Michael Stuhr

DIE GABE


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ist schwer verletzt. Seht ihr? Unter seinem linken Schulterblatt steckt ein Pfeil und er blutet.“ Ich zeige auf die Stelle. „Vielleicht hatte er ja einen Jagdunfall?“

      „Aber warum grinst er dann so?“, murmelt Daniel. „Wer stirbt denn auf diesem Bild, der Verletzte oder der mit dem bleichen Gesicht? Seltsam!“

      „Und warum hat der Tod ein aufgerissenes Hemd?“ setzt Bea nach. „Und schaut mal, der Jäger fasst den Tod an, und der Tod sieht aus, als würde er sterben.“

      Bea hat Recht, der Jäger steht ganz dicht vor dem Tod und umfasst dessen Schultern. Es sieht fast so aus, als wolle er mit ihm tanzen.

      „Eine Art Totentanz vielleicht?“, vermute ich. „Aber warum grinst der Schwarzhaarige so hämisch? Er grinst den leichenblassen Mann so richtig überheblich an. Der Typ kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Mich schaudert.

      Bea’s Kopf ruckt zu mir rum „Hä?“ Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie mich an.

      Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich den letzten Satz laut gesprochen habe und schüttele nur den Kopf.

      „Was macht nur das kleine Mädchen da?“, murmelt Daniel hinter mir.

      „Und warum hat der grinsende Kerl einen nackten Oberkörper?“ rätsele ich.

      „Komisches Bild“, fasst Bea zusammen.

      Auf dem Schild steht neben dem Titel der Name des Malers, von dem ich noch nie etwas gehört habe: Amrel Triballat, bretonischer Maler, 1732 ist dort zu lesen.

      „Das Bild nehmen wir“, verkündet Daniel bestimmt. „Aus der Gegend kommt meine Familie und da kriegen wir mit Sicherheit auch eine Menge Informationen über diese Zeit und so.“

      „Sollen wir wirklich?“ Bea runzelt skeptisch die Stirn.

      Ich kann nur nicken. Eine merkwürdige Faszination geht von diesem Bild aus. Ich kann meinen Blick kaum von ihm lösen, als Daniel mich anstößt.

      „Träum nicht Lana, mach ein Foto. Ich schreib die Daten des Malers auf und dann sind wir hier fertig“, sagt er und zieht uns energisch ein paar Schritte zurück.

      „Okay, stellt euch mal möglichst unauffällig um mich rum.“ Ich packe meine kleine Nikon aus. „Ich versuch’s mal“ flüstere ich und halte die Kamera so, dass sie das Gemälde erfasst.

      „Aber ohne Blitz“, flüstert Daniel mir zu.

      Ich drehe mich zu ihm um und schaue ihn strafend an.

      „Ja ich weiß, du bist nicht zum ersten Mal hier“, murmelt er schuldbewusst.

      In der Tat, der Louvre begleitet uns schon die halbe Schulzeit lang und dass man hier nicht ungestraft mit Blitzlicht hantieren kann, weiß sogar eine Lana Rouvier.

      Ich mache mehrere Aufnahmen, indem ich die Kamera in meiner offenen Jacke versteckt in Brusthöhe vor mich halte.

      Schnell verlassen wir den Saal, ohne dem kritisch blickenden Museumsbediensteten in die Augen zu schauen.

      Etwas später beugen wir uns in einer Ecke über meine Kamera und begutachten die Qualität meiner Fotos auf dem Display. Eins ist richtig gut geworden. Man kann sogar das leicht spiegelnde Schild mit der Bildbeschreibung lesen.

      „Perfekt!“, murmelt Daniel, „das ist sogar richtig scharf, das wird man problemlos vergrößern können.“

      „Hey, da ist er ja schon wieder.“ Bea nickt mit dem Kopf in Richtung des nächsten Saales.

      Ich drehe mich um, sehe aber niemanden, der besonders auffällig wäre.

      „Wen meinst du denn?“, will Daniel wissen. „Wer ist wieder da?“

      „Lanas Verehrer“, grinst Bea. „Der Anzugtyp da vorne.“

      „Ach, der schon wieder.“ Daniel winkt ab. „Kennst du den?“, wendet er sich mir zu.

      „Nö!“, behaupte ich, und das stimmt ja vielleicht auch. Das einzige Problem bei der Sache ist, dass ich absolut nicht weiß von wem die reden. Da wo sie hinschauen, ist nämlich außer einer älteren Frau mit einem verrückten Hut niemand zu sehen.

      „Mmh, jetzt ist er weg!“ Ärgerlich schüttelt Bea den Kopf. „Komischer Kerl!“

      Ich hebe kurz die Schultern. „Hier laufen so viele Leute rum, wer weiß, wer das war“, erwidere ich leichthin und wende mich wieder ab. - Ich kann doch unmöglich erzählen, dass ich von Leuten mit hypnotischen Kräften verfolgt werde. Die beiden würden doch sofort wissen wollen, warum. Und dann? Wenn ich die Wahrheit sage, wenn ich ihnen sage, wovor ich wirklich Angst habe, erklären sie mich für verrückt. Lieber tue ich ganz unbefangen: „Na ja, egal, lasst uns gehen, sonst schickt Madame Ulliette noch einen Suchtrupp los.“

      Nachdenklich verstaue ich meine Digicam im Rucksack. Verdammt! - Ich habe diesen Typen weder in den Katakomben noch hier gesehen.

      04 CAETAN

      An der Einfahrt zum Panamakanal gab es den üblichen Rückstau, aber der Kapitän nahm über Funk Verbindung mit der Verwaltung auf und zwei Minuten später war alles geregelt. Die Manhattan war mit ihren hundertvierzig Meter Länge nicht gerade winzig zu nennen, aber im Vergleich zu den Containerschiffen ringsum war sie doch deutlich kleiner. Sich zusammen mit einem Schiff der Panamax-Klasse schleusen zu lassen, kam aber trotzdem nicht in Frage. Die waren allesamt fast dreihundert Meter lang und brauchten die mehr als dreißig Meter breiten Schleusen komplett für sich.

      Allerdings gehörte die aus dem Atlantik kommende Luxusjacht dem Großreeder René Felipe Montenaux, der für die Passagen seiner Schiffe jedes Jahr immense Beträge an die Kanalbehörde überweisen ließ. Das beschleunigte die Abfertigung dann doch erheblich. Also wurde noch am späten Nachmittag ein Konvoi aus kleineren Schiffen zusammengestellt, die die Schleusen gemeinsam benutzen konnten. In dieser Gesellschaft würde die große Yacht sofort in den Kanal einlaufen können.

      Schon zwei Stunden nachdem die stahlgraue Manhattan in der Wartezone angelangt war, ging es also in einem bunten Pulk kleinerer Motorjachten weiter. Mit mäßiger Geschwindigkeit fuhren sie hinter einem älteren Frachtschiff auf die riesigen Schleusen zu, und ein hochmoderner Gastanker schloss sich ihnen in einiger Entfernung an.

      Diego bekam in seiner Kabine von der ganzen Prozedur kaum etwas mit. Die Fahrt durch Mittelamerika interessierte ihn nicht. Die Manhattan war für die offene See gebaut, und die Enge des Kanals hatte bislang bei jeder Durchfahrt bedrückend auf ihn gewirkt. Außerdem hatte er im Moment mehr als genug damit zu tun, sich auf seine Immatrikulation in Berkeley vorzubereiten.

      Südfrankreich war im Sommer einer der angesagtesten Plätze der Welt, deswegen war die Lernerei ein wenig zu kurz gekommen. Der Aufnahmetest in Berkeley würde für ihn, den Sohn eines milliardenschweren Reeders, kaum mehr als eine Formsache sein, aber man musste sich ja nicht gleich am ersten Tag blamieren.

      Sofort nach der Abreise hatte Diego sich also hinter seinen PC geklemmt und eine wahre Burg aus Büchern um sich herum aufgebaut. Besser spät als nie. Schon erstaunlich, wie schnell Sonne und Strandleben einem das Gehirn lahm legen konnten. Diego war in der angenehmen Umgebung ein wenig faul geworden, und jetzt musste er doppelt und dreifach dafür büßen.

      Vor den Fenstern der Kabine tauchte die kurze Abenddämmerung alles in rötliches Licht, und wie immer um diese Stunde waren die Erinnerungen an die letzten Wochen sehr intensiv: Besonders schlimm war es im Moment, dass immer wieder Lana vor Diegos innerem Auge erschien. Regelmäßig war dann an konzentrierte Arbeit nicht mehr zu denken. Viel zu oft saß er nur traumverloren da, starrte mit blicklosen Augen auf den Monitor oder in ein Buch und durchlebte jeden Augenblick mit Lana neu. Nachts schlich sie sich in seine Träume und selbst am Tag wich sie nicht von seiner Seite. Immer war sie in seinen Gedanken bei ihm und Diego hätte alles dafür gegeben, wenn sie auf dieser Reise wirklich hätte dabei sein können. Hier und in Berkeley und überhaupt für das ganze Leben!

      Schon zweimal