André Vladimir Heiz

Der falsche Ton


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einst wird das Schicksal uns wieder vereinen“...

      Die Wiederholung leistet alles, sie nimmt das Buch in die Hand. Frank ist unfähig, sich selbst zu erklären, wie er beim Aufzählen vorgeht. Er verlässt sich auf seine Eingebung, die ihm einen Einfall zuspielt, wenn er sich ans Bett setzt, die Hand seiner geliebten Maman hält und irgendwo anknüpft. Jede Anstrengung oder Überlegung würde den Fluss der Rede behindern. Seine Ausführungen haben keinen Anfang und kein Ende, sie kreisen um einen Namen. Solange dieser etwas abwirft, kann es länger werden. Die Dauer des Interesses hängt von einer inneren Spannung ab, die sich im Gesicht seiner Maman spiegelt.

      Spürbar warm ist ihm ums Herz, wenn er sich über einem Namen und dem damit einhergehenden Lebensabschnitt aufhält. Die Ausstrahlung überträgt sich augenblicklich auf seine Maman. Ebbt die Intensität der Zuwendung aus, wird die Seite gewechselt. Ein anderer Name gibt den Anstoß, eine weitere Konstellation nimmt Formen an. Die Züge eines Gesichtes beleben sich, wie gehabt.

      Gerüstlos und anfällig wird das Ganze vom Reden als solches getragen, von einem eigensinnigen Rhythmus, der den Episoden den Platz anweist. Weitergehen, das muss es einfach, anders kann es nicht sein. Wie, das ist schließlich weniger entscheiden, Maman hört ja zu.

      Trotzdem können sich empfindliche Lücken breitmachen. Langeweile lässt die Spannung sinken, die heimtückische Frage nach dem Sinn taucht plötzlich auf. Dann scheint es, die Zuverlässigkeit der ununterbrochenen Rede schere aus, weil sich die Frage an Frank selbst richtet. Ein Sinn, fehlte noch! Nicht immer gelingt es, die Frage durch eine nachlässige Bewegung der Hand zu vertagen. Sie greift Frank an, der eben noch selbstvergessen erzählt, wie seine Bar, Tipptopp, renoviert wird. Wie Tim die Kabel seiner Apparate für den bevorstehenden Karaoke-Abend vernetzt. Wie sich Vanessa, von ihrem Großvater Cesare behütet, auf ihren unvergesslichen Auftritt vorbereitet. Das war einmal.

      Frank verlässt sich bei Fragen nach dem Sinn auf weiterführende Maßnahmen, erzählerische Tricks und Ticks, die ihm helfen, dem Angriff Herr zu werden. Als tauglich erweist sich der Reigen der Weltanschaulichkeiten meistens. Frank schöpft aus dem Vollen der geläufigen Tiefsinnigkeiten, kommt über unzulänglichen Verallgemeinerungen aber zu keinem Schluss. In der Regel setzt das Geschehen etwas später wieder ein, es nimmt seinen gewohnten Verlauf, und sei es, indem ihm Igor – wie aus einem Souffleurkasten – ein Stichwort zuflüstert. Es kann jedoch auch vorkommen, dass es in der Tat nicht weitergeht. Alles scheint ineinander zusammenzubrechen, es fehlt plötzlich an Atem, und die Wörter finden kein inneres oder äußeres Entsprechen mehr. Der Sinn hat es in sich wie eine „femme fatale“. Frank verliert den Kopf.

      Für drohende Ausweglosigkeiten und Sinnkrisen hat Frank eine naheliegende Lösung. Er legt Platten seiner geliebten Sängerinnen auf: Mistinguett, Barbara, Cora Vocaire, Jeanne Moreau, Juliette Gréco, Brigitte Bardot. Frank ist übermannt, Ah, ces femmes, er summt oder singt gar mit. Wie viel Schmerz sich hinter dieser elenden Frage nach dem Sinn aufstaut, kennen nur sie, die herzzerreißenden Damen mit ihren unverwechselbaren Stimmen, mit ihrer Hingabe, ihrer Empfänglichkeit für bittere Enttäuschungen und in ihrer grenzenlosen Bereitschaft zu leiden, gerade weil sie zu wissen meinen wofür. Melancholie ist der Seufzer der Ewigkeit. Aber ein Sinn, und erst recht ein tieferer, lässt sich dadurch auch nicht finden. Ein Lied ist zu Ende, es knistert, die Nadel des Tonarms schwächelt, ein nächstes beginnt.

      „Plötzlich ein schwarzer Adler!“...

      Als Barkeeper prahlt er oft damit, seine Memoiren schreiben zu wollen, ein Buch, in dem alles offengelegt wird, was es zu sagen gibt. Die Frauen fühlen sich geschmeichelt, ja, ihm dem Jäger und stimmgewaltigen Sänger, dem leibhaftigen Verführer trauen sie es allemal zu, nicht zuletzt in der Hoffnung, in einer bedeutenden Passage namentlich erwähnt zu werden – als eine der treuen Anhängerinnen an der Bar. Nur Anna glaubt Frank kein Wort, sie lächelt, worauf wartest du? An dieser Stelle würde sich ohne Zweifel Igor zu Wort melden. Ein Donnerwetter setzt es ab: Bücher, wozu Bücher? Und erst ein Buch über eine Bar? Die Welt findet in Gottes Namen anderswo statt und schon gar nicht zwischen den Zeilen. Roman würde an dieser Stelle beschwichtigend eingreifen, um nicht aus seiner Rolle zu fallen.

      Frank versucht ununterbrochen jemanden darzustellen, seinem inneren Bilde gleich, dem er jedoch nie auf die Spur kommt. Die Erinnerungen beharren auf diesen langjährigen Angestrengtheiten, jemand sein zu wollen. Und sie erweisen sich, gerade durch das wiederholte Mahnmal des Rückrufs, als furchtbar mühselig, weil sie sich nicht weglegen lassen wie ein Buch, auf das wir nach Belieben zwar zurückkommen mögen, aber das für eine Weile auch geschlossen bleiben darf, zumindest über Nacht.

      Als einer der beliebtesten Barkeeper auf der Mary Queen, auf der France, später an den exklusiven Adressen in aufstrebenden Quartieren einiger Großstädte hatte es ihn in die Provinz verschlagen. Tipptopp, für diese Bar hatten sich die Verhandlungen in einem Handschlag erledigt. Die Besitzerin war sichtlich erlöst. Er hatte diesen Wechsel nie als Abstieg verstanden, sondern als allmählichen Abschied, den er ein für allemal zu vollziehen nicht imstande war. Eine ruhige Kugel war noch zu schieben und vom Gebrannten loszukommen. Karaoke, das aber hatte ihn besonders gereizt. Am Tipptopp.

      Seit seine geliebte Maman gestorben ist, hat er im Leben keinen Halt mehr. Damit hat er nicht gerechnet. Er ist widerstandslos geworden, etwas dünnhäutig, eine Art Membran oder Sphäre, die von Reminiszenzen erschüttert wird. Es ist wie mit der Muschel aus dem Meer, die ihm seine Maman ein erstes Mal ans Ohr legt. Aus dem Rauschen dringen die Stimmen herüber, der Lockruf der Geschichten, das Strandgut der Wiederholungen. Frank hat das Nachsehen.

      Es gibt nun niemandem mehr etwas zu erzählen. Im Resonanzraum der inneren Muschel scheint sich das Verhältnis umzudrehen, als wollte ihm ein Engel oder ein Dämon die bekannten Anekdoten aufs Neue erzählen. Nicht so sehr der Reihe nach, sondern als aufgebrochene Schichten und Sichten wie in einem Traum, wo die Durchlässigkeit alles miteinander in Verbindung bringt. Er selbst treibt in einem Tümpel aus reiner Beliebigkeit und eigentümlicher Schlüssigkeit, der mit der weltlichen Logik oder mit der Vernunft nicht beizukommen ist. Nur Götter und Musen kennen das Geheimnis.

      „Meine Ruh’ ist hin, mein Herz ist schwer“...

      Manchmal kitzelt ihn die Vorstellung, ein Buch zu schreiben. Wahrscheinlich glaubt er, dadurch das bare Durcheinander einer ersichtlichen Ordnung überführen zu können. Es verwirrt ihn, dass in den Streifungen seiner Träume Personen in Erscheinung treten, die er nie zuvor gesehen hat. Oder es schleichen sich Menschen in die Bar ein, denen er erst jüngst begegnet ist, hier im Süden. Clemens etwa, der emeritierte Professor, seine Frau Elena und ein gemeinsamer Freund von ihnen, Christian Fleck.

      Ihr Haus war dem Feuer zum Opfer gefallen, was bei der Exponiertheit der Lage für die Hiesigen kein Wunder ist. Nun sind Sie unverdrossen mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Den Kindern zuliebe, meinen sie, für Michael auf jeden Fall, ein berühmter Neurologe, den der Vater wie Gott persönlich verehrt. Der Tatendrang vermag inzwischen auch die Einheimischen zu beeindrucken. Wer nicht aufgibt, hat sein Schicksal gemeistert. Man kennt die Deutschen.

      Nun kann es ja in Träumen wie in Büchern durchaus vorkommen, dass eine weitere Person sich einer einst erlebten Situation aufdrängt, sich dazu gesellt und wortreich einmischt, als wäre sie in Wirklichkeit dabei gewesen. Im Moment bewussteren Erwachens kann dieses anheimelnde Mitsein sogar einleuchten, auch wenn die imaginären Sphären mit ihren heimlichen Botenstoffen machen, was sie wollen. Frank ist ihrem Ansturm kaum gewachsen, weghören will nicht gelingen, denn die Ohrmuschel kann kein Geheimnis für sich behalten.

      „Die Gefühle haben Schweigepflicht!“...

      Einige Wochen nach dem Tod seiner geliebten Maman geht Frank in die kleine Schreibwaren- und Buchhandlung im Dorf, wo er seit seiner Rückkehr noch nie gesichtet wurde. Er kauft zum Erstaunen der Verkäuferin einen Ordner, ein alphabetisches Register und Papier. Das geht in Ordnung.

      Dieser Schritt, der ihn über den Dorfplatz in den Laden führt, ist so außerordentlich und auffällig, dass er bald einmal die Runde macht. Man spricht ihn darauf an, als er einen Pastis bestellt, auf der Terrasse der Bar Aux Oliviers. Auskunft