Daniel Wächter

Strich


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das Einzugsgebiet von Meyers Fällen, durchschnittlich vier pro Monat, über den gesamten Kanton Zürich, meistens beziehen sie sich doch auf die Stadt Zürich, wo der Kommissar im Schnitt zwei Fälle pro Monat zu lösen hatte. Der dritte monatliche Fall ereignete sich generell in der Agglomeration Winterthur, ansonsten kamen die restlichen Notrufe wegen Mordes oder Vergewaltigung, die den vierten Fall ausmachen, mehr oder weniger aus dem Ober- oder dem Unterland, seltener aus dem Weinland, das mit knapp einem Verbrechen pro Jahr die klar niedrigste Quote aufwies.. In der Weihnachtszeit ereigneten sich statistisch gesehen mehr Kapitalverbrechen als in den übrigen elf Monaten des Jahres.

      Die 17-jährige wurde offensichtlich von ihrem 19-jährigen Freund erdrosselt, nachdem sie ihm die Schwangerschaft gebeichtet hatte – sie war nämlich von ihrem Vater, der sie regelmässig vergewaltigt hatte, geschwängert worden. Meyer kriegte die Bilder des Mädchens, die feuerroten Abdrücke des als Tatwaffe genutzten Taus an ihrem Hals, der starre Blick, die geweiteten Pupillen, das Erbrochene in ihrem Rachen, kaum aus dem Kopf. Ihr Freund, der in einem Seuzacher Kindergarten seinen Zivildienst absolvierte, hatte den Tau von einem Klettergerüst des Kindergartenspielplatzes abgeschnitten. Er hatte auf Meyer nie den Eindruck eines eiskalten Mörders verübt, so wie er weinend in seinem Zimmer dasass, als er zum ersten Mal befragt wurde. Weinend, so dachte Meyer damals, aus Trauer um den herben Verlust seiner Freundin. Dass es einfach nur Verzweiflung hätte sein können, wäre dem Kommissar nicht im Geringsten in den Sinn gekommen. Das weit über den Horizont reichende Denken, das dem ehemaligen Interpol-Agenten den Weg zum Kripochef des Kantons Zürich geebnet hatte, war mit zunehmendem Alter immer mehr in den Hintergrund gerückt, bis es nun gar nicht mehr zum Vorschein zu kommen scheint.

      Und nun standen sie abermals vor dem Haus.

      „Komm Gian! Wir müssen rein!“, sagte Steiner.

      Meyer warf einen Seitenblick auf das Ehepaar. Die Ehefrau konnte sich nicht beruhigen, obwohl fünf Beamte auf sie einredeten. Tränen flossen wie Sturzbäche über ihre Wangen.

      „Er hat nichts gemacht! Lassen Sie ihn doch in Ruhe, suchen Sie doch alle Fehler bei sich selbst!“, schrie sie wild gestikulierend. Ihre Stimme überschlug sich fast.

      Meyer sah Steiner zweifelnd an.

      „Nun sei kein Angsthase! Es ist schrecklich, ich weiss, aber wir haben keine andere Wahl!“, rief Steiner.

      „Ramon, ich glaub, ich habe genug von allem!“

      Steiner kicherte leise und klopfte Meyer auf die Schulter.

      „Hör mal Gian! Du bist der alte Hase im Geschäft! Du hast alle Fälle gelöst! Klar geht das an die Substanz, aber du bist nicht nur mein Vorbild, du bist der Grandseigneur! Das Symbol des Kampfes gegen alle Verbrechen im Kanton! Also reiss dich zusammen!“

      Steiner stapfte mit schweren Schritten zur offen stehenden Wohnungstür.

      Meyer war über Steiners emotional geführten Vortrag sichtlich überrascht und schaute seinem Kollegen nach, wie er auf den Hauseingang zuging. Erst als Steiner wild winkte und ihm mit einer geschwungenen Handbewegung zum Eingang bewegen wollte, setzte er sich in Bewegung.

      „Wenn du meinst“, sagte er und folgte seinem Kollegen. Als sich die Eltern des Tatverdächtigen den beiden Ermittlern in den Weg stellen wollten, wurden sie von den Beamten gewaltsam zurückgehalten. Meyer glaubte gar einen schwingenden Gummiknüppel gesehen zu haben.

      Sie betraten das Haus. Der Eingang war geschmacksvoll eingerichtet. Eine Holzbank im englischen Stil bildete das Entree. Eine grosse Topfpflanze war als Schutz vor der Kälte in den Eingangsbereich getragen worden. Meyer konnte trotz eines kleinen botanischen Wissens den genauen Namen der Pflanze nicht eruieren. Eine geschwungene Holztreppe führte ins Obergeschoss, an eine vom Eingangsbereich abgehende Tür war ein hellbraunes Holztäfelchen angenagelt, auf dem dunkelbraun Keller eingebrannt wurde. Auf einem zweiten stand Garage und auf einem dritten Wachküche. Meyer fragte sich, ob das fehlende s den Bewohnern schon aufgefallen war.

      Meyer und Steiner gingen ins Obergeschoss. Hier gingen rechterhand mehrere Türen ab. Auch sie waren mit den eingebrannten Holztäfelchen bestückt: Küche, Toilette, Schlafzimmer, Leandra, Raphael, Büro. An der Decke waren die Umrisse der herauszuziehenden Dachstockleiter zu sehen. Auf der linken Seite der beiden Ermittler lag ein mittelgrosses Wohnzimmer, das einzige Zimmer, das von der Diele aus nicht durch eine Tür versperrt war. Ein doppelter Deckenstrahler hing fest an einem der Dachbalken aus Holz, ein Flachbildfernseher hing an der Wand, direkt unter der abfallenden Schräge des Daches. Auch hier befanden sich wieder einige Pflanzen, die Familie schien ein Faible zu haben, gar den grünen Daumen zu besitzen. Der um die Ecke dem Fernseher gegenüber stehende Kamin schien seit Jahren nicht benutzt worden zu sein. Nur zwei Holzscheite lagen in einem Kupfertopf und die Rückwand des Kamins war stark verrusst. Auf dem Tisch auf halben Weg zwischen Kamin und Fernseher stand ein grüner Adventskranz, auf dem drei der vier roten Kerzen brannten. Irgendwo dudelte ein Radio gerade die neusten Hits der Weihnachtshitparade auf und ab.

      Steiner schaute Meyer fragend an und wies auf die Tür mit dem Raphael-Schild. Meyer nickte.

      Die beiden Ermittler gingen auf die Tür zu Raphaels Zimmer zu. Raphael Ferkovic, das war der Name des Hauptverdächtigen.

      Meyer setzte die Faust zum Klopfen an, atmete tief durch und prasselte mit der Faust ein paar Mal gegen das Holz der Tür.

      „Aufmachen!“, schrie der Kommissar.

      Nichts geschah.

      Meyer trommelte stärker gegen die Tür, bis sie nachgab und sich öffnete.

      Das Zimmer war wie jedes gewöhnliche eines Jungen in seinem Alter eingerichtet. Martin hatte seins in Gertruds Haus in Oerlikon ähnlich gestaltet, das letzte Mal, dass er es gesehen hatte, war letztes Jahr gewesen.

      Wie im Wohnzimmer war auch hier die Schräge des Daches deutlich zu erkennen, zwischen den Dachbalken hingen Bilder, die vermutlich aus Raphaels Kinderzeit stammten. An der Rückseite der Tür wurde diagonal ein Schal des lokalen Challenge League-Klubs FC Winterthur aufgehängt, mit Nadeln war er am Holz der Tür befestigt worden. Ein Bett, ein Tisch mit einem modernen Computer, eines dieser angesagten iPhones samt den berühmten Apple-Kopfhörern auf dem Tisch und ein Schrank. An der Wand hingen ein Poster des englischen Spitzenvereins Manchester United, aufgenommen bei der Siegesfeier des bisher letzten Champions League-Triumphes 2008 in Moskau sowie ein zweites der Simpsons. Homer, Marge, Bart, Lisa und Maggie grinsten, auf ihrem braunen Sofa sitzend, von der Wand hinunter. Auf einem offenen Regal neben dem Bett stand ein Foto. Es zeigte ein hübsches Mädchengesicht, das lachte: Vanessa, das Opfer. Niemals wird sie auf dieser Erde je wieder lachen. Meyer beschlich ein trauriges Gefühl.

      Raphael Ferkovic sass vor dem Computer und spielte ein Game, dessen offene Hülle neben dem Jungen auf dem Boden lag. Counterstrike. Diesem Egoshooter war Martin zu Zeiten der Scheidung zwischen ihm und Gertrud auch verfallen gewesen. Bei Martin diente es als Ablenkmanöver während eines Durchhängers an der Schule – er war im August 2008 im dritten Schuljahr des Gymnasiums sitzen geblieben, bei Raphael diente Counterstrike zum Ablenken vom Tod der Freundin – oder von seiner grauenhafte Tat selbst – zur Überdeckung von Schuldgefühlen etwa.

      „Verdammt!“, fluchte der Junge und schlug mit beiden Händen auf die Tastatur, nachdem seine Spielfigur vom Feind erwischt worden war.

      ‚You have no bullets!’, stand in hellgrünen Lettern über der Waffe, die aus der Sicht des Betrachters in den Hintergrund der dreidimensionalen Grafik zielte. Raphael hatte den Besuch der beiden Beamten noch nicht bemerkt.

      Meyer räusperte sich.

      Raphael fuhr panisch herum. Das längere schwarze Haar war ihm ins Gesicht gefallen. Er erkannte Meyer und Steiner vom gestrigen Besuch, als sie ihm die Nachricht von Vanessas Tod überbracht hatten.

      „Was machen Sie hier?“, fragte er sichtlich erschrocken.

      „Gib es zu, Raphael. Das was du mit Vanessa gemacht hast!“, erwiderte Meyer ruhig.

      „I-Ich hab nichts gemacht!“ Er schüttelte energisch den Kopf. Meyer