Elisabeth Eder

Die Wächter


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kommst, dann holen wir dich!“ Der Junge kam hart auf der Erde auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, aber er gab keinen Laut von sich, sondern lauschte, wie sich Rabenkopfs stampfende Schritte entfernten. Der Geschundene lag mit schmerzenden Knochen im Schlamm und lächelte. Er war Brimir ein weiteres Mal – anders als sonst – entkommen.

       3 Nächtliches Vorhaben

      „Du bist Brimir begegnet!“, rief Ania aus, als sie Kai erblickte.

       „Nein“, knurrte er.

       „Wem sonst? Rabenkopf?“

       „Er ist mir begegnet“ Grimmig bahnte er sich einen Weg durch die Jungen und Männer, die dabei waren, Kisten von einem Quartier ins Nächste zu schleppen. „Habt ihr was gefunden?“

       „Ja. Ein paar Straßen weiter, unbewohnt“, sagte einer der Jungen stolz. „Wir sind schon fast mit allem fertig.“

       Kai schritt zur Stiege und stieg die knarrenden Treppen hinauf. „Gut. Macht schnell weiter, beeilt euch. Ich komme gleich nach.“

       „Sollen wir deine Wunden heilen?“, bot Exoton an, der lange Blicke mit seinen Männern getauscht hatte. Aber Kai schüttelte den Kopf und ging mit raschen Schritten in sein kleines Zimmer. Er rollte seine Schlafmatte zusammen, kramte einen Beutel hervor und füllte ihn mit seinen Messern, kleineren Schätzen, die er noch nicht verkauft hatte und anderen Diebeswerkzeugen. Er marschierte zur Waschschüssel und tauchte seinen ganzen Kopf ein.

       Angenehme Eiseskälte legte sich über die Wunden in seinem Gesicht. Als er auftauchte, fühlte er sich frisch und wach, beinahe richtig ausgeruht. Sogar sein Hass auf Rabenkopf war fast vollständig verraucht. Dann ging er zu einer kleinen Kommode in der Ecke und zog die erste Schublade auf.

       Darin befand sich ein Lederarmband, in dem kleine Wellenmuster eingeflochten waren. Vorsichtig nahm er es aus dem morschen Stück Holz und drückte es an seine Brust. Er schloss die Augen und meinte kurz, den Geruch von Salzwasser wahrzunehmen, das Rauschen des Meeres zu hören. Möwenkreischen, das Gelächter von Kindern hallte über das Wasser. Ein sandiges Ufer formte sich vor seinen Augen.

       Lächelnd ließ er es in seinen Beutel gleiten. Dann schulterte er ihn und kehrte zurück zu den anderen, um das neue Diebesquartier mit ihnen zu beziehen.

      Das Haus hatte einen Keller, in dem sich mehrere Kohlen befanden. Sie hatten einiges zu tun, die Kisten hinab zu schleppen, aber nach schweißtreibender, anstrengender Arbeit war es erledigt. Keuchend lief Kai die Stiegen hinauf in den normalen „Wohnraum“, wo die Diebe sich schon ihre Schlafstätten eingerichtet hatten.

       Im obersten Stock wohnte natürlich er. Kai warf seinen Beutel in die Ecke und setzte sich auf das Einzige, was im Raum stand: Ein hölzernes Bett mit strohgefüllter, löchriger Matratze. Einige Augenblicke genoss er das Gefühl des weichen Materials. Wie lange hatte er nicht mehr in einem Bett geschlafen? Er erhob sich und blickte aus dem Fenster.

       Direkt unter ihm befand sich das Dach eines Hauses, das gegenüber lag. Neugierig sprang er auf das Fensterbrett, glitt hinab und landete leichtfüßig auf den noch warmen Ziegeln. Vorsichtig tappte er alle vier Seiten des Hauses ab und entdeckte auf der linken Seite mehrere gestapelte Kisten, die in eine dunkle Gasse führten.

       Guter Fluchtweg, den muss ich mir merken, dachte er sich, während er umdrehte und wieder in sein Haus kletterte. Er verriegelte die Fenster, deren Scheiben mit grauem Staub überzogen waren und das Licht nur blass hereinließen. Unten wurde Stimmgemurmel laut. Kai stieg die Treppe hinab, hob den Kopf und blickte auf seine „Untertanen“. Exoton und seine Männer erklärten den Dieben gerade, welche Waffen, sie benötigen würden und Darro zählte die Sicherheitsvorkehrungen auf, denen sie trotzen mussten. Mit verschränkten Armen stellte sich der Junge daneben und beobachtete das Geschehen. „Was ist vorhin passiert, Kai?“, fragte Ania neben ihm. Sie gab es wohl nie auf. Kai drehte den Kopf weg. „Wir hatten eine Auseinandersetzung.“ „Er hat dich verprügelt“, sagte sie sarkastisch. „Wieso verstehst du es nie – sei vorsichtig!“ „Bin ich.“ Ania nahm all ihre Willenskraft zusammen, um nicht die Augen zu verdrehen. Sie war die kargen Antworten des Diebes gewohnt, aber in diesen Situationen reizten sie sie mehr, als das Mädchen es manchmal ertragen konnte. „Du wirst dich heute aber nicht mit Birmir treffen, oder?“ „Seh‘ ich so aus, als wäre ich lebensmüde?“, fauchte Kai und zog die Brauen zusammen. Ein Blick aus den tiefgrünen Augen war rasiermesserscharf und zerfetzte meist selbst die härtesten Gegner. ‚Bei dir kann man es ja nie wissen!‘ Ania biss sich auf die Lippe, um den sarkastischen Kommentar zurückzuhalten, der ihr auf der Zunge lag.

      Die Nacht kam und ging. Kai lag Stunden wach, wälzte sich umher und lauschte seinem trommelnden Herzen. Was würde Brimir tun? Würde er alles absuchen? Würde Rabenkopf verraten, dass er Kai schon fast geschnappt hätte? Oder wäre er zu feige? Vermutlich.

       Er war vor den anderen wach, rüttelte ein paar kleine, schmale Kinder auf und befahl ihnen leise, Waffen zu holen. Ein paar andere, die auch wach wurden, sollten derweil bei der Bibliothek herumspionieren.

       Unruhig schlich er im Haus herum, bis alle wach waren. Es wurde gegessen und getrunken, gegen Mittag kehrten die Diebe mit Waffen und den Neuigkeiten heim, Brimir hätte fünf Betrunkene aus Zorn ermordet. Die Soldaten seien hinter ihm her.

       Mehrere Male besprachen sie ihren Plan, wie sie in die Bibliothek eindringen und dann weiter vorgehen sollten. Der Meister der Diebe verbrachte seinen Nachmittag damit, auf seinem Zimmer zu sitzen und die Messer zu schärfen, die er hatte.

       Schließlich brach die Dämmerung herein. Die Diebe speisten mit bleichen Gesichtern, dann trugen sie sich gegenseitig Lehmmasken auf, schnappten sich Speere, Schwerter und Dolche. Kai schnallte sich einen edlen Waffengürtel mit einem Langschwert um – er hatte von Brimir gelernt, wie das Kämpfen mit der eleganten Waffe funktionierte – und steckte verschiedene Dolche hinein. Das schwarze Leder schimmerte im Licht der Laterne, die er entzündete und vor sich in die Dunkelheit hielt.

       „Wir müssen leise sein“ Er blickte zu Exoton und seinen Männern, die allesamt keine Waffen außer einem Dolch trugen. Kurz hob er eine Augenbraue, beließ es aber dabei. Wenn sie ihr Leben in Gefahr bringen wollten, sollten sie. Kai hatte nichts damit zu tun, wenn sie starben. „Bereit?“

       Sie nickten, ihre Augen funkelten entschlossen.

       Der Meister der Diebe warf Ania einen Blick zu, die ihre Haare zusammengebunden hatte. Ein kleiner Dolch steckte in ihrem Gürtel und sie trug eine Hose, ganz untypisch für sie.

       „Ich hab die Schlüssel zur Hintertür der Bibliothek, übrigens“, sagte einer der Männer wie nebenbei. Sein überhebliches Grinsen verriet ihn jedoch.

       Kai nickte. Das würde ihre Arbeit erleichtern und das Knacken des Schlosses nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen. Ohne auf das selbstgefällige Grinsen zu achten, stieß er die Türe auf. „Dann los.“

       Ein kalter Windzug peitschte ihm entgegen. Gähnende Dunkelheit hatte sämtliche Straßen und Gassen verschlungen. Vereinzelt brannten glühend gelbe Lichter in heruntergekommenen Häusern. Die Nachtluft roch frisch und feucht. Grillen zirpten und irgendwo bellten zwei Hunde.

       Ohne zu Zögern trat Kai aus dem Haus. Er marschierte die Straße entlang, hinter ihm seine kleine Kämpfergruppe. Die Laterne leuchtete ihnen den Weg, bis sie zu einem kleineren Stadttor kamen, das in die innere Stadt führte. Da stellte Kai das kalte Eisengestell, in dem ein orangefarbenes Licht brannte und flackerte, auf eine Kiste. Er nickte zwei dünnen Jungen zu, die die besten Läufer waren.

       Einer nahm die Laterne, der andere lehnte sich lässig gegen die Kisten.

       Zwei Soldaten waren bei diesem Tor zur Innenstadt postiert. Gelangweilt stützten sie sich auf ihre Lanzen und betrachteten die dunklen Gassen.

       Kai und die anderen versteckten sich hinter einem Haufen Kisten, wo sie regungslos warteten.

       „Sieh dir die Soldaten an!“, lachte einer der Jungen.

       „Die stehen nur faul herum!“

       „Glaubst du können die Rennen? – Vielleicht, wenn wir ihnen sagen,