Daniel Wächter

Strich


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Meyer nicht reagierte, rief er dessen Namen noch einmal.

      Nachdem wieder keine Reaktion eingetreten war, ging Steiner aus der Toilette und schlug die Türe zu.

      Meyer starrte hochkonzentriert auf das mit samtroten Kissen bedeckte Bett. Steiner erstarrte, als sein Blick demjenigen von Meyer folgte.

      Die Tote war knapp bekleidet. Zu Lebzeiten war sie ein sehr schönes Mädchen gewesen. Ihre Gesichtszüge waren mit einer fast unnatürlichen Symmetrie gesegnet. Ihr hellbraunes Haar sowie die reine Haut auf den langen Beinen, dem flachen Bauch und dem schönen Gesicht schimmerten kupferfarben in der durch das Wohnwagenfenster eindringenden Sonne. Sie lag auf dem Bett, den Kopf zu den Beamten gedreht. Ihre Augen waren weit geöffnet. Auf dem Boden hatte sich eine Pfütze aus Blut gebildet, welche beinahe eingetrocknet war und mit dem Staub des Bodens hässliche dunkelrote, fast schwarze Klumpen bildete.

      Unter ihrer rechten Brust war deutlich die Stichstelle des Messers zu sehen – der einzige Schandfleck an ihrem sonst so perfekten Körper. Unsanft wurden die Haut und das Fleisch abrupt auseinander gerissen. Doch was Meyer erstarren liess, waren zwei senkrechte Schnitte auf ihrer Stirn.

      Kapitel 3

       13. Dezember, 08:45

      Emmanuel Menevoie hüpfte von einem Fuss auf den anderen als er vor der markanten Glaspyramide im Hof des Pariser Louvre wartete. Da die vom ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterand in Auftrag gegebene Pyramide den Eingang des Kunstmuseums markierte, huschten stets unzählige Touristen mit ihren Fotoapparaten an ihm vorbei, welche die horrenden Preise nur bezahlten, in der Hoffnung, einen Blick auf Kunstwerke wie die Mona Lisa oder die Venus von Milo erhaschen zu können. Menevoie ertappte sich immer wieder beim Versuch, den Kontaktmann in der Menschenmenge zu erkennen. Nervös starrte er im Zehnsekundentakt auf die Uhr. Um halb neun sollte er hier auf seinen Kontaktmann warten, doch der liess sich nicht blicken.

      Erschrocken wich er einen Schritt zurück, als plötzlich sein Mobiltelefon zu klingeln begann.

      Mit zittrigen Fingern holte er das Telefon aus der Hosentasche.

      „Ja, bitte?“, meldete er sich.

      „Emmanuel Menevoie?“, fragte eine unbekannte Stimme mit russischem Akzent.

      „Ja?“, entgegnete Menevoie verblüfft.

      „Haben Sie die Information?“, fügte er an.

      „Wollen Sie sie?“

      „Natürlich!“

      „Ausgezeichnet! Gehen Sie bitte zur Place de la Concorde!“

      „Aber…“

      Der Anrufer am anderen Ende der Leitung legte auf. Menevoie zuckte mit den Schultern.

      Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er losging.

      Hätte er nein gesagt, wäre er binnen wenigen Minuten tot gewesen.

      Unter dem Arc de Triomphe du Carousel atmete er tief durch. Der aus rotem Stein erbaute Triumphbogen stand in einer Geraden mit seinem weitaus berühmteren Pendant auf der Place de l’Etoile und mit dem in den späten Achtzigerjahren erbauten Grand Arche im Büroviertel La Défense. Dann nahm er seinen gesamten Mut zusammen und schritt durch die Tuilerien. Trotz der frühen Uhrzeit und des winterlichen Wetters begegnete er doch einigen Spaziergängern. Der Winter hatte Nordfrankreich und insbesondere die Pariser Metropolregion Ile de la France fest im Griff. Am Flughafen Roissy-Charles de Gaulle müssen täglich knapp die Hälfte aller Flüge gestrichen werden, eine Besserung bis zu den Weihnachtsfeiertagen sei nicht in Sicht, heisst es in Mitteilungen der französischen Verkehrsbehören.

      Auf der Place de la Concorde schaute er sich um, um hinter den Monumenten einen allfällig verdächtig aussehenden Mann zu erkennen. Vor sich startete die achtspurige Champs-Elysées ihren schnurgeraden Weg zur Place de l’Etoile, der Arc de Triomphe war im Schneetreiben gerade noch zu erkennen.

      Menevoie war nervös und atmete hastig. Immer mehr bereute er seine Taten. Eigentlich war er im Sozialministerium Frankreichs engagiert, um sich vor allem für die Bevölkerung der Banlieues von Paris, Lyon und Marseille zu engagieren, hatte aber mit leichten Gesetzesverstössen sein doch eher spärliches Gehalt aufgebessert. Doch er konnte die Folgen nicht absehen: Immer tiefer war er in den Strudel des Pariser Bandenlebens geraten, bis seine Tätigkeiten von der Polizei aufgedeckt wurden und er seinen Job im Ministerium loswurde. Jetzt war er vollzeitlich als Vebrecher tätig und schleuste für ein russisches Firmenkonglomerat regelmässig illegal Personen und Waren ins Hexagon ein. Er war bei diesem Konzern auch offiziell angestellt und gilt deshalb nicht als arbeitslos.

      Langsam wanderte Menevoies Blick über die Champs-Elysées, als er plötzlich den heissen Atem eines anderen Menschen im Nacken spürte. Panisch drehte er sich um. Hinter ihm stand ein Mann, fest in Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe verhüllt. Die Gesichtspartie war kaum zu erkennen. Der Mann reichte ihm wortlos einen Briefumschlag.

      „Was ist das?“, fragte Menevoie, als er nach dem Couvert griff.

      Er bekam keine Antwort, stattdessen machte der Kontaktmann auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung der Rue Royale, die in Richtung Norden führte.

      Verloren fühlte sich Menevoie, als er mitten auf der Place de la Concorde stand und den Briefumschlag in seinen Händen drehte. Schliesslich riss der Geduldsfaden und er riss ihn mit blossen Händen auf. Langsam zog er ein gefaltetes Papier hervor und las stumm die aufgetragenen Zeilen.

       Menevoie, heute um 18 Uhr am CDG, AF aus Kiew, 5 Stück

       R

      Der Franzose wusste sofort, was die Botschaft zu übermitteln versuchte. Heute um 18 Uhr würden am Charles de Gaulle in Roissy 5 junge aus Kiew eingeflogene Frauen mit der Air France landen, die dann von Menevoie als Zwischenhändler an Zuhälter in ganz Frankreich zu verkaufen seien. R. war der Kopf des Menschenhändlerrings, er war auch der Chef des Firmenkonglomerats, für das Menevoie tätig war. Sie waren sich noch nie begegnet, er wusste auch nicht R’s vollen Namen.

      „Was ist das für eine Wunde auf der Stirn?“, fragte Meyer in Richtung der Spurensicherung, welche sich über das Mordopfer im Wohnwagen kniete.

      „Eine Schnittwunde, welche allerdings nicht geblutet hat“, entgegnete einer der Spurensicherungsbeamten ohne zu Meyer aufzusehen. „Sie wurde dem Opfer vermutlich posthum zugefügt“.

      „Sind Sie sich sicher?“

      „Zu neunzig Prozent, ja. Aber wir werden die Leiche anschliessend an Dr. Furrer übergeben!“ Dr. Furrer ist der Chefpathologe des Forensischen Dienstes der Kantonspolizei Zürich, wie die Spurensicherung im Fachjargon heisst.

      „Gut. Haben Sie Fingerabdrücke feststellen können?“

      Der Beamte verneinte. Er fügte hinzu, dass die Tatwaffe nicht sichergestellt werden konnte und die Tote keine Papiere aufweisen konnte, weder bei sich, noch im Wohnwagen.

      Meyer winkte Steiner nach draussen.

      „Das bringt nichts“, knurrte er. „Lass uns den Calvaro unter die Lupe nehmen“

      Die beiden gingen auf den Zuhälter zu. „Herr Calvaro?“

      Calvaro drehte sich um. Sein Gesicht erhellte sich schlagartig.

      „Commissario Meyer!“ Er sprach mit starkem italienischem Akzent. „Schön, Sie wieder zu sehen!“

      „Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“, fragte Steiner ruhig.

      „Nur zu, Signore!“ Calvaro lachte und bleckte die vom Rauchen gelblich gefärbten Zähne.

      „Sie haben die Tote also gefunden. Wann genau?“, wollte Meyer wissen.

      „Als ich heute Morgen den Wohnwagen reinigen wollte, habe ich sie gefunden. Auf dem Bett!“

      „Wie