Dietlinde Beerbom

Entscheidung auf Sardinien


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Tag.“ oder „Mir ist heute nicht danach.“ gewichen? Schlimmer noch, inzwischen war das Verlangen so selten geworden, dass es nicht mal mehr einer Ausrede bedurfte.

      Wenn tatsächlich mal einer von ihnen auf die Idee kam, die Hand nicht auf seiner Seite des Bettes zu belassen, hielt man sie einfach fest und schlief ein. Wenn sie ehrlich war, kam es nur noch sehr selten zu einer Erwiderung der Annäherungsversuche. Und selbst dann war es meistens eher unspektakulär. An das letzte Mal Sex außerhalb ihres Schlafzimmers konnte sich Anja beim besten Willen nicht mehr erinnern. Das musste Lichtjahre her sein.

      Scheinbar hatte sie sich einfach eingeredet, dass das eben normal sei, wenn der Alltag in eine Beziehung einkehrte. Sex wurde total überbewertet. Oder nicht? Seit langem spürte sie zum ersten Mal wieder, wie sich etwas in ihrem Körper regte. Am liebsten hätte sie Rainer aufgeweckt, um ihr Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu stillen. Aber das traute sie sich nicht.

      Auch komisch: da ist man ewig miteinander verheiratet, glaubt sich gegenseitig gut zu kennen und traut sich dann nicht einmal, seinen Ehemann aufzuwecken, um ihn an die „eheliche Pflicht“ zu erinnern. „Eheliche Pflicht“ - wer hatte sich so etwas ausgedacht? Allerdings muss Anja zugeben, dass dieser Ausdruck eigentlich perfekt für ihr Liebesleben während der letzten Jahre ist. War das bei anderen Paaren wohl auch so? Himmel, sie fühlt sich wie ein Teenager. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Was hat Kerstin da nur mit so einer einfachen Frage angerichtet?

      Hm, wenn sie ehrlich ist, hat eigentlich Kerstin gar nichts angerichtet. Sie hat nur den Anstoß gegeben, über etwas nachzudenken, was scheinbar nicht in Ordnung ist. Wenn sie mit ihrem Liebesleben zufrieden wäre, hätte diese Bemerkung sie wohl kaum aus dem Gleichgewicht gebracht. Auch wenn es unbequem ist, muss sie sich dieser Tatsache doch stellen.

      Wie will sie nun damit umgehen? Wenn sich erst mal Unzufriedenheit ausbreitet, ist es wahrscheinlich unklug, sie einfach zu ignorieren. So viel hat sich aus Sabines Bericht über ihre Beziehung zu Christian ergeben. Anja möchte nicht den gleichen Fehler machen und eine Beziehung zerstören, nur weil nicht miteinander gesprochen wird.

      Also erste Frage: Liebt sie Rainer noch? Nach kurzem Überlegen ist sie sich sicher, dass die Antwort JA lautet. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass sie aktiv werden muss, um diese Liebe nicht im Alltag ersticken zu lassen.

      Nächste Frage: Warum haben sie kaum noch Sex, wenn sie Rainer noch liebt? Vielleicht liebt er sie ja nicht mehr? Finden sie sich gegenseitig noch attraktiv? Diese Frage kann sie nur für sich beantworten. Rainer hat während ihrer Ehe immer auf sein Äußeres geachtet. Er ist noch fast genauso schlank wie am Anfang ihrer Beziehung. Auch über nachlässige Kleidung oder mangelnde Körperhygiene kann sie sich nicht beklagen. Das Alter hat zwar seine Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen, aber das macht ihn eher noch interessanter. Ja, sie findet Rainer noch immer sehr attraktiv. Ach, und warum hat sie dann Enrico auf den Hintern geschaut? „Marktanalyse und sexuelle Unterforderung!“, stellt sie sich selbst die Diagnose.

      Da Rainer sehr auf sich geachtet hat, wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, ihn mit Kittelschürze und Staubmopp zu empfangen. Regelmäßiger Sport und ein gepflegtes Äußeres sind für Anja ein absolutes Muss. Auch in ihrer Firma ist das Äußere bedeutsam. Natürlich hat der Zahn der Zeit ein wenig an ihrem Körper genagt, trotzdem findet sie, dass sie durchaus noch gut aussieht. Ja, sie und Rainer sind wirklich ein schönes Paar. Ob Rainer das genauso empfindet, muss er ihr beantworten. Sie nimmt sich fest vor, ihn danach zu fragen. Allerdings muss das warten, bis Nicole wieder verschwunden ist, damit sie Ruhe für ein Gespräch finden. Mit diesem Vorsatz schläft sie endlich ein.

      Kapitel 6

      Auf dem Weg zum Parkplatz kramte Sabine den Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. Den Mann, der ihr entgegenkam, sah sie nicht und rannte ihn über den Haufen, so dass er beinahe lang hingeschlagen wäre. „Können Sie nicht aufpassen?“, schnauzte sie und stampfte wutschnaubend auf ihr Auto zu.

      Kurz bevor sie es erreichte, wurde sie völlig unerwartet ausgebremst, als ihr Absatz zwischen zwei Gehwegplatten steckenblieb. Auch das noch! Ihre verzweifelten Bemühungen, sich aus der Falle zu befreien, blieben erfolglos. Zu ihrem maßlosen Erstaunen, kam der Mann, den sie umgerannt hatte, zurück, um ihr behilflich zu sein. Da sie keine andere Wahl hatte, folgte sie seiner Aufforderung, den Schuh von ihrem Fuß zu lösen und sich auf die naheliegende Steinmauer zu setzen, während er ihren Absatz wieder befreite. Immer noch besser als wenn er an ihrem Bein gezerrt hätte.

      Nach wenigen Minuten war es dem Fremden gelungen, den Schuh ohne größere Beschädigungen zu lösen. Er trat auf sie zu und reichte ihn ihr. Ohne ihn anzusehen, riss sie ihm den Schuh aus der Hand. Von ihrer guten Erziehung war gerade noch so viel übrig, dass sie sich mürrisch bedanken konnte.

      „Da muss sie aber jemand ganz schön auf die Palme gebracht haben.“, bemerkte der Fremde.

      „Das geht Sie gar nichts an!“, wies sie ihn zurecht und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Dabei humpelte sie, weil sie sich noch nicht die Zeit genommen hatte, den befreiten Schuh wieder anzuziehen. Der fremde Mann blieb völlig verdattert zurück und starrte ihr nach. Hätte sie selbst sich in dieser Situation gesehen, wäre sie vermutlich in schallendes Gelächter ausgebrochen, aber im Moment war sie nicht in der Lage, sich mit ihrer Umwelt auseinander zu setzen.

      Beim Einsteigen warf sie jedoch einen Blick auf ihren Helfer, während sie ihren Schuh endlich anzog, und ärgerte sich im selben Moment, dass sie ihn so gemein behandelt hatte. Er sah nett aus. Was sollte er nur von ihr denken? Doch im nächsten Moment schwappte wieder eine heiße Welle der Wut in ihr hoch, da sie Katrin und Christian engumschlungen aus dem Restaurant kommen sah. Schnell stieg sie in ihr Auto und verließ mit quietschenden Reifen den Parkplatz.

      Als sie an einer roten Ampel anhalten musste, legte sich die Wut langsam wieder und Scham über ihr Verhalten machte sich breit. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, erst im Restaurant so einen peinlichen Auftritt hinzulegen und anschließend auch noch ihren Frust an einem völlig Unbeteiligten auszulassen? Nur gut, dass sie keinem der Beteiligten – mit Ausnahme von Christian, der jetzt sowieso nicht mehr zählte – je wieder unter die Augen treten musste.

      Als sie auch noch einen Parkplatz direkt vor ihrer Tür ergatterte, war sie schon wieder sicher, dass es hin und wieder doch noch Glücksmomente in ihrem Leben gab. Sie ließ sich nicht so schnell unterkriegen. Doch dieses Gefühl hielt nicht lange vor, denn als sie auf den Beifahrersitz griff, um ihre Handtasche zu schnappen, griff sie ins Leere. Verdammt! Wo war denn diese blöde Tasche? Sie durchsuchte den Fußraum und die Rücksitzbank, aber die Tasche blieb verschwunden. Das konnte doch nicht wahr sein. In ihrer Tasche befanden sich sämtliche Papiere und natürlich auch ihr Haustürschlüssel. Unnötig zu erwähnen, dass auch das Handy in der Handtasche war und sie somit nicht einmal einen Schlüsseldienst anrufen konnte. Jetzt verfluchte sie sich dafür, dass sie immer so misstrauisch war, dass sie keinem ihrer Nachbarn einen Zweitschlüssel gegeben hatte. Nicht einmal Simone, obwohl sie inzwischen sogar miteinander befreundet waren. Aber anfangs hatte sie keinem vertraut und als sich dann eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelte, hatte sie einfach nicht mehr daran gedacht, einen Schlüssel bei Simone zu deponieren.

      Was jetzt? Natürlich hätte sie Christian anrufen und um Hilfe bitten können, da er immer noch seinen Schlüssel zu der gemeinsamen Wohnung hatte. Aber nach diesem Abend wäre sie eher durch das Badezimmerfenster eingebrochen als Christian anzurufen. Außerdem hätte sie dafür noch nach einer Möglichkeit zum Telefonieren suchen müssen.

      Wo hatte sie nur die Tasche gelassen? In Gedanken ließ sie den peinlichen Teil des Abends so lange Revue passieren (wobei sie bei den besonders unangenehmen Momenten ein wenig vorspulte), bis ihr schließlich einfiel, dass sie die Tasche das letzte Mal bewusst wahrgenommen hatte, als sie sich auf die Mauer setzte. Also musste sie sie wohl dort liegen gelassen haben. Wie blöd konnte man eigentlich sein? Hoffentlich hatte sie keiner geklaut.

      Sofort startete sie den Wagen und machte sich erneut auf den Weg zum 'Chez Philippe'. Dort angekommen suchte sie die Stelle an der Mauer sorgfältig ab, an der sie gesessen hatte. Nichts! Sie suchte auch noch den Rest der Mauer ab, aber die Tasche war