André Vladimir Heiz

Der falsche Ton


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seinem Leben ist Frank bislang nie gedemütigt worden, fehlte noch, einer sollte es wagen, zu motzen oder ihn anzugreifen. Kommt nun den Erinnerungen und Träumen diese vernichtende Rolle zu? Bekanntlich vermögen auch Träume listenreich vorzugehen mit ihren zermürbenden Attacken aus dem Hinterhalt. Im Folgenden weist ihn ein Buch zurecht, das er zu schreiben zwar nicht imstande ist, das ihn jedoch traumatisiert wie ein grober Wälzer.

      Für Schwächen, von Memmen ganz zu schweigen, interessiert sich kein Mann wie Frank, solange er stark ist. Erwacht er plötzlich geschwächt, ist es bereits zu spät. Er ist am Ende, bevor es begonnen hat. Schicksal? Dieses gewichtige Wort kommt nicht über seine Lippen.

      Eine Siesta ist eine Siesta ist eine Siesta und genügt sich selbst, obschon sie im Habitus von Frank ungewohnt und neu ist. Sie widerspricht jeder literarischen Pässlichkeit. Er, der triebhafte Anstifter erliegt dem Pastis, dem Rotwein, das erfüllt das erwartete Klischee vorbildlich. Er hat seine geliebte Maman verloren. Das fängt ja gut an. Der Ansturm der Erinnerungen hat ein leichtes Spiel, mangels Frauen, versteht sich, obschon die Sublimation auch nicht sein Thema ist.

      Dass sich in der Begegnung mit dem Tod vor dem inneren Auge, in der Seele, am neuralgischen Punkt so etwas abspielen soll wie ein Film, ist eine Spekulation und wahrscheinlich eine schiefe Metapher. Wiederbelebt werden die Bilder und Fragmente nur, solange diese Frank als Projektionsfläche benutzen können. Sie machen ihm das Leben zur Höhle, in der unterschiedlichste Stimmen zu Wort kommen. Immer lauter werden sie. Frank ist der Schatten seiner selbst. Das ist neu.

      Aus der Zypressenwand lugen sie hervor wie lebensgroße Marionetten, Mona und Tim, Elena und Clemens, Ruth und Valentin, Vanessa und Cesare, Igor, Roman, Doppelpunkt:: so heißen sie nun mal. Noch ist die Liste nicht ganz vollständig „Wo bist du, Anna?“ Frank spricht dem letzten Schluck Rotwein zu. Schon ist er untergetaucht in einen entrückten Zustand, der ihn dahin versetzt, wo sein Traumrausch ihn behaftet. Hinter dem Tresen seiner Bar Tipptopp. Heute weht der Marin; keine Wolke trübt das Bild.

      „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe.“

      Im Chor

       "Sieht man die Menschen sich sehnen, sieht ihren Schmerz, ihre Tränen, fragt man sich immer nur, muss das so sein? Immer nur scheiden und weinen, immer nur warten und leiden, und hier so wie dort bleibt jeder allein! Unsere Welt sei so schön, sie wollen niemals auseinandergehen"...

      Mona klatscht als erste. Sie hört jedoch nichts, die Stimmen bleiben stumm. Ihre Augen verfolgen das Vorüberziehen der Buchstaben auf der Leinwand. Sie werden auf ein Himmelszelt gezaubert und erscheinen in einer ausgezogenen Schrift, deren Umrisse mit Farbe ausgefüllt werden, wenn diese Wort für Wort im rhythmischen Einher der Melodie gesungen werden. „Sie wollen immer beieinanderstehen.“ Der Satz zieht sich in die Länge. Keine Silbe geht verloren, der Text ergibt sich dem Fluss. Er leuchtschriftelt ungerührt daher, mache er nun Sinn oder nicht. Eingeblendete Unterstreichungen sprechen auf die erwünschten Betonungen an, wenn sie der Fall sind. Darauf kommt es beim Singen an. Vanessa macht es allen vor.

      Auf dem Podest steht jetzt ein junger Mann. Wann kommst du wieder in meine Arme? Mona liest den Wortlaut von seinen Lippen ab und beobachtet gleichzeitig, wie die einzelnen Wörter von der Bildfläche nach und nach wieder verschwinden, wenn sie ausgesungen sind. Manchmal entfällt ihr ein nöliges Summen, von dem sie nicht weiß, ob es die Tonlage trifft. Aber die entfesselte Menge, die jetzt den Refrain übernimmt, grölt so laut: "Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben", dass sie die Ballung der Lautstärke auch nicht ertrüge, wenn sie hörte.

      Heute sind neue Titel eingetroffen, die noch nicht im Register aufgenommen sind. Tim gibt ihr einen Kuss und zeigt ihr die Liste. Mona geht der Reihe nach. Sie lächelt. Sie kennt die Lieder fast alle auswendig.

      „Hier ist es zu laut, komm, gehen wir, man versteht ja sein eigenes Wort nicht“...

      Gegessen ist das noch lange nicht, da nimm, Bissen um Bissen, bis alles aufgeputzt ist, brav, ein Gäbelchen voll Spinat für die liebe Omama, aus ihrem eigenen Garten kommen die Blätter, handverlesen, taufrisch gedünstet, dann mit weißen Zwiebeln, fein gehackt, in Butter gewendet, schwipp, schwapp, schwupp, schon kommt er auf den Teller für den kleinen Mann, was zum Lukas will der mehr.

      Ein Kartoffelklößchen für die liebe Mama, wie gut sie heute wieder gekocht hat, Lirum, Larum Löffelstiel, hat der kleine Bär keinen Hunger mehr? Mund auf, Mund zu, schnippschnapp, ein letzter Happen Fleisch für den Bruder Lustig, Peter Pan, Jim Knopf und Harry Potter. Über das Kinn mit dem Latz, du niedlicher Fratz, schau mich nur so an, Grünschnabel, schon bald wirst du nicht mehr essen wollen, was auf den Tisch kommt, ein Haar in der Buchstaben-Suppe wirst du finden und das letzte Wort haben wollen, es ist Dir anzusehen, Lukas, mein Lukas, gib mir einen Kuss.

      „Du kommst noch groß heraus, dafür leg ich die Hand ins Feuer“...

      Aber Anna! Fang nicht wieder damit an. Wir alle kennen doch die Geschichte. Damit kannst du nicht noch einmal kommen. Frank schenkt nach. Wir verstehen dich beim besten Willen nicht. Warum hast du dich bloß darauf eingelassen? Wir haben dich alle gewarnt, du erinnerst dich, von Anfang an. Roman fand wie immer das treffende Wort, und Katja meinte es nur gut mit dir. Ich war ja dabei.

      Du zehrst am Nerv. Was für eine Geschichte, wie kannst du nur darauf hereinfallen? du bildest dir ein, jemand würde sich an dich erinnern. Du meinst, den Lauf der Zeit anhalten und zurückkehren zu können, dorthin, woher du zu kommen glaubst. Es kennt dich jedoch niemand mehr in Syrakus, das war es doch? Anna weint sich aus.

      Ewig gestrige Vorstellungen, im offenen Kamin der großen Küche brennt ein Feuer. Sie tritt durch die fensterlose Hintertüre auf die enge Gasse hinaus. Da liegt der Ursprung, endlich Heimat unter den Füssen. Die Kirche bleibt im Dorf, die Männer drehen sich um nach ihr, die Erde ist ein Olivenhain, ein aufgeklärter Himmel wölbt sich versöhnlich über Land und Strand. Die Alten erinnern sich nur entfernt an ihren Namen, die lichtscheuen Weiber fahren mit dem Handrücken über ihr gezeichnetes Antlitz, als wollten sie lästige Fliegen vertreiben oder dem Schweiß zuvorkommen. Eva, sagt die eine, Maria, murmelt die andere, nein, Anna, betont die dritte. Sie gehen weiter, sie reden über Annas Großmutter.

      Ach, die unerbittliche Wirklichkeit: Jetzt bist du wieder zurück. Auf der Stelle willst du hier erneut anfangen, die Vergangenheit verabschieden, indem du uns die ganze Geschichte noch einmal erzählst, von ganz vorne, die Seele von herben Enttäuschungen belastet. Du wiederholst dich, seit wir dich kennen. Unverbesserlich beschwörst du das Schicksal herauf, als ob dich Deine Geschichte endlich in die Gegenwart entlassen könnte. Hier bist du, hier musst du bleiben, wir haben dich lieb. Anna sucht ein Taschentuch; Roman hat eines.

      „Du hast gut lachen, aber ich komme einfach nicht darüber hin weg“...

      Hilf mir, ich bin maßlos überfordert. Elena schaut ihm über die Schultern. Der Tisch ist gedeckt. Morgen bringt der Gärtner die Blumengebinde, rot, weiß, blau, die Trikolore. Clemens wird sich freuen.

      Die Karten in der Hand hat sie sich die Sitzordnung noch einmal durch den Kopf gehen lassen; halbfett fallen die Namen unter ihren Bildern aus. Sie hat bewusst eine Auswahl getroffen und die Aufnahmen einzelnen Personen zugeordnet. Auch Landschaften haben ein Antlitz, das sich einprägt. Clemens kennt ihre Ansichten. An Himmel und Erde werden Licht und Züge fassbar, die sie mit körperlichen Eigenschaften in Verbindung bringt. Die Welt besteht für sie nur aus Menschen. Dieser einzigartigen Unfassbarkeit begegnet sie mit einem eigenen Bild.

      Christian fällt aus; sie hätte ihn gerne neben sich gesetzt. Seit Monaten beschleicht ihn eine unheimliche Krankheit – darüber jetzt kein Wort. Clemens tut sich mit der Tischordnung schwer. Sie will ihm nicht dreinreden, es ist schließlich sein Geburtstag. Es genügt, wenn sie neben ihm steht und seine Erwägungen zugeneigt teilt.

      Der plötzliche Entschluss zu dieser Einladung hat sie überrascht. Immer wieder beklagt er sich darüber, hier nie richtig Fuß gefasst zu haben. Was hältst du von einem Fest zu meinem Geburtstag? Sie befinden sich auf der Heimreise aus dem Süden. Sie stecken