Daniel Wächter

Strich


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kletterte, sobald der Zug angehalten hatte, in einen Wagen und setzte sich in ein leeres Abteil. Er wollte seine Ruhe haben.

      Doch – weit gefehlt! Zwei Minuten vor Zugsabfahrt stiegen drei japanische Frauen – Meyer schätzte sie um Mitte fünfzig herum – in den Wagen und steuerten direkt auf Meyers Abteil zu.

      Kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, legten sie los und schnatterten in auffallend hoher Stimme auf Japanisch. Das heisst, die Frau, die sich neben Meyer niedergelassen hatte, redete und die anderen beiden nickten glucksend. Wieder einmal hatte sich das Klischee leider bestätigt.

      Glücklicherweise stiegen sie am Flughafen aus und als der Zug vor Bassersdorf wieder das Tageslicht erreichte, lehnte Meyer den Kopf ans Fenster und schloss die Augen.

      Während der Zugfahrt gedachte Meyer seiner Mutter. Seine ersten Erinnerungen an sie waren, wie sie ihn im aufblasbaren Bassin im Garten mit Wasser gebadet hatte, als er knapp vier war. Dann über die Begleitung zum ersten Schultag damals in Chur, nachdem er den Kindergarten verweigert hatte, da er von ihr nicht getrennt sein wollte. Meyer wurde älter, seine Mutter auch. Die Freude über seine Matura, die Zulassung zur Universität, den Abschluss. Ihre Angst und ihre Bedenken, als er ihr eröffnete, zu Interpol zu gehen, hatte sie jedoch nie verloren, genauso wenig wie ihre Fröhlichkeit. Ihre Furcht, Meyer könnte schwul sein, als er mit 32 noch keine Freundin hatte. All dies hatte sein Erinnerungsvermögen geprägt. Am Ende hatte die Demenz komplett von ihr Besitz genommen. Meyer erinnerte sich an seinen letzten Besuch im Schloss Eppishausen. Das war vor zwei Wochen. Immer hatte sie ihn lächelnd mit Curdin angesprochen, und gesagt, dass sie bald aus der Pflege entlassen würde. Just in diesem Moment war Meyer klar geworden, dass seine Mutter den Verstand verloren hatte. Curdin, das war Meyers älterer Bruder, der aber mit 19 – Meyer war gerade mal 15 – bei einem Motorradunfall auf dem Flüelapass ums Leben kam. Er war auf die Gegenfahrbahn geraten und in ein entgegenkommendes Auto geprallt, an dessen Steuer ausgerechnet Curdins und Gians Vater sass. Seraina war über den Verlust ihres ältesten Sohnes nie hinweggekommen und hatte ihrem Gatten, obwohl der ja faktisch nichts für den Unfall konnte, insgeheim die Schuld an Curdins Tod gegeben. Es dauerte kaum einen Monat, da trennten sich die beiden. Seraina blieb mit Gian und den Erinnerungen an Curdin in Chur, während Meyers Vater irgendwo hin zog. Meyer hatte ihn niemals wieder gesehen. Er wusste nicht mal, ob sein Vater sich in der Schweiz niedergelassen hatte oder ins Ausland ging, geschweige denn, ob er noch lebt, oder nicht.

      Jetzt war sie 95 geworden, hatte ihn aber nicht mehr erkannt. Langsam hatte er gespürt, dass es zu Ende ging, wie sie von ihrem Geiste verlassen wurde. Doch dass es so schnell ging, hätte er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können.

      Fünfzig Minuten nach der Abfahrt in Zürich bremste der Zug ab und fuhr in den Bahnhof Weinfelden ein.

      Meyer stand auf, wartete bis die Komposition zum Stillstand kam, stieg aus dem Zug und ging zum Abgang der Hauptunterführung, der direkt beim im Gegensatz zu den restlichen Bahnhofsanlagen seit der Eröffnung 1855 nahezu unveränderten Empfangsgebäude nach Plänen des Architekten Jakob Friedrich Wanner lag. Auf dem elektronischen Zugzielanzeiger vergewisserte er sich, dass die S7 Richtung Rorschach auf Gleis 4 fuhr. Er hastete die Treppe hinunter und ging in schnellen Schritten durch die Unterführung, um dann den Aufgang am Mittelbahnsteig 3-4 zu nehmen. Der Zug stand bereits abfahrbereit am Bahnsteig des Gleises 4.

      Meyer stieg ein, und wenig später setzte sich der Zug in Bewegung und erreichte über Bürglen und Sulgen die Haltestelle Erlen.

      Meyer entstieg dem Zug, wartete bei den Lista-Gewerbegebäuden am Bahnübergang bis die Schranken hochgingen, überquerte die Geleise und ging die beidseits bebaute Bahnhofstrasse entlang zur Hauptstrasse, auf der früher gar Auto- und Motorradrennen ausgetragen wurden. Dort bog er links ab und überquerte nach einem Fussmarsch durch die Felder die Hauptstrasse im Weiler Eppishausen, um dann die Schlossstrasse den Hügel hinauf zu erklimmen. Das im Schloss untergebrachte Alters- und Pflegeheim sah er schon von weitem, die grünen Jalousien der vielen Fenster stachen sofort hervor. Ein immer mehr mulmiges Gefühl beschlich Meyer, als er näher kam. Dieser Moment hatte sich viele Male in seinem Kopf abgespielt, doch die Realität ist doch noch ein klein wenig anders. Tatsächlich wusste Meyer nicht, wie er der Leiche seiner Mutter entgegentreten soll.

      „Guten Tag“, kam ihm eine Schwester entgegen, als er die elektronische Schiebetür durchtrat.

      „Ich bin Gian Meyer. Ich komme wegen meiner Mutter! Seraina Meyer“

      Sie schaute ihn lange an, räusperte sich aber nach einer knappen Minute.

      „Mein aufrichtiges Beileid!“, sagte sie und schaute ihn mitfühlend an. Meyer konnte nicht sagen, ob es ehrlich gemeint war oder es einfach eine schauspielerische Maske war, die von den Pflegerinnen im Todesfall eines Patienten auf Knopfdruck vorgetragen werden musste.

      „Vielen Dank!“, sagte Meyer nur.

      „Es wird jetzt ein bisschen schwer, aber ich bitte Sie, mir zu folgen!“

      Sie machte auf dem Absatz kehrt, Meyer folgte ihr. Sie gingen durch die Flure zum Aufzug. Die Schwester drückte den Knopf für die dritte Etage. Die Lifttüren schwangen zu, Meyer spürte ein beklemmendes Gefühl im Magen.

      Da lag sie, die von Runzeln übersäte Haut war ganz fahl. Meyer legte eine Hand auf ihre Stirn. Tränen rannen über seine Wangen. Sie war in ihrem Bett friedlich eingeschlafen.

      „Sie hat nicht gelitten!“

      Die Worte der Schwester sollten eine tröstliche Funktion haben. Meyer drehte sich zu ihr um.

      „Vielen Dank für alles. Wie Sie sich um sie gekümmert haben!“

      „Das ist unser Job. Wir werden Sie, sofern Sie einverstanden sind, zu Ihnen nach Zürich überführen, wo Sie sie dann bestatten können!“

      Meyer nickte.

      „Vielen Dank!“, sagte er abermals. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.

      Er umrundete das Bett seiner Mutter und schaute aus dem Fenster. Sie hatte eine hervorragende Aussicht gehabt. Eine grosse Ebene, nur durch Strasse und Eisenbahn durchtrennt, breitete sich unter dem Schloss aus. Rechts stand eine kleine Ansammlung aus Häusern, die meisten Bauernhäuser, das sollte Eppishausen sein. Schön hatte sie es hier wirklich gehabt. Meyer wünschte, auch er könne in solch einer Landschaft Abschied nehmen.

      „Herr Meyer?“

      Er drehte sich um. Die Schwester lächelte ihn an.

      „In einer halben Stunde haben Sie den Termin mit dem Notar bezüglich der juristischen Angelegenheiten. Wir haben das organisiert!“

      ‚Hättet mich auch vorher mal fragen können!’, dachte Meyer und schenkte der Schwester ein Lächeln. „Vielen Dank. Treffe ich ihn hier im Zimmer oder unten in der Caféteria?“

      Die Schwester biss sich auf die Lippen. „In seinem Büro. Wir wollten ihn hierher holen, doch her hatte keine Zeit.

      „Soweit ich mich erinnern kann, war der Notar meiner Mutter ein gewisser Eduard Hasler in Weinfelden?“

      Die Schwester schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hat ihn vor zwei Monaten gewechselt!“

      „Mir hat sie nie was gesagt!“

      „Sie waren auch so selten hier, so dass ihre Mutter Sie nicht mehr wieder erkannt hat!“, konterte die Schwester mürrisch.

      Das sass! Ganz Unrecht hatte die Schwester mit ihrem Vorwurf nicht. Er hätte ihr viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Diese Erkenntnis kam aber jetzt zu spät.

      „Wer ist es dann?“, fragte Meyer.

      „Ein Herr Albers. Er hat sein Büro in Konstanz.“

      „Und wie komme ich dahin? Ich bin mit dem Zug hier und da dauert es fast eine Stunde!“

      „Ich fahre Sie mit dem Wagen. Ihre Mutter hat uns versichert, dass sie uns in ihrem Testament ebenfalls berücksichtigt hat.“

      „Wie