André Vladimir Heiz

Der falsche Ton


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Ungefähr nimmt Formen an, Nächte sind es, an die sie denken, Zimmer sind es, die sie sehen, das Fenster wird ihnen am Morgen den schönsten Ausblick bieten, Feuer, Wasser, Himmel, ein gelobtes Land. Oder sie schauen gar über sich selbst hinaus und nehmen in diesem freizügigen Zeitraum Anlehnungen auf. Dann sind sie ihren Vorbildern und Ahnen auf der Spur.

      Sie haben alle einen Vorläufer, einen Wiedergänger, sie haben einen Zwillingsbruder oder eine Halbschwester. Die haben es geschafft oder sind noch nicht geboren. In diesen Verdoppelungen wartet die Zukunft auf sie. Sie brauchen sich nur anzuschmiegen, ihre Begrüßung auf die andere Seite gerichtet zu wiederholen, um in der Fülle der Hoffnungen aufzugehen. An ihrem Eigennamen halten sie weiterhin fest, wenn sie abrupt zurückversetzt werden, an die Bar, wo der festgefahrene Teil ihrer selbst sitzt. Diese Selbstverständlichkeit empfängt sie nun wieder. Sie sind fremdgegangen; der Abstecher ist jedoch unbemerkt geblieben.

      Woher sie kommen? Wohin sie gehen? Wenn sie wüssten. Sie finden auf diese endlichen Fragen nur flüchtige Antworten. Sie kennen zwar die geläufigen Erklärungen, die man ihnen aufgedrängt hat, weil es offensichtlich keine besseren gibt, aber sie passen ihnen nur im Notfall oder wenn sie vollkommen übermüdet sind.

      Sie sind gebrannte Kinder. Wie klein man sich machen muss, das ist ja unerhört, wenn man unter den Wehen, die sich alle drei Minuten wiederholen, ausgestoßen wird, ein für allemal, das hält ja kein Kopf aus, wenn der da durchmuss. Seither kennen sie Engpässe in allen Lebenslagen.

      Sie müssen den Nachweis ihres Daseins immer wieder antreten, jeden Tag und jeden Abend aufs Neue, sonst würde kein Mensch glauben, dass es sie wirklich gibt. Erst mit der Zeit und durch die Wiederholung ihrer gegenseitigen Beschwörungen nehmen sie Hand und Fuß an. Sie hören auf einen Namen, der nicht auf ihrer Identitätskarte steht.

      „Du da, das gibt’s ja nicht!“...

      Ganz die Mama! Hast du die Mütze angezogen? Hast du die Handschuhe eingesteckt? Vergiss den Schal nicht! Es ist noch kühl, heute Morgen. Hast du auch wirklich gefrühstückt und dann die Zähne geputzt? Sunhild, ihre Tochter, sagt am anderen Ende des Drahtes nur ja. Sie kennt die morgendlich gewohnten Nachfragen, die wie ein Refrain den neuen Tag begrüßen. Ja zu sagen, macht alles einfacher.

      Maria nimmt ihren Dienst am frühen Morgen auf. In der Tiefgarage steht der Dienstwagen bereit. Der Chef gesteht ihr den Mercedes zu, er schätzt ihre Zuverlässigkeit.

      Christian Fleck ist ihr erster Kunde, Tag für Tag. Wenn sie in die Querstraße des vornehmen Wohnquartiers einbiegt, steht er bereits vor der Haustüre. Guten Morgen, Maria, gut geschlafen? Sobald sie bei der Ausfahrt der Hochstraße zum Hafenviertel ankommen, ruft sie ihre Kinder zu Hause an. Christian Fleck wird Zeuge ihrer mütterlichen Sorge. Schläft dein Bruder noch? Pass auf dich auf! Ich umarme dich, bis später. Wenn Lukas nur endlich begreifen würde, dass man im Leben rechtzeitig aufstehen muss. Sie seufzt. Fleck zeigt Verständnis. Nach diesem morgendlichen Wortwechsel wird sie ihn in den Tag entlassen. Außer den üblichen Höflichkeiten, die am Rande ausgetauscht werden, bestimmt ihr Anruf die Fahrt.

      Christian Fleck erkennt die Stimme ihrer Tochter Sunhild sofort, diese schlaftrunkene Folge von ja, ja, jaja die an der erwarteten Stelle aus dem Lautsprecher in den Wagenraum fallen. Alles in Ordnung? Christian Fleck kann nicht umhin, die Frage zu stellen, wenn sie das Gespräch beendet. Als Mitwisser auf dem Nebensitz scheint ihm die angespannte Atmosphäre väterliche Gefühle abzuverlangen.

      Er steigt immer am Eingang des Hafenviertels aus, um ein kleines Wegstück zu Fuß zu gehen. Seine Kanzlei befindet sich im neunten Stock eines Docks, das von einer renommierten Architektin umgebaut wurde. Er zieht die Treppe dem Aufzug vor. Die durchgehende Verglasung des Anbaus gibt den Blick auf den Betrieb im Hafen frei. Oben angelangt betritt er die lichtdurchfluteten Räumlichkeiten und bittet seine Sekretärin um einen Kaffee, bevor nun auch er den ersten Anruf entgegennimmt.

      „Und wer ist dran?“

      Der Mont Ventoux, das ist das Stichwort. Alle ihre Freunde kennen es und damit die Geschichte, die sich dahinter verbirgt. Es war Vorsehung glücklich gestimmter Götter, sagt Elena. Reiner Zufall, sagt Clemens. Darüber wird niemals Einigkeit bestehen.

      Das Stichwort fällt, wenn sie Bekanntschaft schließen, näher rücken an einem Tisch, und zu späterer Stunde innigere Beziehungen geknüpft werden. Über den Mont Ventoux. Meistens ist es Elena, die ihm das Wort zuspielt. Und Clemens beginnt zu erzählen, wie sie sich heillos verfahren.

      Sie übernachten nach einem Ausflug auf den heiligen Berg, den er nur am Rande erwähnt, in Sault, in der Auberge du Micocoulier, mitten in einem Olivenhain. Am folgenden Morgen stehen sie früh auf, sie wollen am späteren Nachmittag die Küste erreichen, die Nacht in Saint-Maxime oder Saint-Raphaël verbringen. Die Wirtin empfiehlt ihnen eine Strecke, die abseits vom Strom der Touristen durch das Hinterland führt, zwischen Manosque und Brignoles mitten durch die Hügelzüge. „Manosque“ und „Brigonles“, das müssen sie sich merken, der Umweg verspricht Sehenswürdigkeiten und unglaubliche Aussichten. Sie werden sehen, es lohnt sich.

      In der Tat sie sind überwältigt, die Landschaft hat es in sich. Sie verlieren ihr Tagesziel mehr und mehr aus den Augen. Es ist sonnenklar, es ist eine Vorsehung. Elena wirft das Wort ein, in diesem Zusammenhang überzeugt es. Das vibrierende Licht wiegt sie in eine übermütige Stimmung, in der sie plötzlich zu allem bereit sind. Sie lassen sich sorglos zu Abstechern auf kurvenreichen Kleinstrassen hinreißen und verpassen nach Saint-Luc genau jene Abzweigung, auf die sie die Wirtin ausdrücklich aufmerksam gemacht hat.

      Das fällt ihnen in diesem Augenblick nicht auf; die Vermutung stellt sich später ein. Am Radio, das sie ausnahmsweise eingeschaltet haben, erklingt eines jener süffigen Chansons, das nach ein paar Takten schon auf ein offenes Echo stößt, wenn auch nur einen Sommer lang. Jetzt aber zählt einzig die Gegenwart. Das Glück fragt selten nach dem Weg.

      Nach einer passähnlichen Überfahrt stellt sich ihnen im Massif des Maures buchstäblich ein Weiler in die Quere. Sie halten an. Ein offenes Tor verführt sie, einen verwilderten Garten zu durchqueren. Die Wirklichkeit nimmt sie bei der Hand, sie will ihnen dieses Wunder nicht vorenthalten. Der überwucherte Weg lässt sie auf einer natürlichen Terrasse ankommen, die den Blick auf die umseitigen Hügelzüge und in den Golf zwischen Saint-Tropez und Saint-Raphaël freigibt. Und leicht nach hinten versetzt, von Pinien und Büschen beschützt liegt dieses Haus. Clemens zeigt ein Bild. Unser Haus, sagt Elena.

      „Es braucht immer zwei!“

      Da bin ich! Braucht es noch gesagt zu werden? Er nimmt den ganzen Raum ein, bildsprengend seine Leibesfülle, unverkennbar sein Akzent: Seine Heiligkeit, seine Eminenz, Herr General, Sir Igor Birdwhistle. Herrgott, unglaublich, wie viele Leben der sich hier andichtet. Die Läufe verlieren sich im Ungewissen, die Herkunft hat wechselnde Ursprünge.

      Mit eigenen Augen habe er die Ausmerzung des Daseins gesehen im Überbleibsel einzelner Initialen, eine letzte Spur zum Abschied hinterlassen auf einer Mauer wie ein Schrei. Orgien des Hasses kennen keine Grenzen.

      Igor ist überzeugt, dass seine geschwätzigen Freunde an der Bar vom eigentlichen Leben, geschweige denn vom Tod, keinen blassen Schimmer haben. Fürchterliche Naivlinge sind sie, die ständig an der Nase herumgeführt werden. Jedenfalls glauben sie nicht wie sein arabischer Freund Naim an die Unverrückbarkeit ihrer Todesstunde, sie wollen leben.

      Alt und weise sagen die einen, wahrscheinlich einst im Geheimdienst die anderen, undurchschaubar bleibt Igor für alle. Er wohnt im Hotel; das ist das Einzige, was sie mit Sicherheit wissen. Hemd und Krawatte fehlen nie, das steht schon in den Memoiren von Churchill, ein rechter Mann tritt nie unrasiert zur Schlacht an. Igor gehört zur Bar, seit es sie gibt. Bar bleibt Bar, sagt Igor, stehe die nun in Antwerpen, Beirut, Biel, Darmstadt, Lille, Travemünde oder Zurabad. Er hat sie alle kommen und gehen sehen, Besitzerinnen, Pächter und Aushilfen. Frank hat er jüngst das Du angeboten.

      Igor ist auch am Morgen hier anzutreffen, wenn der hintere Teil der Bar mit der Karaokebühne noch geschlossen ist, die Terrasse jedoch während der freundlichen Jahreszeiten durch die Strahlen der Morgensonne zu einem ersten Kaffee einlädt. Im Inneren ist nur das Rauschen