Claus Beese

Jan Kiekut


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für ihn nun noch aufregender werden sollte, hielt er es für angebracht, sich heimlich, still und leise aus dem Staub zu machen.

      „Es fällt mir bestimmt nicht leicht“, überlegte er und dachte dabei voller Wehmut an die verpasste Schiffstaufe, „doch manchmal kann es gesünder sein, sich in Verzicht zu üben.“ Mit einem letzten Blick über die Schulter wischte er aus dem Tor und machte, dass er davonkam.

      Fährmann, hal över !

      Die Handelswege waren zu Jan Kiekuts Zeiten noch nicht so gut ausgebaut wie heute, und so kam es schon mal vor, dass man sich nasse Füße holte, wenn man einen Fluss überqueren wollte. Da es damals an den Flüssen kaum Brücken gab, war man darauf angewiesen, eine Furt, also eine flache Stelle im Wasser, oder an den größeren Strömen eine Fähre zu finden. Eine Brücke gab es weiter oben an der Lesum, wo die Burg stand, denn dort verlief der alte Heerweg von Bremen nach Wesermünde, der in Friedenszeiten als Handelsweg genutzt wurde. Hier unten, bei dem kleinen Städtchen Vegesack, wo die Lesum in die Weser floss und beide Flüsse so tief waren, dass die großen Segelschiffe noch gut ihre Fracht anlanden konnten, ließ man sich vom Fährmann über den Fluss staken oder rudern.

      Der Fährmann, der die Wegverbindung der Uferstraße zwischen Bremen und Vegesack sicherstellte, hieß Hinnerk Paul und war ein angeheirateter Onkel von Jan. Gelegentlich half Jan ihm bei seiner anstrengenden Arbeit und sie ruderten den schweren Kahn dann gemeinsam über die Lesum. Onkel Hinnerk hatte daher auch keine Bedenken gehabt, Jan die Fähre einmal ganz anzuvertrauen. Onkel Hinnerk sollte nämlich noch einmal Vater werden und hatte sich zur Geburt einen freien Tag gegönnt.

      So saß also Jan Kiekut mit vor Stolz geschwellter Brust auf der Ruderbank und schipperte seine Fahrgäste zwischen dem alten Vegesacker Tief auf der einen Seite des Flusses und dem Schönebecker Sand auf der anderen Seite hin und her. Eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe, denn der Schiffsverkehr auf der Lesum war zu diesem Zeitpunkt schon recht dicht. Jan musste höllisch aufpassen, dass er nicht einem der behäbigen Torfkähne, die vom Teufelsmoor her die Hamme und Lesum hinab segelten, vor den Bug geriet.

      Onkel Hinnerk hatte ihm sehr ans Herz gelegt, an Bord für Ordnung zu sorgen. „Jung!“, hatte er gesagt. „Nix is schlimmer als Unordnung an Bord. Stell dir vor, der Herr Pastor würde während der Überfahrt über irgendeinen Krempel stolpern und über Bord fallen, nicht auszudenken wär das!“

      Nun, so verführerisch der Gedanke auch war, dem Prediger zu einem unfreiwilligen Bad zu verhelfen – Onkel Hinnerk hatte natürlich recht: Unordnung an Bord durfte es nicht geben. Jan war stolz auf sich, denn seinen wachen Augen entging nichts. Auch jenes kleine Tauwerk, welches dort vorn vorwitzig unter der Bank hervorlugte, hatte da eigentlich gar nichts zu suchen. Am besten wäre es wohl, wenn man es beiseite räumte. Noch besser, jetzt gleich, bevor noch etwas passierte. Jan hatte völlig vergessen, dass er sich gerade in der Mitte der Lesum befand. Das Gebändsel da zog ihn mit magischer Kraft an. Jawoll, wegräumen musste man das. Sofort!

      Jan Kiekut legte die Riemen aus der Hand, beugte sich vor, nahm das Ende in die Hand und zog. „Oha, das hat sich irgendwo vertüdelt“, stellte Jan fest und zog stärker. Aber das Tauwerk dachte gar nicht daran, sich zu lösen. Mit einem mächtigen Ruck riss der Junge nunmehr an dem Ende, bis es nachgab.

      Zu spät merkte Jan, dass es sich bei dem groben Hanfzopf um ein sehr notwendiges Bootszubehör handelte, welches Onkel Hinnerk kunstvoll in den breiten Spalt zwischen den Bodenbrettern gedrückt und mit etwas Teer verschmiert hatte. Wie aus einer Quelle sprudelte nun das Lesumwasser durch die Ritze in den Kahn, in dem Jan Kiekut wie versteinert stand. Stetig kletterte das Wasser an Jans Beinen empor, und an beiden Ufern des Flüsschens lief allerhand Volk zusammen und sah staunend zu, wie der schwere Eichenkahn langsam unter Jans Füßen wegsackte. Erst als dem Bengel das Wasser bis an den Hals stand, fiel ihm ein, dass er schwimmen konnte. Triefnass zog man den prustenden Aushilfsfährmann schließlich ans Ufer, wenn auch an das falsche. Bibbernd stand Jan Kiekut am Schönebecker Sand und schaute frierend hinüber nach Vegesack. Wie sollte er nun da wieder hinkommen? Nur gut, dass Jan sich immer zu helfen wusste. Die Menge der Schaulustigen allerdings brach in donnerndes Gelächter aus, als Jan Kiekut sich ans Ufer stellte, mit den Armen winkte und rief: „Fährmann, hal över!“

      Wahrschauuu !!!

      Es war wie verhext. Dichter Nebel lag über der Weser und hüllte ganz Vegesack in einen undurchdringlichen Schleier. Jan Kiekut stand schon seit Stunden am Utkiek und wartete. Gerade heute sollte doch Onkel Fiete von großer Reise nach Grönland zurückkommen. Man hatte das Schiff schon am Morgen erwartet, und jetzt war Mittag vorbei. Der Nebel machte keine Anstalten, sich zu verziehen. So konnte natürlich kein Schiff die Weser hochfahren, denn Radar war zu jener Zeit noch nicht erfunden.

      „Mist!“, brummelte Jan Kiekut und lauschte dem Gebimmel draußen auf dem Strom. Dort lagen einige Segelschiffe vor Anker, die der Nebel überrascht hatte. Die Besatzung musste nun alle naselang die Schiffsglocke läuten, als Warnung für noch in Fahrt befindliche Schiffe. Plötzlich hob Jan angestrengt lauschend den Kopf. Da war noch etwas: Leises Knarren und das Knarzen von Masten und unter Last stehenden Segeln war zu hören, und es wurde ständig lauter.

      „Wahrschauuuu!!!“, brüllte es draußen auf dem Fluss, woraufhin von allen Seiten heftiges Glockenschlagen durch den Nebel drang und „Wahrschauuu!!!“-Rufe in allen Tonlagen ertönte.

      Dann wieder „Wahrschauuu!!!“ von flussabwärts her. Gebimmel und „Wahrschauuu!!!“ von querab und flussauf. Wahrhaftig, da kam ein Segler im dichten Nebel die Weser hoch. Ganz langsam schob ihn der schwache Wind gegen den Strom flussauf. Der Kapitän schien verrückt zu sein.

      Aber, dammi nomool, sinnierte Jan Kiekut, der musste sich verfahren haben. Denn wenn er auch die Schule nur gelegentlich besuchte, so hatte er doch schon gehört, dass die Stadt Warschau viel weiter im Osten lag. Also musste man den Leuten doch sagen, dass sie irgendwo falsch abgebogen waren und wo sie sich wirklich befanden. Beim nächsten „Wahrschauuu!!!“ antwortete er deshalb in voller Lautstärke: „Veeeegesaaack!!!“

      Donner, da wurde es still am Strom! Nur der Ausguck von dem aufkommenden Segler versuchte nochmals sein Glück und rief: „Wahrschauuu!?!“

      Allerdings klang das schon etwas zaghafter und auch leicht verwundert. Ungerührt donnerte Jan Kiekut zurück: „Veeegesaack, du Töffel!!!“

      Brüllendes Gelächter aus allen Richtungen antwortete ihm.

      „Vegesack???“, schrie nun der Ausguck und „Vegesack!!!“, „Vegesack!!!“, schrie es vielstimmig mit Gelächter aus dem Nebel zurück.

      „Na also!“, brummelte Jan zufrieden, vergrub die Hände bis an die Ellenbogen in den Hosentaschen und spuckte in hohem Bogen in den Fluss.

      Irgendwann später einmal klärte ihn sein Freund Kapitän Harmssen darüber auf, dass auf der ganzen Welt der Ruf „Wahrschau!!!“ der Warnruf der Schiffer ist und so viel heißt wie „Achtung!“ oder „Vorsicht!“. Aber da war es bereits zu spät, denn seit jener Zeit ruft man bei Nebel auf der Weser nur noch „VEEEEGESAAACK !!!!!“

      Mond-Aale

      Hein Petermann, was Jan Kiekut sein Vater war, rieb sich die Hände. Jau, heute passte alles ganz wunderbar zusammen. In der Nacht würde Vollmond sein, und die Flut würde auflaufen, wenn der Mond schon hoch stand. Zwar bedeutete dies, dass an Schlaf nicht zu denken war, aber Hein Petermann wollte heute zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zum einen würden heute die Aale mit dem auflaufenden Wasser ins Flache aufsteigen, um vor dem Schilfgürtel am Ufersaum nach Fressbarem zu jagen. Dort würden sie leichte Beute für den Fischer sein. Und zum anderen musste er ja irgendwann mal dem Bengel was Vernünftiges beibringen.

      Er kramte gutgelaunt die Aalgabeln aus dem Geräteschuppen hervor und wog sie prüfend in der Hand. Jau, die etwas kleinere und leichtere Gabel konnte Jan schon gut führen. Im seichten