Daniel Wächter

Strich


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und die zunehmende Anzahl Stadt- und Kantonspolizisten den Tatort bereits von weitem ankündigten.

      Der Sihlquai ist schweizweit als Strassenstrich bekannt. Sobald die Dunkelheit über Zürich eingebrochen ist, erwecken die geparkten Wohnwagen zum Leben und Prostituierte versammeln sich über die gesamte Strasse. Die Stadt Zürich sucht seit Jahren nach einer Lösung, zumal sich die Anwohner zunehmend unwohl fühlen. Denn die Prostituierten gingen ihrem Geschäft immer seltener in den Wohnwagen oder in den Wohnungen der Freier nach, immer mehr treiben es in den Vorgärten der Anwohner. Meyer hatte das von Steiner erfahren, der selber vor kurzem am Sihlquai eine Wohnung bezogen hatte. Ironischerweise lag genau am gegenüberliegenden Sihlufer der berühmt-berüchtigte Platzspitz am Zusammenfluss von Sihl und Limmat. Dieser wiederum war in den Siebziger- und Achtzigerjahre DER Treffpunkt für Drogensüchtige. Als sich dann diese Welle sich bis zum Shopville im Hauptbahnhof verbreitet hatte, wurde kurzer Prozess gemacht und mit der Schliessung für die Öffentlichkeit der Platzspitz 1992 drogenfrei gemacht, woraufhin der ganze Tross an den Bahnhof Letten an der seit der Hirschengrabentunnel-Eröffnung 1989 stillgelegten SBB-Strecke HB–Stadelhofen umzog, wo die ganze Krise wieder von vorne begann. Meyer erinnerte sich an die finale der Polizeiaktionen 1995, bei der sich die damalige Vorsteherin des städtischen Sozialdepartements, Emilie Lieberherr, vor die schwer bewaffneten Beamten gestellt hatte und der Polizei unmissverständlich weisgemacht hatte, dass diese Aktion sinnlos sei und die Drogensüchtigen in die Wohnquartiere treibe. Meyer, der diese Aktion in einer Nachrichtensendung des damaligen Fernsehens DRS verfolgt hatte, erinnerte sich wie er damals unweigerlich schmunzeln musste. Auf Lieberherr ging bis heute die kontrollierte Heroinabgabe zur Prävention zurück. Bei seiner Vereidigung als Kripochef 2000 war sie auch zugegen gewesen und hatte ihm einen Wunsch auf den Weg gegeben: Behandeln Sie alle gleich, Herr Meyer. An dieses Credo versuchte sich der Kommissar bis heute zu halten, auch wenn er sich bisher nicht mit Drogendramen wie anno dazumal auseinandersetzen musste. Denn bis vor wenigen Jahren jedenfalls war Ruhe eingekehrt – damals hatte sich wieder eine Szene in diesem Park vor dem Landesmuseum aufgebaut, jedoch viel kleiner als zuvor – und sie erhitzte auch nicht die Gemüter und löste schon gar nicht Grosseinsätze der Polizei aus.

      Meyer überstieg die Polizeisperre aus Plastik und ging auf die kleine Menschengruppe, bestehend aus drei Männern, zu. Einer dieser Männer war Ramon. Er ging auf ihn zu und begrüsste ihn mit Handschlag. Steiner antwortete mit einem Niesen.

      „Nette Begrüssung!“, bemerkte Meyer.

      Steiner sah ihn entschuldigend an. „Nur ein Schnupfen. Ist ja schliesslich auch Winter!“

      Der Kommissar grinste.

      Meyer – mit 59 bald im Alter der Altersreduktion angelangt – soll in seinen letzten Dienstjahren die Kriminalfälle im Gebiet der Stadt Zürich und der nahen Umgebung gemeinsam mit Steiner lösen, damit dieser für die Zukunft ein stabiles Fundament als neuer Kriminalkommissar vorweisen kann. So wollte das Polizeipräsident Estermann mit tatkräftiger Unterstützung der Staatsanwältin Dr. Elisabeth Göhner. Der Mord an der Jugendlichen in Winterthur sollte sein letzter in anderen Gebieten des Kantons gewesen sein, trotz seiner Funktion als Kripochef. Nach anfänglichem Murren hatte Meyer zugesagt, nicht ohne sich jedoch eine gewaltige Gehaltserhöhung aufs Lohnkonto zuschreiben zu lassen – der Bonus für gelöste Fälle, wie er es zu pflegen nannte. Meyer höchstpersönlich hatte Steiner unter knapp sechzig Bewerbern als seine Nachfolge auserkoren.

      „Gian, das sind Stadelmann und Hänzi von der Stapo. Haben mit mir die Polizeischule gemacht“, stellte Steiner die beiden anderen Uniformierten vor. Steiner war, genauso wie Meyer, in Zivil. Dicke Handschuhe, eine Wollmütze und ein grauer Baumwollschal schützten den Jungpolizisten vor der eisigen Kälte.

      „Und das ist“, Steiners Schauspielkunst erreichte feierliche Höchstwerte, „der berühmte Zürcher Kriminalkommissar Gian Meyer!“

      Doch Hänzi und Stadelmann schienen von der Koryphäe Meyer sichtlich unbeeindruckt.

      „Ich hoffe, dass Sie mit den Fakten vertraut sind, welche wir Ihnen zukommen liessen, Herr Kommissar“, bemerkte Hänzi leicht säuerlich. Meyer erinnerte sich, dass sich der Beamte ebenfalls als neuer Kriminalbeamter beworben hatte. Nach Steiners Wahl ging in Zürcher Polizeikreisen das Gerücht um, Meyer hätte nur Steiners Akte gelesen und die anderen übergangen. Was nicht der Wahrheit entspricht, denn Meyer konnte sich jederzeit an jedes Detail jedes Bewerbenden erinnern. So auch daran, dass der Chefdozent der Polizeischule unter der Überschrift „Bemerkungen“ auf Hänzis Bewerbungsformular die Worte „Konsumiert gerne Internetpornografie über das iPhone während der Vorlesung“ hinzugefügt hatte. Von Steiner hatte Meyer erfahren, dass dieses Hobby aufgeflogen war, nachdem Hänzi versäumt hatte, die Lautsprecher seines Smartphones auszuschalten. Am Sihlquai verzichtete er jedoch auf eine Bemerkung in Bezug auf diese Angelegenheit.

      „Ja, habe ich“, sagte er stattdessen. „Die Leiche wurde vom Vorgesetzten der Toten, Mario Calvaro, entdeckt, haben Sie im Bericht festgehalten“. Auf Gänsefüsschen mit den Fingern bei „Vorgesetzten“ verzichtete Meyer ebenfalls, obwohl er brennende Lust verspürt hatte.

      „Ja“, antwortete Hänzi, der offenbar das Sprechen auch für Stadelmann übernommen hatte. Er wies auf den stämmigen Mann mit gegeltem Haar, welcher rund 10 Meter von den Beamten entfernt auf einer leeren Harasse sass, eine Zigarette rauchte und der Spurensicherung zusah, welche um den Wohnwagen herumschwirrten.

      „Das ist…“

      „Mario Calvaro, kennen wir“, unterbrach Meyer den (zu) übereifrigen Hänzi.

      „Möchten Sie die Leiche sehen?“ Endlich hatte sich auch Stadelmann zu Wort gemeldet. Hänzi schwieg beleidigt.

      Meyer nickte.

      „Gerne“

      Die Vierergruppe setzte sich langsam in Bewegung und gesellte sich zu den Beamten der Spurensicherung, welche in ihrem weissen Ganzkörperanzug gerade die Tür des Wohnwagens unter die Lupe genommen haben und das Schloss auf Kratz- oder sonstige Einbruchspuren untersuchten. Einer pinselte gerade schwarzes Pulver auf das Schloss und trat zur Seite.

      „Was gefunden?“, wollte Hänzi wissen.

      „Nein, noch nicht“, antwortete der Beamte und wandte sich wieder dem grossen Pinsel zu. Der Wohnwagen – der äusserlich wie ein Sanierungsfall aussah – stammte aus den Siebzigern und hatte die für damals typische Eierform. Die Räder der beiden Achsen wurden abmontiert, stattdessen stand das Vehikel auf zwei kräftigen Holzpfeilern, die an den ehemaligen Achsenstellen den Wohnwagen aufstützten. Zum Eingang führte eine rostige Eisentreppe. Meyer, Steiner, Hänzi und Stadelmann betraten den Wohnwagen durch die offene Tür. Das Innere des Wohnwagens war total umgebaut. Statt der kompletten Einrichtung mit Küche, Toilette und Wohnzimmer bestand der gesamte Raum aus einem grossen Bett. Die beiden kleinen quadratischen Fenster des Wohnwagens waren mit weinroten Vorhängen vollständig bedeckt, so dass das Tageslicht nur gedämpft in den Raum drang. An der Wand hingen zwei Bilder, eines zeigte eine rote Kutsche in einer grünen, vermutlich aus Weinreben bestehenden Landschaft, gezogen von zwei Schimmelpferden, das andere war eine billige Reproduktion von Van Goghs Gemälde über die gelbe Brücke im französischen Arles.

      Links vom Bett ging eine Tür ab. Steiner öffnete sie und hielt danach unter Prusten die Nase zu. Beissender Gestank erfüllte den Raum. Eilig zog sich der Beamte Gummihandschuhe über.

      „Diese Toilette stinkt zum Himmel!“

      Das Innere der Toilette war extrem unhygienisch. Die Schüssel selbst war mit schmutzigbraunen Flecken versehen. Der letzte Benutzer hatte jedenfalls nicht heruntergespült, lange Kotwürste schwammen im Wasser. Ein angeekelter Steiner drückte mit dem Finger auf die Spüle, wich aber angeekelt zurück. Selbst dort hatte sich Schmutz angesiedelt. Eine Dusche oder eine Badewanne suchte man hier vergebens, dafür befand sich am Waschbecken eine Zahnbürste, aber keine Zahnpasta. Als Steiner versuchte, Wasser aus dem Hahn zu lassen, kam nur ein saugendes Geräusch. Daraufhin führte Steiner den Finger in den Hahn, und als er ihn wieder herauszog, war der Gummihandschuh mit Kalkbrocken übersät.

      „Mein Gott, da ist Analfingering ja noch angenehmer!“,