Claus Beese

Jan Kiekut


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für die Bremischen Pfeffersäcke schon immer als weit abgelegen und ein wenig exotisch galt. Vielleicht auch daran, dass sich noch niemand die Mühe machte, im spannenden Leben dieses Originals zu forschen und seine Geschichte zu dokumentieren. Das soll sich mit diesem Büchlein ändern.

      Aus dem Dunkel der Vergangenheit taucht das Bild eines verkannten Genies auf, ohne dessen Wirken sich die Geschichte des Bremer Nordens, ja, bisweilen sogar der ganzen Hansestadt nur schwer vorstellen lässt. Lernen wir ihn also etwas näher kennen, den bemerkenswerten Taugenichts, den man damals Jan Kiekut rief.

      Obwohl ihn keine zehn Pferde in die Schule brachten, kannte Jan sich aus. Er war plietsch, also aufgeweckt und gescheit, und wenn er etwas nicht wusste, so kannte er jemanden, den man fragen konnte. Er hielt sich an das, was sein Opa immer gesagt hatte: „Jan, der Mensch kann dumm sein, er muss sich nur zu helfen wissen!“ – Schließlich war Jans Opa mindestens so schlau gewesen wie der Herr Pastor.

      Jans größter Bewunderer war sein bester Freund Emil, der Sohn des Hafenkaufmanns. Wenn Emil noch versuchte, ein Problem zu erfassen, hatte Jan meistens schon die Lösung parat. Oft sah man beide zusammen an der Weser stehen, wo sie nicht nur angelten, sondern sich auch über die Welt unterhielten.

      „Jan, ich denk schon die ganze Zeit drüber nach, wieso unser Ort so heißt.“ Ganz langsam und bedächtig gab Emil diese tiefschürfende Überlegung von sich. „Vegesack – was mag das wohl bedeuten?“

      Jan Kiekut spuckte in hohem Bogen ins Wasser, legte den Kopf in den Nacken und schien nachzudenken.

      „Willst du die offizielle Version hören oder die Wahrheit?“, fragte er nach einer Weile, denn er hatte keine Lust, beide zu erzählen.

      „Du weißt das? Nich möglich! Jan, hast du schon mal daran gedacht, Lehrer zu werden?“

      „Bist du bregenklöterig? Eher heuere ich als Klabautermann auf einem Walfänger an“, schimpfte Jan. Dann bemerkte er den neugierigen, aber auch zweifelnden Blick seines Freundes.

      „Gut! Dann also beide“, stöhnte er. „Die offizielle Erklärung ist die, dass der Name von Feeg-Sack, also von einer Bucht am Fluss kommt.“

      „Bucht? Haben wir doch gar nicht!“, wunderte sich Emil. Jan atmete tief ein. Manchmal war es nicht leicht, Emils bester Freund zu sein.

      „Und der Hafen, du Dösbaddel? Was glaubst du, was an der Stelle früher mal war, bevor der gebaut wurde.“

      Emils Stirn legte sich in tiefe Denkerfalten, seine Augen richteten sich ein wenig zur Nase hin aus, so als wolle er in sich hinein blicken. Dann hob er den Kopf und schaute Jan freudestrahlend an, als sei ihm eben ein ganzer Kronleuchter aufgegangen.

      „Klar! Du hast recht, Jan. Mensch, was du alles weißt! Und der wirkliche Grund?“

      „Na, weil den Seeleuten hier in den vielen Kneipen der Geldsack utfeegt ward, also ausgefegt wurde. Wenn sie aus den Schänken kamen, waren ihre Taschen so leer, dass sie sie nach außen stülpen konnten, ohne dass noch etwas herausfiel.“

      Demonstrativ stand er auf, langte in seine Hosentaschen und drehte das Innerste nach außen. Emil klatschte sich die flache Hand vor die Stirn.

      „Geniaaaal“, hauchte er.

      Jan deutete mit dem Daumen nach hinten über seine Schulter. Emil drehte sich automatisch um, konnte aber nicht entdecken, was sein Freund meinen könnte.

      „Wie heißt die älteste Kneipe im Ort?“, fragte Jan, um Geduld bemüht. Emils Blick fiel nun auf das Gebäude neben dem Havenhaus, an dessen Fassade eine Matrosenfigur aufgemalt war, die eben die leeren Taschen aus der Hose zog. Darunter stand der Name der Schänke: Thom Fegesacke.

      „Und die steht da schon seit mindestens 1453“, trumpfte Jan auf. „Kapitän Harmssen sagt, das sind so ungefähr 350 Jahre, da waren sogar unsere Eltern noch klein. – Haste noch nie gesehen, nich?“

      Emils Augen wanderten wieder zur Nase, doch die Denkerfalten blieben aus. Scheinbar war der Geistesblitz diesmal schneller gewesen.

      „Jan, was meinst du? Ob die hier in Vegesack das alle wissen?“

      Jan schaute seinen Freund mit einem merkwürdigen Ausdruck an. „Ja. Ich glaube, mit ganz wenigen Ausnahmen, ja“, murmelte er erschüttert.

      Der Stapellauf

      Normalerweise war Jan Kiekut so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen, aber gerade jetzt war er so aufgeregt, dass ihm sogar das Frühstück nicht schmecken wollte.

      „Heute ist der große Tag!“ Er hibbelte auf seinem Stuhl herum, was ihm einen strafenden Blick seiner Mutter bescherte. „Onkel Heini hat mir versprochen, mich mit auf die Werft zu nehmen, Mama. Da soll ein neuer Segler vom Stapel laufen. Und vorher will er mir alles ganz genau zeigen und erklären. Ist das nicht toll?“

      So ein Stapellauf war schon etwas ganz Besonderes. Und Jan durfte auch dabei sein, wenn der Eigner das Schiff taufte. Mann, wenn das kein Ereignis war!

      Stolz durchschritt unser Vegesacker Jung an Onkel Heinis Seite das Tor und war sofort gefangen vom regen Treiben auf der Werft. Es sägte, klopfte und hämmerte rundherum, und Jan wusste gar nicht, wohin er zuerst schauen sollte. Auf riesigen Gerüsten waren Zimmerleute dabei, dicke Baumstämme zu handlicheren Planken zu zersägen. Aus der Schmiede stob ein heller Funkenregen, und überall zogen Arbeiter schwere Lasten auf Handkarren über das Gelände oder waren mit Pferdefuhrwerken unterwegs von den Werkstätten zur Helling.

      Onkel Heini führte ihn über die ganze Werft, bevor er mit dem Jungen zum Helgen ging. Das war der Platz am Fluss, an dem die Schiffe gebaut wurden. Jan blieb die Luft weg. Weit musste er den Kopf in den Nacken legen, um an dem hölzernen Rumpf des neuen Schiffes emporschauen zu können, das sich wie ein Gebirge vor ihm erhob. Onkel Heini erklärte ihm lachend, dass dieses Schiff nicht größer war als diejenigen, die im Hafen lagen. Nur konnte man jetzt, da es noch an Land lag, auch den Teil des Rumpfes sehen, der sich sonst unter Wasser befand. Dadurch wirkte es natürlich riesig in seinen Ausmaßen. Jan kam sich plötzlich ganz klein und verloren vor. Majestätisch und unbeweglich ruhte der Neubau auf der hölzernen Helling und Jan fragte sich, wie man diesen Koloss denn wohl ins Wasser befördern wollte? Mit Schieben wäre das nicht zu machen.

      Auch das konnte Onkel Heini ihm erklären. „Das Ganze steht auf einer Rutschbahn aus eingefetteten Balken und wird nur von einem einzigen Kanten Holz am Wegrutschen gehindert. Wenn du den wegziehst, gleitet das Schiff ins Wasser! Das ist alles wohl durchdacht. Aber, wart mal eben, Jan, ich sehe gerade da hinten den Meister winken. Jung, bleib mal eben hier stehen, ich komm gleich wieder.“

      Sprach’s, drehte sich um und verschwand zwischen den Gerüsten. Wenn der Meister rief, musste es etwas Wichtiges geben. Da hatte alles andere zu warten.

      Hm, ein einziges Holz! – Jan sah sich um. Welches mochte es wohl sein? Vorsichtig stupste er mal an den einen, wackelte dann zaghaft an einem anderen Balken.

      „Nö, alles fest“, brummelte er enttäuscht. Vielleicht weiter vorn? Gewandt kletterte er vor dem Schiff auf die schiefe Ebene und … Donnerwetter, was hatte Onkel Heini noch gesagt? Eingefettet! Jau, und wie gründlich und gut gefettet der Balken war, das merkte Jan Kiekut in dem Moment, als es ihm die Beine unter dem Achtersteven wegschlug und er auf dem Hosenboden die Schräge in Richtung Wasser hinunter glitschte. Er rutschte auf einen mächtigen Balken zu, und geistesgegenwärtig versuchte der Junge, sich mit den Füßen dagegenzustemmen, um seine Fahrt zu bremsen. Aber das Holz flog in hohem Bogen davon, und noch bevor der Bengel das Wasser erreicht hatte, hörte er, wie sich hinter ihm mit Knarren und Quietschen das neue Schiff in Bewegung setzte.

      Ein paar starke Arme rissen Jan Kiekut aus der Gefahrenzone und er kugelte ein paar Meter zur Seite, wo er sich unversehens in einem Haufen Takelseil wiederfand. Benommen rappelte sich der Unglücksrabe auf und konnte gerade noch sehen, wie der funkelnagelneue Schiffsrumpf mit mächtiger Heckwelle und unter dem aufgeregten Geschrei der Schiffbauer in die Weser rauschte.

      Jan Kiekut sah aber auch, wie einige der Zimmerleute