Daniel Wächter

Strich


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sagte Menevoie. „Kommen Sie bitte mit!“

      Er führte sie direkt zur TGV-Station des Flughafens, wo gerade der Zug nach Marseille, der Avignon gegen elf Uhr abends erreichen sollte, einfuhr. Sie stiegen in den Zug. Menevoie hatte sechs Sitzplätze in der zweiten Klasse reserviert. Die Reservation hatte sich als gute Entscheidung erwiesen, denn die vielen Flugausfälle bewirkten, dass viele Franzosen auf dem Weg zu den Familienfesten zu Weihnachten bei ihrer Reiseplanung vielfach auf den TGV setzten, zumal der im inländischen Verkehr eine kostengünstige, aber ebenso schnelle Variante darstellte.

      Der Zug setzte sich in Bewegung und beschleunigte, um jedoch kurz später am Bahnhof des Disneylands anzuhalten, wo vor allem Familien mit eher kleineren Kindern zustiegen, die alsbald den gesamten Waggon in plärrenden Lärm hüllten. Menevoie ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiss hervortraten und unterdrückte den Impuls, in diesem Moment einen Massenmord an Kindern zu begehen.

      Gegen 23 Uhr traf der Zug am ausserhalb Avignons an der Schnellfahrstrecke Lyon – Marseille gelegenen TGV-Bahnhof der Stadt ein. Menevoie half den fünf jungen Frauen beim Aussteigen. Alle fünf fröstelten und realisierten in jenem Moment, dass sie die Temperatur unterschätzt hatten.

      Mit dem Shuttlebus fuhren sie ins Stadtzentrum Avignons zur Hauptpost gegenüber dem Bahnhof Avignon Centre und stiegen dort auf einen Omnibus der städtischen Verkehrsbetriebe um. Mit diesem fuhren sie über die an der Rhône entlang führende Ringstrasse N100. Hoch oben auf dem Hügel thronte der Papstpalast, in welchem zu Zeiten des Abendländischen Schismas die Gegenpäpste und auch zuvor die Exilpäpste residiert hatten. Scheinwerfer warfen dunkelgelbe Lichtsäulen an die Palastmauern.

      Sie passierten gerade die nur halb ins Flussbett ragende berühmte Pont St-Benézét mit der St-Nicolas-Kirche direkt auf dem Brückenkopf, umrundeten den Hügel des Papstpalastes und bogen bei Porte St-Joseph auf die Rue St-Joseph, um dann an der Place St-Joseph anzuhalten. Menevoie und die fünf Ukrainerinnen kletterten aus dem Bus. Die Weihnachstbeleuchtung wurde just in diesem Moment ausgeschaltet. Nur die Strassenbeleuchtung sorgte dafür, dass Menevoie und die fünf Ukrainerinnen nicht um Dunkeln standen.

      Er führte sie über die Rue des 3 Colombes zur Rue Banasterie, wo er plötzlich vor einem der Altbauhäuser stand und an die massive Holztür klopfte. Der Schieber wurde zurückgeschoben.

      „Qui est-ce?“, fragte eine männliche Stimme.

      „Menevoie!“, antwortete der.

      Die Tür wurde geöffnet. Menevoie trat zur Seite und blickte die fünf jungen Frauen an.

      „Entrez!“, befahl er und winkte die fünf hinein. Dann schloss er die Tür von aussen und nahm ein Zimmer im Hotel an der Place de l’Horloge.

       Dienstag, 14. Dezember 06:00

      Um sechs Uhr morgens, am nächsten Tag, kam Meyer völlig übernächtigt ins Büro. Steiner empfing ihn grinsend:

      „Schlecht geschlafen?“

      „Nein, gar nicht“, entgegnete Meyer, „die Babys unter mir haben die ganze Nacht geplärrt!“

      Der einzige Wehrmutstropfen an Meyers Wohnung war, dass die Eigentumswohnung im Geschoss unterhalb seinen Gemächern von einer reichen amerikanischen Familie erworben wurde – die Mutter hatte vor Monatsfrist gleich Vierlinge entbunden.

      „Und? Die Geschenke gekauft?“, fragte Steiner.

      „Hättest du mich das nicht gestern fragen können?“, murrte Meyer schlaftrunken und gähnte herzhaft.

      „Schon, aber ich hab’s vergessen!“ Steiner setzte ein entschuldigendes Grinsen auf.

      Meyer seufzte. „Okay, okay! Martin bekommt die Playstation 3 und Melanie ihren Vampirroman. Hab den Namen dieses Dings vergessen.“

      „Ich freu’ mich auch schon, wen ich Kinder in diesem Alter habe!“, grinste Steiner. „Die beanspruchen anscheinend ja deinen gesamten Monatslohn für ihre Weihnachtswünsche“

      „Das war harmlos gegenüber dem letzten Jahr. Martin war damals mit einer DVD zufrieden, aber Melanie wollte unbedingt einen neuen Push-up-BH. Mein Gott, haben die mich damals im Unterwäscheladen blöd angeglotzt! Als wäre ich so ein notgeiler Sugar-Daddy mit einer 20-jährigen Freundin.“

      „Der Martin ist doch schon 20. Warum schenkst du ihm noch ein solches Geschenk?“

      „Weisst du, er hat diesen Sommer die Matura bestanden und sein grösster Wunsch, seit er 10 war, war eine solche Playstation zu haben. Aber Gertrud war immer dagegen. Sie fand das asozial. Ihrer Meinung nach sollten Kinder die gesamte Zeit mit ihren Freunden draussen spielen, und stattdessen lieber von Bäumen fallen und das Genick brechen, als einen Steifen zu bekommen.“

      „Na dann. Er hätte wegen der Playstation einen Steifen bekommen, klar?“, grinste Steiner.

      „Einen steifen Daumen, meinte ich. Ramon, langsam ist dein Hang zur Zweideutigkeit kindisch!“

      „Hatte denn Martin diese Phase nicht?“, grinste Steiner.

      Meyer schüttelte den Kopf.

      „Und jetzt? Ist er fleissig am Studieren?“

      Meyer schüttelte den Kopf. „Nein, er macht eine verkürzte Lehre als Informatiker bei irgend so einem IT-Schuppen am Bahnhof Tiefenbrunnen.“

      Steiner nickte.

      „Er ist ein guter Junge!“, fügte Meyer hinzu.

      „Ist ja klar“, lachte Steiner, „welcher 20-jährige kann denn von sich behaupten, dass er einen Vater habe, welcher mit einem RS6 herumrast“

      „Das nützt ihm aber nichts. Da er bei Gertrud wohnt, kann er nur mit diesem Klappergestell von 1985-er Citroen herumkurven“

      „Pech!“, sagte Steiner.

      „Steiner, mal ernsthaft. Wenn du Kinder hast, dann schau, dass sie deine Frau bekommt, bevor du 40 bist! Denn dann bist du einfach zu alt.“

      Steiner lachte.

      „Apropos. Hast du was über Petrova?“, erkundigte sich Meyer.

      Am Vortag war Steiner, während Meyer einkaufen war, noch einmal ins Präsidium gefahren und haben die angeblich verschwundene Prostituierte Maria Petrova zur landesweiten Grossfahndung ausgeschrieben, um an die möglichen Motive eines Mordes an ihr zu gelangen, und auch wegen ihren wahren Beweggründen, Calvaros Zuhälterei zu entkommen, auf die Spur zu kommen.

      Steiner schüttelte den Kopf.

      „Diesen Hurensohn von Calvaro bringe ich um!“, zeterte er. Die gute Stimmung war dahin.

      „Ganz ruhig!“, sagte Meyer leise.

      „Aber wir haben keine Anhaltspunkte!“

      Plötzlich klingelte das Telefon. Steiner hob den Hörer ab:

      „Ja? Okay…Gut…Wir kommen…Hat sie was gesagt? ...Nichts?...Bis dann!“

      Er legte wieder auf.

      „Was ist los?“, fragte Meyer.

      „Die Hotline war dran. Unsere Nutte wurde gefunden. Am HB. Aber sie soll schweigen!“

      Als ‚Hotline’ wurde diejenige Abteilung bezeichnet, welche Anrufe über die Polizeihotline entgegennahmen, welche bei Grossfahndungen oder Vermisstmeldungen aufgeschaltet wurde. Sie hatten im Sekundentakt Anrufe entgegengenommen.

      Mit quietschenden Reifen und mit Blaulicht hielten die drei Streifenwagen vor dem Seiteneingang an Gleis 3 des Hauptbahnhofs. Als Vorsichtsmassnahme wurden einige der Gitter hochgefahren, welche normalerweise die offene Perronseite des Bahnhofs in der Nacht vor ungebetenem Besuch schützen. Als die Beamten ankamen, sahen sie, dass der Osteingang an der Löwenstrasse sowie der Bahnsteig am Gleis 3 abgeriegelt wurden. An der Sperre wurden sie von einem Stadtpolizisten nach Vorweisung ihrer Dienstausweise durchgelassen und Meyer, Steiner und vier weitere Uniformierte stürmten über