Michael Stuhr

DIE GABE


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      „Aber da war doch niemand.“ Ich richte mich auf und folge ihrem Blick, aber ich kann niemanden entdecken. „Wen meinst du denn?“

      „Ist jetzt im anderen Saal.“

      Ich muss an mein déjà vu in den Katakomben denken. Genauso habe ich mich bei der Entführung gefühlt, so seltsam – gedämft. Sind sie etwa wieder hinter mir her? Steckt Dolores dahinter? Hat sie so viel Macht, dass sie mir auch aus dem Gefängnis heraus noch schaden kann? Eine heiße Welle läuft durch meinen Körper, und ich spüre, dass ich innerlich anfange zu vibrieren. Wer ist dieser Kerl? Was will der von mir?

      Gerade will ich aufstehen und rübergehen, um ihn mir anzusehen, als Daniel sich vor uns aufbaut. Ungeduldig sieht er auf uns herab. Er scheint noch richtig fit zu sein. „Jetzt mal los Mädels, wie machen wir es? Wollen wir alle zusammen ein Bild aussuchen, oder soll jeder einzeln auf die Suche gehen?“

      Mist! Ich kann mich jetzt doch nicht lächerlich machen und diesem Typen hinterherlaufen. - Vielleicht ist das ja sowieso alles nur Einbildung.

      „Na, was ist, Mädels? Entscheidet euch!“, drängt Daniel.

      „Ist mir egal, wie wir es machen. Hauptsache wir sind hier schnell fertig“, mault Bea und steht stöhnend auf.

      Schließlich ziehen wir alle zusammen durch die Säle und ich bin froh, dass ich nicht allein gehen muss. Immer wieder schaue ich mich um, aber da ist niemand, der mir folgt.

      Wir bleiben vor verschiedenen Gemälden stehen und ich merke, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, wonach wir wirklich suchen sollen. Diese Bilder sind alle so nichtssagend, so albern.

      Auch Daniel scheint so seine Probleme zu haben. Er schaut sich genau wie wir die vielen Gemälde an und kratzt sich ratlos am Kopf. „Was soll man bloß von dieser Frau auf der Schaukel halten? –Und was von ihren beiden grinsenden Verehrern? Mal ehrlich: Was sagt uns das über die gesellschaftliche Stellung der dargestellten Personen in ihrer Epoche?“

      „Man könnte vermuten, sie leben in einer Nervenheilanstalt“, meint Bea.

      „Ja und guck doch mal, wie merkwürdig die Frau grinst.“ Kopfschüttelnd stehe ich vor dem Bild. „Ich glaub, die ist scharf auf den Kerl hier vorne!“

      „Blödes Bild“, schimpft Bea neben mir, wendet sich ab und schaut sich mit ziemlich verzweifelter Miene suchend in dem großen Saal um.

      „Schaut mal, das hier ist noch besser“, ruft uns Daniel aus dem nächsten Saal zu und wird natürlich gleich von einem Museumsbediensteten mit leisen Worten zur Ordnung gerufen.

      „Das ist die falsche Epoche“, flüstere ich ihm zu, als ich bei ihm bin. Schnell schaue ich über die Schulter zu dem Museumswärter. Er nickt mir lächelnd zu. Das war wohl die Lautstärke, die er sich wünscht.

      „Aber witzig ist das Bild trotzdem“, grinst Daniel und deutet auf zwei nackte Frauen, die in einem Badezuber sitzen und den Betrachter mit merkwürdigen Blicken anschauen. Die eine zwickt der anderen seltsamerweise mit spitzen Fingern in die rechte Brustwarze.

      „Warum macht sie das?“ Bea schüttelt den Kopf. „Würdest du das bei mir machen, wenn wir zusammen duschen würden?“

      „Nein!“, wehre ich erschrocken und empört ab und fühle, wie ich dabei rot werde.

      Daniel mustert mich. „Du wirst ja ganz rot.“

      „Danke, jetzt wirds bestimmt sofort besser“, maule ich ihn an.

      Daniel grinst.

      „Ob das Lesben sind?“ sinniert Bea ziemlich laut, sie weiß noch nicht, dass sie hier andächtig flüstern muss. Ein ärgerliches „Ssst!“ macht sie darauf aufmerksam. „Was bewegt einen Maler dazu, so einen Moment festzuhalten?“, wispert sie hinter vorgehaltener Hand.

      „Geld?“, vermutet Daniel. „Bestimmt war das so ein Lohnmaler, der alles gemacht hat, wenn nur der Preis stimmte.“

      „Meinst du?“ Ich schaue ihn fragend an. Aber das klingt für mich schon logisch. „Ich glaube, hier sind wir sowieso falsch. Das waren doch bisher alles eher erotisch angehauchte Bilder. Ich weiß gar nicht, was wir damit anfangen könnten.“

      Ich schaue auf die Uhr und bekomme so langsam Panik. Ich fasse es nicht. Wir werden doch wohl heute noch ein Bild finden, das wir als Grundlage für unsere Präsentation über die Gesellschaftliche Entwicklung in einer Region Frankreichs im 18.Jahrhundert nehmen könnten.

      „Leute, ich glaube, wir hätten ein anderes Thema wählen sollen“ stöhnt Bea und lässt sich auf eine Bank fallen.

      Ich hocke mich mit gekrümmtem Rücken auf die andere Seite und starre Löcher in den Boden. „Ich will keine Bilder mehr sehen.“

      „Nicht schlapp machen, wir haben doch noch eine halbe Stunde Zeit.“ Daniel steht mit ausgebreiteten Armen vor uns wie ein Coach, der uns anfeuern will. Irgendwie mag ich ihn.

      „Eine halbe Stunde, doch noch so viel“, brummt Bea und reibt sich die Augen, was ihrer Schminke nicht gerade gut bekommt.

      „Wow!“ Daniel grinst sie an. „Warum fotografieren wir nicht Bea und schreiben über die Augenschminke und ihre Auswirkungen auf die Ausstrahlung eines Menschen?“

      Ich drehe mich zu Bea um und pruste los. Sie sieht aus wie ein kleiner Pandabär.

      „So schlimm?“, murmelt sie mit erschrocken gekrauster Stirn und kramt hektisch ihren Taschenspiegel aus dem Rucksack. „Merde!“ Mit spuckebefeuchtetem Zeigefinger versucht sie mit schnellen Bewegungen ihr Aussehen wieder zu korrigieren, während sie mit hochgezogenen Augenbrauen konzentriert in den kleinen Spiegel guckt.

      Ich drehe mich wieder um und starre die gegenüberliegende Wand an. Plötzlich dringt das Abbild eines Gemäldes in meinen verschleierten Tunnelblick. Im Vergleich zu seinen pompösen Nachbarn ist es eher klein. Es zeigt eine Personengruppe am Strand und im Hintergrund eine Ansiedlung mit einem spitzen Kirchturm. Eine kleine Insel mit einem festungsartigen Gemäuer darauf ragt gegenüber der Stadt aus dem Meer. Hinter den Leuten am Strand steht ein kleines Segelboot.

      Aber das ist es nicht, was mir an dem Bild so besonders ins Auge sticht. Langsam stehe ich auf und gehe darauf zu. Was ist so anders an diesem Bild im Vergleich zu den anderen, die wir bisher gesehen haben? Ich stehe davor und schaue mir die Personen genauer an.

      „Ey, die Gegend kenne ich doch“ Daniel steht neben mir und zeigt auf das Bild. „Ja klar, das ist Saint Malo – eindeutig! Und da ist auch das kleine Fort. Da wohnt meine Tante.“

      „In dem Fort?“, fragt Bea. Auch sie steht nun vor dem Gemälde und sieht wieder einigermaßen normal aus.

      „Ja klar!“ Daniel zieht ihr im Takt seiner Worte leicht an den Haaren. „Sie wohnt am Rand von Saint Malo in einem kleinen Haus am Meer.“

      Bea wehrt ihn lachend ab und betrachtet mit vor der Brust verschränkten Armen und schräg gelegtem Kopf das Gemälde. „Das Bild ist anders, irgendwie.“

      „Ja, weil das ein ganz anderer Stil ist“, werfe ich ein. „Die Leute sehen normal aus, nicht so künstlich. Wie Menschen eben. Die grinsen nicht so dümmlich lüstern, wie auf den anderen Bildern. Und sie sind auch nicht so komisch übernatürlich beleuchtet.“

      „Ja stimmt, die Leute auf den anderen Bildern wirkten wie glänzende Porzellanpuppen“, stimmt Bea mir zu, „obwohl...“ Mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen tritt sie näher an das Bild heran.

      „Du hast Recht“, ergänze ich ihren angefangenen Satz, „der Mann hier, neben dem die Armbrust im Sand liegt, sieht irgendwie merkwürdig aus, so blass, fast schon leichenblass!“

      Schweigend stehen wir vor dem Bild. Dieser Mann, sein aufgerissener Mund, die starren Augen ...

      „Warum ist er so bleich, es sieht aus, als würde er - sterben?“, flüstert Daniel.

      „Der Titel heißt ja auch Der Tod holt den flämischen