Matthias M. Rauh

Die vom Tod verschmähte Katze


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Uhr vier und 16 Sekunden!"

      "Wird halt einfach so stehengeblieben sein...", bemerkte Valentin etwas genervt. Wie konnte man nur einen derartigen Aufstand machen wegen einem dämlichen Wecker?

      "Einfach so?", fuhr ihn der Alte an. "Einfach so? Du törichter Junge! Keine Uhr der Welt bleibt einfach so stehen. Schon gar nicht..."

      "Dann ziehen Sie sie halt wieder auf", schlug Valentin vor.

      "Aufziehen? Bist du des Wahnsinns? Das ist unmöglich. Der natürliche Lauf ist unterbrochen worden! Diese Uhr hat vor weitaus mehr als acht Stunden den abzuleistenden Dienst verweigert. Man kann sie nicht mehr aufziehen! Das ist...das wäre der reinste Frevel an meinen Aufzeichnungen! Ich kann die Uhr nicht mehr aufziehen. Der vorherbestimmte Zeitpunkt des folgenden Stillstands..."

      Er hastete zurück zum Kompendium und blätterte es erneut panisch durch.

      "9. September um exakt 16 Uhr 53 und 27 Sekunden! Wie ich es dir gesagt habe: Verlorene Zeit ist nicht wieder aufzuholen! Wenn ich die Uhr jetzt aufzöge, würde sie nicht am 9. September um exakt 16 Uhr..."

      "Dann ziehen Sie sie halt ein bisschen weniger auf. Sie können der Zeit doch ein Schnippchen schlagen."

      Nun rastete der kontrollversessene Mann völlig aus. Wutentbrannt packte er das Kompendium und schlug es vor sich auf den Tisch, mit einer derartigen Wucht, dass selbst das edle Telefon erzitterte.

      "Ein bisschen weniger?!", brüllte er und raufte sich vor Wut die Haare. "Ein bisschen weniger ist keine exakte Angabe. Ein bisschen weniger ist der ungehobelte Frevel eines törichten Dummkopfs. Ein bisschen weniger! Das wäre ja, wie wenn plötzlich der Tod durch diese Tür käme, unangemeldet, im falschen Augenblick!"

      Du meine Güte, dachte sich Valentin und schüttelte den Kopf. Der spinnt ja wirklich. Oh, da ist Krähenkacke am Fenster. Glück gehabt...

      So verließ er den Laden. Von draußen beobachtete er ihn noch eine Weile, wie er immer und immer wieder das Chronographenkompendium durchblätterte und sich die grauen Haare raufte. Herr Zacharias war offenbar gerade dabei, vollends den Verstand zu verlieren. Unter unzähligen Krähenaugen riss sich Valentin die Krawatte vom Hals und ging ein wenig spazieren - etwas Zeit totschlagen, bis sich der alte Mann wieder beruhigt hatte.

      Als er nach einer Weile zurückkehrte, war es in dem Geschäft ganz still geworden. Herr Zacharias saß in seinem Ohrensessel und war ganz friedlich eingeschlafen. Noch immer hielt er den kleinen Frevelwecker in seiner Hand, der zu seiner Verwunderung wieder Geräusche von sich gab.

       Krrrrrrx...krrrrrrx...krrrrrrx...

      Man konnte dieses unverschämt schäbige Rasseln besonders gut hören, denn es war inzwischen tatsächlich sehr still geworden in dem beschaulichen Laden.

      Zu still. Erst jetzt bemerkte Valentin, dass alle anderen Uhren stehengeblieben waren. Nie im Leben hätte sich Herr Zacharias in einem derartigen Augenblick ein Mittagsschläfchen gegönnt. Und je mehr der plumpe Junge darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass sich der kontrollversessene Mann während seiner Anwesenheit noch nie ein Mittagsschläfchen gegönnt hatte. Entsetzt machte er einige Schritte zurück, bis er mit dem Rücken an die Ladentür stieß.

      Herr Zacharias war tot, lebte nicht mehr, war für immer eingeschlafen. Eine Leiche saß da in dem Ohrensessel. Der Antiquitätenhändler hatte sich über den störrischen Wecker offenbar so derart geärgert, dass er vor Wut wohl alle Uhren angehalten hatte und am Ende selbst einen Herzinfarkt bekam.

      Es war ein sehr stilvoller Tod gewesen, im Ohrensessel, aufrecht sitzend - genauso, wie Herr Zacharias Gevatter Tod seine ganz persönliche Art zu sterben befohlen hätte.

      "Wenn Sie bitte warten würden, bis ich...Herr...äh..."

      Er hatte sogar die weißen Stoffhandschuhe angezogen.

      Kapitel 3 - Ein kleines Rätsel

      Und so bekamen die vielen Passanten der Altstadt erneut Gelegenheit, sich über den Jungen in dem Anzug lustig zu machen.

      "He, Kleiner! Wo bist du denn ausgebrochen?", rief irgendjemand, worauf die Menge zu lachen begann. Valentin ließ die Idioten links liegen. Er hatte soeben eine wahrhaftige Leiche gesehen und war damit völlig bedient. Doch je weiter er rannte, desto klarer wurde ihm, dass das alles nichts nützte. Der ehrenwerte Herr Zacharias war tot. Aber wenn er ihm noch einen letzten Dienst erweisen wollte, dann sollte er schnellstens umkehren und den Schlüssel für die geheimnisvolle Kammer finden, noch ehe der Landstreicher zuschlagen konnte. Also lief er wieder zurück - in jenen Laden, dessen Dach von den Krähen bevölkert wurde.

       Krrrrrrx...krrrrrrx...krrrrrrx...

      "Tut mir leid...ähm, dass Sie tot sind", flüsterte er, als er eintrat. Herr Zacharias saß noch immer friedlich in seinem Sessel und hielt den unverschämten Rasselwecker in der Hand. Und wieder musste Valentin mit aller Macht gegen den Drang ankämpfen, Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen.

      Willkürlich öffnete er die Glastür einer Standuhr, denn der Kammerschlüssel, so war er sich sicher, musste sich in einer der Uhren befinden. Dann versuchte er es bei der Uhr mit der tanzenden Ballerina und einer übergroßen Wanduhr. Die goldene Tischuhr mit der Glaskuppel und das kitschige Wetteruhrenkabinett wurden ebenfalls unter die Lupe genommen. Aber es half nichts - die geheimnisvolle Kammer blieb verschlossen.

      Es war aussichtslos. Enttäuscht ließ er sich auf einen Stuhl fallen und dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht doch klüger wäre, einfach die Polizei zu rufen und diesen Ort auf schnellstem Wege zu verlassen.

      So verstrichen die Minuten. Und wie er da seine Blicke über die stillstehende Zeigerarmee schweifen ließ, kam ihm plötzlich eine Idee. Dieser Laden bestand nunmal nicht nur aus Uhren. Da waren schließlich auch die vielen Bücher, die der Antiquitätenhändler stets wie rohe Eier zu behandeln pflegte.

       ...und äußerste Vorsicht bitte. Diese Werke sind noch handschriftlich verfasst..."

      Es gab da nämlich ein altes Buch, das eine Art Sonderstatus genoss. Es war nicht in die Regale eingeordnet worden, sondern hatte seinen Platz inmitten einer ausladenden Glasvitrine gefunden. Dieses Buch sah zumindest danach aus, noch handschriftlich verfasst worden zu sein. Aber viel wichtiger war, dass es eine kleine Besonderheit besaß: In seinem Buchdeckel war nämlich eine geschmiedete Uhr in Form einer mittelalterlich dargestellten Sonne eingearbeitet. Und jetzt, da er diese (im wahrsten Sinne des Wortes) literarische Uhr genauer unter die Lupe nahm, fiel ihm auf, dass auch sie noch munter tickte. Hatte Herr Zacharias in Erwartung seines bevorstehenden Todes tatsächlich vergessen, sie anzuhalten?

      Vorsichtig hob er das gewaltige Werk aus der Vitrine. Und kaum hatte er den monströsen Buchdeckel aufgeklappt, da erklang auch schon eine kleine Melodie, wie bei einer Spieluhr. Er schüttelte das Buch, und es rasselte im Uhrwerk - der Schlüssel.

      Um ihn zu erreichen, musste man allerdings schon in der Lage sein, das gesamte Uhrwerk zu öffnen - für einen Uhrmacher sicher nur eine Fingerübung, aber für einen dummen Jungen, der gerade gut genug war, mit dem Staubwedel herumzufuchteln..?

      "Moment mal", flüsterte Valentin. Erst jetzt bemerkte er am unteren Ende des eisernen Uhrwerks ein weiteres Ziffernblatt in Form einer mittelalterlichen Sonne. Es besaß zwei kleine Zeiger. Und wenn man die drehte...

       Klack...klack...klack!

      Da vernahm er in Gedanken die Stimme des Alten. Was hatte er ihm noch über die Zeit alles erzählt?

       Ich brauche nur am Zeiger zu drehen, schon ist die verlorene Zeit wieder aufgeholt. So kann man sie überlisten...

      Die Sonnenuhr stellte also eine Art Zahlenschloss dar. Aber wenn man nicht wusste, auf welche Zeit man sie einstellen musste, blieb der verdammte Schlüssel wohl für immer und ewig darin eingesperrt.

      "Nur eine Zeigerdrehung",