Daniel Wächter

Strich


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Du hast sie erdrosselt, weil sie von einem anderen schwanger war!“

      „Es war ihr Vater, verdammt noch mal!“, schrie Raphael auf, schleuderte die Tastatur an die Wand und begann zu schluchzen. „Dieser perverse Sack!“

      Das Schluchzen wurde immer stärker, zwischendurch japste der Junge um Luft zu schnappen.

      „Immer hat sie geheult, immer ging es ihr schlecht, weil er sie wieder mal gefickt hatte. Sie hatte keine Chance. Mit Gürteln hatte er sie am Bett festgezurrt und sie dann vergewaltigt, anal und vaginal. Manchmal kam noch ein Freund von ihm vorbei und sie taten es gleichzeitig. Ich wollte ihr nur helfen und sie von ihren Qualen befreien“, fügte er hinzu, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte.

      „Hat Sie Ihnen…dir etwas davon erzählt?“, fragte Meyer leise. Er ekelte sich schon ab der Vorstellung, was Vanessa zu Lebzeiten widerfahren war.

      „Nein!“, schluchzte Raphael. „Sie war immer scheisse drauf, aber einmal, als ich mit ihr ein Date hatte, war ich zu früh dran.“ Er rang nach Worten. „Ihr Zimmer ist…war ebenerdig. Man konnte von der Einfahrt direkt hineinsehen. Und da sah ich, wie ihr Vater…sie…“ Er heulte drauflos. „Ich wollte ihr wirklich nur helfen! Glauben Sie mir, es war das Beste für sie!“

      „Aber gleich mit Mord?“, wollte Meyer wissen, der den Jungen für weniger zurechnungsfähiger hielt als es zunächst den Anschein gemacht hatte.

      „Ihre Seele war beschädigt, ihr Leben verschmutzt. Jeden Tag hätte sie an diese scheusslichen Sachen denken müssen, jeden Tag! Wer will da noch leben!“

      „Es tut uns leid, Raphael, aber wir müssen dich mitnehmen!“

      Da brach der Junge erneut in Tränen aus und fiel vom Stuhl. Keuchend schnappte er nach Luft. Der Brustkorb senkte sich rasend schnell.“

      Meyer kniete zu ihm nieder und versuchte, ihn zu beruhigen.

      „Ganz ruhig! Du hast das getan, was du für richtig hieltst!“

      „Ich wollte ihr doch nur helfen!“, jammerte Raphael.

      Der Junge war vermutlich mit der Situation überfordert gewesen und sah in Mord den einzigen Ausweg. Jedoch lag das nicht dem Mangel an Erfahrung bei Streitlösungen zugrunde, auch Rentner morden noch. Meyer schien dem Täter tatsächlich zu glauben, dass der Junge vielleicht das Mädchen vor den Qualen des Vaters schützen wollte. Estermann war fuchsteufelswild geworden und hatte Meyer als Perversling bezeichnet.

      „Wann begreift es diese Welt endlich, dass Worte die beste Lösung von Konflikten sind?“, pflegt Meyers Chef, der Polizeipräsident Philipp Estermann, stets zu sagen.

      Dieses Zitat war Meyer während des Wochenendes mehrmals durch den Kopf gegangen.

      Aber auch für die Ermittler waren die Untersuchungen ein Grauen gewesen, allen voran der Vater der Toten, welcher zu allem Übel noch mit dem Inzest geprahlt hatte. Meyer hätte am liebsten gekotzt, als dieses Arschloch vor ihm stand und nur so vor Testosteron geprotzt hatte.

      Zur selben Zeit betrat Lilijana Perkovic die Skymetro am Terminal E in Kloten und setzte sich auf einen der freien Plätze. Vor etwa einer halben Stunde war sie aus Pristina gelandet. Vor zwei Monaten war ein Mann an ihr Gymnasium gekommen, der ihr gesagt hatte, dass ihre naturwissenschaftlichen Talente massiv beeindruckten und die Eidgenössisch-Technische Hochschule in Zürich massives Interesse hätte, sie in ihren Studiengängen zu begrüssen. Sie würde es auch in Kauf nehmen, ausnahmsweise eine Studentin unter den Semestern zuzulassen. Sie hatte sofort zugesagt – eine Chance wie diese sollte man packen. Sie wollte das Studium absolvieren, um ihre Eltern finanziell im Kosovo zu unterstützen. Immerhin hatte sich das Land von Serbien loseisen können, doch die fehlende Infrastruktur und der Mangel an Rohstoffen liessen das Land verarmen.

      Der Zug setzte sich in Bewegung und brauste unter dem Rollfeld des Flughafens hindurch. Wenig später ertönte die Begrüssung in der Schweiz, samt Kuhglocken und Jodelklängen und die Skymetro hielt an ihrer Endstation im Airport Center.

      Sie erhob sich und passierte sowohl die Zoll-, als auch die Passkontrolle. An der Gepäckausgabe holte sie sich ihren uralten Schalenkoffer und begab sich zur Ankunftshalle. Die Menschen hier waren gut gekleidet, hasteten aber für ihre Verhältnisse ein bisschen zu viel durch die Gegend. Morgen beginnt ihr Studiengang als Bauingenieurin und die Schweiz würde für mindestens fünf Jahre ihre neue Heimat sein. Sie wird sich dran gewöhnen.

      In der Ankunftshalle erblickte sie einen dunkelhaarigen Mann, der in seinen Händen ein Pappschild mit ihrem Namen trug. Der Mann an der Schule hatte ihr versprochen, dass ihr in der Schweiz ein Mann zur Betreuung zur Seite gestellt würde. Das also war er, ein bisschen zu alt für ihren Geschmack, aber das konnte man sich ja nicht aussuchen. Lilijana wippte mit dem Kopf und ging auf ihn zu.

      „Guten Tag, ich bin Lilijana Perkovic!“, radebrechte sie auf Deutsch. Diese Sprache hatte sie in den letzten zwei Monaten wie besessen gebüffelt.

      Freundlich lächelnd schaute sie ihn an und war sich sicher, dass sie ihm vertrauen konnte.

      Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er klatschte mit seiner behaarten Pranke auf ihren Handteller.

      Die Gedanken an den Inzest und an Raphael gingen Meyer durch den Kopf, als er im Winterthurer Stadtzentrum in seinen Audi RS6 stieg. Er hoffte, dass der morgige Arbeitstag ein klein wenig ruhiger verlief. Die gesamten Ermittlungen waren für alle Beamten sehr belastend gewesen, je mehr Details des Verbrechens ans Licht gerückt waren. Obwohl Vanessas Vater ihr seelischen Schaden angerichtet hatte und Raphael seiner Meinung nach sie nur von all der Schande befreien wollte, musste der Junge mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit für längere Zeit hinter Gitter als ihr Vater, da das Schweizer Gesetz nun mal Kapitalverbrechen mehr bestraft als Sexualverbrechen. Gerade in diesem Augenblick hätte Meyer die vor kurzer Zeit von rechtsextremen Anhängern ins Spiel gebrachte Einführung der Todesstrafe bei Sexualverbrechen unterstützt, obwohl seine politischen Vorstellungen überhaupt nicht mit denen der Rechtspopulisten übereinstimmten.

      Nach der Verhaftung Raphaels wegen Mordes waren sie nach Wülflingen gefahren, wo sie endlich den Widerstand von Vanessas Vater überwinden konnten und die Staatsanwältin Dr. Elisabeth Göhner sofort Anklage gegen ihn wegen Blutschande erhoben hatte.

      Raphael wurde danach ins Präsidium nach Zürich gefahren und von Meyer und Steiner ausgiebig befragt. Er hatte weiterhin bekräftigt, ihr nur geholfen zu haben. Die beiden Ermittler haben den Fall danach in die Hände der Jugendrichterin übergeben und kriegten dann von Estermann den Rest des Tages frei.

      Die Bilder der Verhaftung gingen immer noch durch Meyers Kopf, als er gegen sechs Uhr abends auf der Westumfahrung Zürich im Stop-and-Go-Verkehr das Autobahndreieck Zürich West bei Wettswil passiert hatte. Er war in Wülflingen direkt auf die A1 gefahren und wollte direkt nach Horgen. Bereits bei der Aubrugg und am Limmattaler Kreuz war die Autofahrt zu einer Geduldsprobe geworden. Aber immerhin, sie liess Meyer wilde Gedankengänge zu. Das Leben, das Raphael Ferkovic mit der angeblichen Schutztat an Vanessa dieses Wochenende zerstört hatte, beschäftigte der Kommissar. Er hatte Angst, dass Martin auch eine solche Tat vollbringen würde. Zwar war Martin, ganz im Gegensatz zu Raphael, wie es den Anschein machte, ein rationell denkender Mensch und liess sich nicht allzu viel von Gefühlen leiten, aber ein, nur einer, emotionaler Ausbruch kann einen Menschen in ein ganz anderes Wesen verwandeln.

       12. Dezember, 22:57 Uhr

      Die Haupthalle des Zürcher Hauptbahnhofes war trotz der späten Stunde immer noch voller Leben.

      Eine Unmenge an Menschen hastete durch die leere Haupthalle des Hauptbahnhofes in Richtung des Ausganges beim Alfred-Escher-Denkmal hin zur Bahnhofstrasse. Die rot leuchtende Neonspirale am Ausgang zur Quaibrücke erhellte das Gebäude. Gegenüber hing ein weiteres, mit Tieren und neonroten Spiralen versehenes, Kunstwerk an der Wand. Auf ihm prangten kleine Zahlen, die nach dem gleichnamigen italienischen Mathematiker benannte Fibonacci-Folge, bei der die zwei vorangegangen Zahlen addiert die aktuelle ergibt: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 und so weiter. Doch sie wurde von niemandem richtig wahrgenommen.

      Auch