich einer seiner Diebe unruhig wand und dann aufstand: „Ich.“

       Kai musterte ihn forschend. Mehrere Blutergüsse waren im Gesicht des Jungen zu sehen und er wirkte unnatürlich blass.

       „Er … er …“ Der Kleinere schluckte und fummelte an seinem Hemd herum, dass nur noch aus Fetzen bestand. „Er hat eine Botschaft für dich … Du sollst dich heute Abend bei der Kneipe Zum goldenen Dolch einfinden, sonst tötet er dich. Er – er … weiß, dass das Quartier hier ist.“ Kai verspannte sich. Er spürte, wie ihm seine Gesichtszüge kurz entglitten. Seine Hand klammerte sich um das lange Messer in seinem Gürtel und er kämpfte darum, wieder die Fassung zu gewinnen. Schließlich räusperte er sich. „Dann müssen wir umsiedeln. Einige von euch werden heute den Tag damit verbringen, neue Häuser auszukundschaften. Darro, Iralia – Exoton und seine Männer wollen in die Bibliothek einbrechen. Im Gegenzug helfen sie uns, Brimir loszuwerden. Ihr spioniert die Wachzeiten dort aus und seht nach, wann sie geöffnet ist, klar? Nächsten Abend brechen wir ein.“ Die Diebe nickten und warfen den Männern im Raum neugierige Blicke zu. Exoton starrte Kai an. „Brimir also wieder. Wegen einem Mann verlasst ihr euer Quartier und verschiebt unseren Auftrag?“ Er versuchte nicht einmal, sein Missfallen zu verbergen. Die Jugendlichen hoben ihre schmutzigen, ausgemergelten Gesichter und blickten gespannt von einem zum anderen. Kai blieb unerschütterlich wie ein Fels: „Er ist gefährlich und nebenbei bemerkt kann die Bibliothek auch warten. Wir werden bald ein Quartier gefunden haben, höchstens in ein paar Stunden. Es gibt hier viele leerstehende Häuser.“ „Dann hoffen wir, dass du dein Wort hältst“, sagte Exoton mit zusammengezogenen Brauen und lehnte sich gegen die hölzerne Wand. Sein Auftrag war ihm wichtiger als die Angst der Diebe, die in seinen Augen nur Kinder waren, vor einem Mann. Kai unterdrückte den bitteren, aufbrausenden Ärger in seiner Magengegend, lächelte schmallippig und kalt: „Verlasst Euch drauf!“ Ein jäher Windstoß fuhr durch den Raum. Kai blickte zu dem Fenster und betrachtete die Straße. Goldenes Sonnenlicht kämpfte sich durch die Dunkelheit. Er lächelte breiter und sog den Geruch des Morgens ein, dann warf er einen Blick in die Runde und befahl: „Dann lasst uns nicht warten! Schwärmt aus und sucht ein Quartier. Ania, du und deine Freunde, ihr könnt euch nützlich machen und die Hausvorräte in Kisten packen. Lasst euch nicht von Brimir erwischen.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder ab. „Wo gehst du hin?“, fragte Ania fordernd. Kai packte den Drehknauf der Tür und riss sie auf. Kühler Wind blies ihm ins Gesicht. „Ich suche Brimir.“

      Natürlich tat er es nicht. Nie wieder würde er auch nur in die Nähe dieses Mannes kommen.

       Kai marschierte durch schlammige Straßen und an Häusern vorbei, die an einigen Stellen zerstört und verkohlt waren. Die Blitze hatten reife Arbeit geleistet.

       Der junge Dieb ging auf den Hauptplatz, wo die Händler ihre Waren bereits anpriesen und sich mehrere Leute drängten. Tiere brüllten und schnaubten, der Duft von Gewürzen, Fleisch und frisch gebackenem Brot hing in der Luft, bunt schillernde Gewänder wurden angeboten und glänzende Waffen lehnten an den Ständen. Funkelnde Edelsteine lagen in Kisten, Töpfe stapelten sich neben einem Geschäft und überall standen Menschen. Eine Gruppe von Künstlern vollführte gewagte Kunststücke auf Bällen oder auf Seilen, die sich zwischen Pfählen spannten, ein Dichter trug eines seiner Werke vor und eine Traube von jungen Mädchen hatte sich um einen Troubadour geschart. Irgendwo pries ein Händler den „kleinsten Mann der Welt“ an. Das Schnattern der Menge und das Schnauben und Brüllen der Tiere dröhnte laut an seinen empfindlichen Ohren, die weitaus besser hörten als die der gewöhnlichen Menschen.

       Kai schlenderte hinüber, drängte sich durch die Menschenmassen. Er trat zu dem Mann, der neben einem großen Apfelbaum stand. Auf einer kleinen Bühne stand tatsächlich ein kleines Männchen, das Kunststückchen vollführte. Allerdings erkannte Kai an den spitzen Ohren, dass es sich lediglich um einen sehr kleinen Elfen handeln musste.

       Er strich unauffällig zwischen den Leuten umher, scheinbar um besser sehen zu können. Als das Männchen sich verbeugte und die Menschen Geld auf die Bühne warfen – und damit den Elfen fast erschlugen – entfernte sich der Meister der Diebe unauffällig, mit fünf Geldbeuteln mehr am Gürtel.

       In der Mitte des Platzes stand ein großer, steinerner Brunnen. Kai setzte sich an dessen Rand und beobachtete das Geschehen rings um ihn, während er sich Gedanken über die neue Situation machte. Sobald sie umgezogen waren, würden sie in die Bibliothek einbrechen. Danach ging es Brimir an den Kragen – Kai spürte grimmige Vorfreude in sich aufsteigen, als er daran dachte.

       Knirschende Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken.

       Vor ihm marschierten zwei Soldaten mit langen Schritten auf ihn zu.

       Kai sprang auf und drehte sich um, um davonzulaufen, aber die Soldaten waren bereits zu nahe. Er wurde grob an der Schulter zurückgerissen und herumgedreht, ehe er in zwei schwarze Augen blickte, die gemein glitzerten. Der Geruch von Bier und Schweiß vermischte sich mit dem des Lederpanzers und Kai wurde beinahe übel.

       „Woher hast du denn die Geldbeutel, Bursche?“, knurrte der Soldat.

       Kai versuchte sich, aus seinem Griff herauszuwinden. Die Menschen wichen zurück und beobachteten interessiert das Schauspiel. Eine alte Frau krähte: „Sieh dir das an, Bodia, da werden sie gleich einen hängen!“ Getuschel wurde laut, einige Knappen johlten und klatschten.

       „Sind meine! Lass mich los!“, rief der Dieb grimmig. Die Menge wurde wieder ruhig und wartete gespannt darauf, wie sich die Lage entwickeln würde.

       Der zweite Soldat kam hinzu und drehte Kai die Arme auf den Rücken, sodass sie schmerzten.