Matthias M. Rauh

Die vom Tod verschmähte Katze


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fast fingerdicken Nickelbrille steckten. Engels...

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      Engels war Pappkes gehorsamer Diener - eine schmächtige Gestalt, deren Haupterkennungszeichen neben besagter Brille eine abgetragene Aktentasche war, die stets unter dem linken Arm klemmte. Das willenlose Frettchen folgte seinem General auf Schritt und Tritt - aber stets in einem gewissen Abstand, da es in Pappkes Kreisen natürlich als höchst uncool galt, sich mit einer derartigen Gestalt abzugeben. Doch Engels war für ihn viel zu nützlich, um ihn einfach davonzujagen.

      Gerade schien der Wicht nicht so recht zu wissen, was er tun sollte. Also glotzte er noch ein wenig und verschwand schließlich hinter der schwenkbaren Eingangstür. Pappkes Befehlsempfänger wirkte immer irgendwie verunsichert, wenn es keinen Befehl gab, den er befolgen konnte.

      "Ja, hau bloß ab, du Ratte", machte Valentin seinem Ärger Luft, während sich die übrigen Schüler noch immer amüsierten und ihn mit einer Cola-Dose beschossen.

      Da fuhr ihn plötzlich eine Kasernenhofstimme an: "Kraus, was machst du da unten? Träumst du schon wieder? Was soll der Müll da auf dem Boden?"

      Die Stimme gehörte Glatzkopf, seinem schlimmsten Lehrer, der eigentlich ganz anders hieß. Doch der Name Glatzkopf hatte sich eingebürgert, da ihm nunmal das gesamte Haupthaar von der Rübe gefallen war (und es eigentlich keiner Erklärung bedarf, weswegen). Glatzkopf war ein fürchterlicher Choleriker, ja das regelrechte Paradebeispiel eines Scheusals - wie die meisten Schulmathematiker eben. Kaum hatte er die Szenerie betreten, da wurde es unter den herumstehenden Schülern mucksmäuschenstill.

      "Was ich da unten mache?", keuchte Valentin unüberlegt zurück. "Was meinen Sie denn? Ein Picknick vielleicht..?"

      Das war ein Fehler. Sofort färbte sich der Kopf des hageren Zahlenverdrehers feuerrot.

      "Unverschämtheit! Was erlaubst du dir eigentlich? Liegst hier faul in der Gegend herum, anstatt dich auf die Arbeit zu konzentrieren! Du bist vorgemerkt, verstanden?"

      "Phantastisch."

      "Und räum gefälligst diesen Müll da weg!"

      "Sehr wohl. Wie Sie wünschen."

      Als das Ekel endlich verschwunden war, kam wieder Leben in die Schülerschaft. Natürlich konnte ein Junge der Gelegenheit nicht widerstehen, Valentin die Cola-Dose noch einmal so richtig vor den Latz zu schießen. "Hast du nicht gehört? Du sollst den Müll da aufheben, hahaha!"

      Worauf die Menge wieder laut zu johlen begann.

      Es war genau dieser Augenblick, in welchem etwas höchst Ungewöhnliches geschehen sollte. Etwas, das Valentin Kraus in seinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte: Zwischen all den grinsenden Gesichtern erschien nämlich ganz plötzlich und unerwartet eine Hand.

      Es war eine Hand, die ihm aufhelfen wollte. Valentin konnte sich nicht erinnern, dass ihm jemals eine Hand gereicht wurde, wenn er am Boden lag. Diese aber tat es. Es war eine sehr blasse Hand, deren Fingernägel auch noch pechschwarz lackiert waren - und weil er einen Augenblick zögerte, griff sie einfach zu und zog ihn in die Höhe. Sie war eiskalt.

      Die helfende Hand gehörte jemandem, dem er am allerwenigsten zugetraut hätte, etwas Derartiges zu tun. Es war Luiza, das ewig finster in die Welt blickende Mädchen mit den schwarzen Haaren, den schwarzen Lippen, dem schwarzen Mantel und den schwarzen Schuhen. Das Mädchen, das meist abseits der Menge stand und stets ein kleines Buch in den Händen hielt. Ihren Nachnamen kannte Valentin nicht, da sie gewöhnlich nicht sprach. Wahrscheinlich wusste niemand, wie sie mit vollem Namen hieß. Wer zum Teufel sollte sie auch rufen, die Tochter des Todes..?

      Ihr Gesicht war blass, noch blasser als sein eigenes. Vielleicht wirkte es auch nur so, wegen all dem Schwarz, das sie trug. Jedenfalls war es kein Wunder, dass man Luiza hinter vorgehaltener Hand eine Reihe von Spitznamen verpasst hatte: Sie war Der wandelnde Trauerfall, aber auch Das Ding aus der Gruft oder Die kleine Halbtote, meistens jedoch einfach nur Grabstein.

      Doch niemand wagte es, sie zu beschimpfen, was wohl an ihrer höchst düsteren Aura lag, die sie umgab. Aus irgendeinem Grund hatte Luiza einfach etwas sehr Gespenstisches an sich - etwas, das den anderen vielleicht tatsächlich Angst einjagte. Er beneidete sie um diese grenzenlose Unnahbarkeit, denn sie wirkte wie ein unsichtbarer Schutz.

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      Es erübrigt sich, zu erwähnen, dass auch Luiza niemals auf Partys eingeladen wurde. Was sie allerdings nicht sonderlich zu stören schien. Sie wäre wohl selbst dann nicht zu einer Party gegangen, wenn man sie mit Einladungen zugeschüttet hätte. Nur einmal hatte Valentin sie beobachtet, als sie sich mit jemandem unterhalten hatte. Das war im Sommer, als sie auf einer Mauer saß und mit einem Punker sprach. Auch darum beneidete er sie. Hätte es Valentin Kraus gewagt, einen Punk anzusprechen, hätte ihn dieser wahrscheinlich auf der Stelle niedergestreckt.

      Nun aber hatte Luiza, der wandelnde Trauerfall, Valentin, dem wandelnden Unglücksfall, die Hand gereicht. Er brauchte einen kurzen Moment, um sich zu sammeln und wusste nicht, was er sagen sollte. Und als er zu überlegen begann, hatte sie sich auch schon umgedreht und war im Durcheinander der umherlaufenden Schüler verschwunden.

      Kapitel 14 - Das Monster am Himmel

       (Apokalypse bei Sonnenschein)

      Die Eigenschaft, stets mit den Worten zu kämpfen, wenn es darauf ankam, war Valentin schon oft zum Verhängnis geworden. In seinem Kopf herrschte nämlich grundsätzlich gähnende Leere, wenn der Moment für einen guten Spruch gekommen war. Stattdessen kam ihm in derartigen Situationen immer nur irgendetwas in den Sinn. Das Krächzen einer Krähe vielleicht. Oder das Geräusch einer sich schließenden Bustür. Es war hoffnungslos, etwas, das man nicht ändern konnte, da richtige Momente die bedauernswerte Eigenschaft haben, in Windeseile zu vergehen. Dabei hatte dieses Wort nur fünf lächerliche Buchstaben gehabt: D-A-N-K-E. Aber es war ihm in diesem einen Augenblick eben nicht eingefallen.

      Wie erwartet, sollte der Tag noch weitere niederschmetternde Ereignisse bereithalten. Natürlich zögerte der schreckliche Mathematiker keine Sekunde, seiner Ankündigung auch Taten folgen zu lassen - und es musste für die übrige Schulklasse ein wahrer Hochgenuss gewesen sein, den verhassten Jungen bei seinem Horrortrip an der Tafel versagen zu sehen.

      "Da seht ihr´s", hatte Glatzkopf den grinsenden Schülern anschließend verkündet. "Das passiert, wenn einer träumend durchs Leben geht..."

      Als sich die Krähenschar mittags vom Schulhausdach erhob, war das Martyrium endlich vorbei. Und erst jetzt fiel Valentin auf, dass sich das Wetter inzwischen radikal geändert hatte. Es herrschte strahlender Sonnenschein, wobei das Bild nicht einmal von einem einzigen Wölkchen getrübt wurde. Doch diese Idylle sollte schon bald ein jähes Ende finden. Kaum hatte der Bus nämlich das kleine, abgelegene Dorf erreicht, fuhr Valentin ein ungeheurer Schreck durch alle Gliedmaßen.

       Krach!

      Ein fürchterliches Unwetter tobte in der Ferne über dem Wald. Es hagelte und stürmte, und ein infernalisches Blitzstakkato ließ die ganze Landschaft erzittern. Das Eigenartige daran aber war, dass es ausschließlich an diesem Ort gewitterte. Ansonsten war der Himmel nämlich strahlend blau.

      Der Krähenspäher krächzte ihn ungeduldig von einem Ast der knorrigen Eiche an, was wohl als Aufforderung, endlich loszugehen gedacht war. Doch Valentin beachtete ihn nicht und starrte stattdessen wie gebannt auf das gespenstische Treiben im Himmel. Handelte es sich hierbei um ein seltenes Wetterphänomen? Er fand keine Antwort.

      Die finsteren Wolken hatten sich zu einem rotierenden Turm aufgebäumt - wie ein gigantisches Monster, welches sich anschickte, ein Stück von der Landschaft zu fressen. Man brauchte nicht viel Phantasie, um festzustellen, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Eine kleine und bedrohlich kreisende Gewitterzelle am strahlend blauen Himmel,