Ted McRied

Drei Wünsche


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kann dir schnell etwas anderes machen«, schlägt Lucy vor. Aber Ben ist bereits aufgestanden und fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er kann ihre Angst förmlich riechen.

      »Bitte nicht«, flüstert sie. »Denk an die Kinder.«

      »Nein«, flüstert Ben zurück. Beinahe zärtlich streicht er eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus der Stirn. »Daran denke ich gerade ganz sicher nicht.«

      Lucy weiß nicht, welchen der weinenden Zwillinge sie zuerst auf den Arm nehmen soll. Sie wendet sich Julian zu und legt ihn in die Wiege neben dem Sessel, den sie zum Stillen ins Kinderzimmer gestellt hat. Dann holt sie Levi aus seinem Gitterbett, dessen verzerrtes Gesicht mittlerweile eine bedenklich purpurne Farbe angenommen hat. Stöhnend sinkt Lucy mit ihm in die weichen Polster. Als ihre intimste Stelle mit der Sitzfläche in Berührung kommt, durchzuckt ein stechender Schmerz ihren Unterleib. Die Binde, die sie sich notdürftig in den Slip geschoben hat, um den Blutfluss aufzufangen, reibt über gerissene Haut. Mit der freien Hand streicht sie über Julians Wange und es dauert nicht lange, bis das Schreien nachlässt. Lucy betrachtet ihren Sohn in der Wiege und trotz der unerträglichen Lebensumstände muss sie lächeln. Julian ist der Stärkere von beiden, ein wenig Kontakt reicht ihm oft aus, um sich zu beruhigen. Ein Verhalten, das bei Levi undenkbar ist – der kuschelt sich zufrieden an den warmen Körper seiner Mutter, ohne dessen Nähe er die Nacht vermutlich durchschreien würde. Sein gleichmäßiger Herzschlag pegelt auch Lucys Puls nach und nach auf ein erträgliches Maß herunter. Sie bettet ihre Wange an sein Köpfchen und schließt die Augen. Kurz bevor sie einnickt, nimmt sie die Feuchtigkeit wahr, die sich in dem weichen Kopfflaum ihres Sohnes angesammelt hat. Mit einem Ruck ist Lucy hellwach und starrt das Rinnsal an, das ihm seitlich die Schläfe hinunterläuft. Im Dämmerlicht der Nachttischlampe ist die Farbe der Flüssigkeit schwer definierbar, die langsam in das Gewebe des hellen Stramplers sickert. Die dunklen Ringe schließen einen Schwall ausgespuckter Milch jedoch aus. Lucy nimmt mit der Fingerkuppe eine Probe und hält sie direkt unter den Lampenschirm. Blut! Wo kommt das her? In ihr wummert ein dumpfer Schmerz, hämmert von innen gegen die Schädeldecke, als wolle er sie mit Gewalt durchbrechen. Ihr Kopf schnellt in Richtung Tür. Sie hat sie abgeschlossen! Ganz sicher hat sie die Tür vorhin abgeschlossen! Doch das Licht, das durch den schmalen Spalt ins Kinderzimmer dringt, straft diese Überzeugung Lügen. Kalter Schweiß bildet sich auf Lucys Stirn, als ihr die Bedrohlichkeit der Situation vollends bewusst wird. Nahezu bewegungsunfähig im Sessel, mit Levi auf der Brust und Schmerzen in jeder Faser ihres Körpers – einen schöner angerichteten Präsentierteller könnte sie ihrem Ehemann kaum liefern. Vorsichtig tastet sie erst den Kopf ihres Sohnes, dann ihren eigenen ab. Der Kleine scheint unversehrt, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ihre eigenen Berührungen dagegen fühlen sich fremd an. Das, was sie dort ertastet, stimmt mit der Erinnerung an ihr Spiegelbild vom Morgen nicht überein. Die linke Gesichtshälfte ist angeschwollen und der Ursprung des Blutstroms schnell ausgemacht: Wo normalerweise eine fein geschwungene Augenbraue platziert ist, fährt ihre Hand über auseinanderklaffendes Gewebe. Levis kleine Faust krallt sich in ihre zerrissene Bluse, als wolle er seine Mutter nie wieder gehen lassen. Stöhnend steht Lucy auf und legt ihn zurück in sein Gitterbettchen. Beim Anblick der blutverklebten Babyhaut kann sie die unterdrückten Tränen kaum zurückhalten. So schnell ihr Zustand es zulässt, verschließt sie die Tür und schiebt den Sessel davor. Nichts und niemand wird sie in dieser Nacht mehr aus dem Zimmer bewegen. Als Toilette wird das Töpfchen herhalten müssen, das sie für die Kinder besorgt hat. Zugegeben, etwas verfrüht für Babys im Alter von wenigen Monaten, aber das Bedürfnis nach rechtzeitiger Vorsorge liegt nun einmal in ihren Genen. Sie ist immer überzeugt davon gewesen, dass sich jeder mit strukturierter Planung auf alle Eventualitäten vorbereiten kann. Erst die Ehe mit Ben hat ihr gezeigt, dass dies nichts als reine Illusion war. Ein rosaroter Wunschtraum – ein Netz aus Sicherheit, das nie wirklich existiert hat. Zurück im Sessel lehnt sie den Kopf nach hinten. Die Tür im Rücken ist ihr unangenehm, doch zumindest würde sie in dieser Position bemerken, wenn sie von außen mit dem Zweitschlüssel geöffnet werden sollte. Ihr letzter Blick gilt den Zwillingen, dann fallen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.

      Die Nacht ist unruhig. Mit jedem Erwachen werden die Schmerzen größer. Die Jungs verlangen nach Milch und Lucys Brüste sind kaum mehr in der Lage, dieses Grundbedürfnis zu befriedigen. Schließlich lassen die Babys sich von den mühsam herausgepressten Tropfen nicht mehr beruhigen. Sie schreien. Die schrillen Stimmchen schallen durchs Haus und jagen Lucy einen Adrenalinschub nach dem anderen durch die Blutbahn. In der Küche stehen Fläschchen und Milchpulver im Schrank. Warum ist sie nicht dort hingeschlichen, als Ben geschlafen hat und alles noch ruhig war? Dass ihr natürlicher Vorrat nicht bis zum Morgengrauen ausreichen würde, ist schließlich absehbar gewesen. Der emotionale Stress hat ihren Körper bereits vor Tagen zum unfreiwilligen Abstillen veranlasst. Die Angst vor einem weiteren Zusammenstoß mit ihrem Ehemann vernebelt ihr offensichtlich die Instinkte.

      Lucy schaut zur Wanduhr. Bunte Teddybären toben über das Zifferblatt und lassen die düstere Realität unwirklich erscheinen. Es ist kurz nach sechs. Um diese Zeit liegt Ben normalerweise noch im Bett. Zwar kommt er abends erst spät nach Hause, aber in der Früh ist er nicht vor neun im Büro. Lucy stößt einen erstickten Seufzer aus. Es hilft alles nichts: Sie muss etwas unternehmen. Der Sessel, der ihr die Nachtstunden über als Schutzschild gedient hat, bewegt sich nur schwer von der Stelle und ihre Kräfte sind am Ende. Vorsichtig streckt sie den Kopf zum Flur hinaus. Die Tür ihres Schlafzimmers liegt genau gegenüber, doch trotz der unüberhörbaren Alarmstimmung ist diese geschlossen. Schnell zieht sie die Kinderzimmertür ebenfalls hinter sich zu und verschließt sie sorgfältig. Bloß kein Risiko eingehen! Es ist nicht absehbar, wie weit Bens dunkles Potential reicht. Wer seine Ehefrau in diesem Ausmaß misshandelt, macht irgendwann auch vor dem Nachwuchs keinen Halt mehr. Und die Sicherheit ihrer Söhne steht für Lucy an höchster Stelle. »Ich bin gleich wieder da, ihr Süßen«, flüstert sie, wohl wissend, dass weder Levi noch Julian ihre Stimme von hier aus hören können. Sie schleicht zum Treppenabgang, der ins Erdgeschoss führt. Die Stufen knarren leicht unter ihren Füßen, was vom gedämpften Weinen der Kinder bizarr untermalt wird. Das Haus ist alt, aber aufwendig saniert worden, bevor sie es im letzten Jahr gekauft haben. Ein Traum im modernen Landhausstil, genau so, wie Lucy es sich immer gewünscht hat. Hätte sie nur im Entferntesten geahnt, wie hoch der Preis dafür am Ende sein würde – niemals wäre sie bereit gewesen, ihn zu zahlen. Auch wenn sie die Zwillinge über alles liebt und sie um nichts in der Welt hergeben würde, verflucht sie den Tag, an dem sie Ben begegnet ist. Den Tag, der ihr sorgenfreies Leben für immer beendet hat. Wie sehr sehnt Lucy sich nach ihrer kleinen Gartenwohnung zurück, die sie sich mit Kitty geteilt hat. Kurz nachdem ihre Schwangerschaft offiziell bestätigt war, wurde die Katzendame überfahren. Ihre Nachbarin fand sie zwei Straßen weiter im Rinnstein, weggeworfen wie ein ausgedienter Putzlappen. Damals glaubte Lucy an einen tragischen Unfall, heute nicht mehr. Dafür kennt sie Ben inzwischen zu gut. Vor dem Vorfall hat er sich sehr angeregt mit ihrem Gynäkologen über das Thema Toxoplasmose unterhalten. Eine Infektionskrankheit, die von Katzen übertragen und dem Ungeborenen gefährlich werden kann. Er hat Tiere schon immer gehasst und Kitty insbesondere. Die Kinder dagegen wollte er unbedingt. Als sie dann aber auf der Welt waren, war es vorbei mit seinem Interesse am Familienleben. Wie hat sie sich nur so in ihm täuschen können?

      Zwischen Lucys Beinen wird es nass. Bevor das Blut sich auf den hellen Holzdielen verteilen kann, biegt sie ins Bad ab. Das Weinen ist leiser geworden, begleitet sie aber immer noch wie eine Hintergrundmusik. Sie reißt einen Stapel Binden aus dem Regal und öffnet den Reißverschluss ihre Hose. Allein das Gefühl, wie der Stoff die Beine hinabgleitet und ihren Unterleib freilegt, zerrt alle Erinnerungen an die vergangene Nacht brutal zurück ans Tageslicht. Die Übelkeit wird übermächtig. Lucy klappt den Toilettendeckel hoch, fällt auf ihre Knie und lässt der Natur freien Lauf. Die Anstrengung treibt ihr Tränen in die Augen und ihre Zunge ertastet einen stumpfen Belag auf den ebenmäßigen Zähnen – der bittere Nachgeschmack wird sie noch eine Weile begleiten. Mühsam rappelt Lucy sich auf. Der Weg vom Bad bis in die Küche erscheint unüberwindbar, aus ein paar Yards wird eine schier endlose Strecke. Ihre Beine zittern, als wäre sie einen Marathon gelaufen, trotzdem erfüllen sie wider Erwarten ihren Zweck und bringen sie ans gewünschte Ziel. Vor dem Fenster bleibt Lucy stehen. Helle Streifen ziehen sich über den Horizont, die Morgendämmerung verspricht einen