Tons May

Zellgeflüster


Скачать книгу

die um die vorletzte Jahrhundertwende vor einem Publikum in Trance ging und einige Künstler der Münchner Secession inspirierte. Meine Magdeleine wurde zum Selbstportrait. Das dunkle Haar, das sie auf den meisten Fotos zusammengebunden trug, fiel ihr auf meinem Bild schwer ins Gesicht. Dunkle Flecken zogen sich ihre Hände und Arme entlang. Sie hatte meine Haltung, meinen unsicheren Blick. Halb entrückt und gleichzeitig festgenagelt in der Welt. Sie hatte meinen Schatten.

      Seitdem trägt jedes meiner Bilder den Schatten. Ich kann ihn nicht abschütteln, egal, wie oft ich ihn male. Aber ich bilde mir ein, er wird leichter, wenn ich ihn auf viele Bilder verteile. Jeder Charakter trägt ein Stück davon. Und während ich ihn male, spüre ich ihn nicht.

      *****

      Als die Tür hinter Jesse zufällt, zittern mir die Beine. Es ist so, als würde schlagartig alle Kraft aus mir weichen. Ich setze mich aufs Bett und lasse mich nach hinten fallen. Ich weiß nicht mehr im Detail, was in den letzten Stunden passiert ist, aber es war anders als sonst. Jesse wirkte die meiste Zeit, als sei er weggetreten. Doch machte er immer weiter, wie ferngesteuert. Ich verlor einen Witz darüber, auf den er nicht reagierte. Und dann.

      Und dann überrascht er mich. Er lässt sich auf mich fallen und bleibt schwer auf mir liegen. Ich kann mich nicht mehr wegdrehen, kann mich nicht mehr bewegen. Bekomme keine Luft mehr. Er schiebt mir etwas in den Mund, klein und glatt. Ich schlucke, bis mir schwarz wird vor Augen. Das letzte, was ich spüre, ist ein Brennen am Steißbein und sein Atem an meinem Ohr. An beiden Ohren gleichzeitig. Dann bin ich weg.

      Als ich wieder zu mir komme, höre ich ihn flüstern. Ich verstehe nicht, was er sagt, und öffne die Augen. Er sitzt auf meinem Bauch und schaut mich an mit einem nüchternen, abschätzenden Blick. Unter seiner weißen Haut pulsieren blaue Flecken, die größer und kleiner zu werden scheinen. Morsezeichen, die ich genauso wenig verstehe wie sein Murmeln. Er lacht und hustet, immer lauter, bis ich ihm eine Ohrfeige gebe.

      Und dann muss auch ich lachen. Ich fühle mich dabei seltsam schwerelos, als würde mein Gehirn in Helium schwimmen. Ich lache, bis mir die Tränen kommen, bis ich Jesse nicht mehr sehen kann. Bis die Leichtigkeit zu einer tiefen Schwere wird, die sich über mich legt, mich in die Matratze drückt. Das nächste, was ich erkenne: Jesse beugt sich über mich. Seine großen schwarzen Augen sind aufgerissen und ich kann mich für einen Moment darin spiegeln (gleichzeitig weiß ich, dass das nicht möglich ist), fühle wie der Druck nachlässt, der Schmerz nebensächlich wird und treibe weg, immer weiter hinaus, sehe mich von oben, sehe, wie ich in einer großen stahlgrauen Wassermasse schwimme, ein kleiner heller Fleck in der Dunkelheit, schiffbrüchig, werde immer kleiner, während eine Stimme in mir summt. Die Stimme.

       Es muss aufhören. Aber es tropft und tropft und tropft in den nächsten endlosen Augenblick. Wie ein weiches schwarzes Meer, in dem sich die Zeit ausdehnt. In Wellen, nur wahrnehmbar, wenn sie an der Küste brechen, die Küste zur nächsten Welt, die hinter dem Augenblick lauert, hinter der nicht enden wollenden Gegenwart. In einer ausgefransten Schleife, einer Acht aus Algen, Strudeln, verblassenden Farben. Hier taucht man ein, um nie wieder aufzutauchen. Es hätte schon längst vorbei sein sollen.

      Ich merke oder bilde mir ein, dass ich schlafe und nicht aufwachen kann. Oder dass ich nicht schlafe und trotzdem nicht aufwachen kann. Ich träume, dass ich schlafe, ohne zu schlafen, dass ich immer schlafe, mein ganzes Leben lang, bis in den Tod hinein, und plötzlich erinnere ich mich an ein Versprechen: erst Farben, Strudel davon, Gewitter gar, und dann: Dunkelheit.

       Das war die Vereinbarung.

      Ich gleite durch Bilder und Blitze, fahre direkt in den Sturm hinein, ins gleisende Licht, und ich weiß, dahinter ist das Nichts. Ich segele hinein, in den längsten Moment, den Höhepunkt, treibe ins Gewitter, Wellen, so hoch wie mein Haus, wie alle meine Häuser, eins über dem anderen, eine Wellenstadt voller Türen und Fenster, halbe Gesichter hinter Vorhängen, winkende Hände, Füße auf Treppenstufen. Glitzernde, flackernde Erinnerungen, während sich das Gehirn reinigt, während das Gedächtnis alles abruft, bevor es sich löscht, sich immer wieder überschreibt, bis nichts übrig bleibt, das ersehnte Nichts, sich überschreibt, mich überschreibt und irgendetwas dazwischen, das mit mir zu tun hat, aber etwas anderes ist, schwimmt in der Welle, obenauf, ein Stück Treibholz, ich bin es, ein Stück Erinnerung, das sich gerade auflöst, alles nach Plan, alles, wie versprochen. Ich schwimme in einem Bardo, mein Haus zerbirst, eine Schwesterwelle nach der anderen wirft es wie Treibholz nach oben, nach unten, ins Nichts, ohne loszulassen, ich lasse nicht los, es lässt mich nicht los, ich fliege im Sturm, mein Kopf eine Flagge, mein Körper das Holz, an dem ich mich festhalte, in die Dunkelheit, die Dunkelheit, die große, schwere Dunkelheit.

      Ich träume, dass ich die Augen öffne und keine mehr habe. Alles ist grau. Ich sehe mich selbst, auch ohne Augen, erkenne mich in den Wolken, in den Wellen, hebe mich aus dem Wasser, schaue auf die Oberfläche, die jetzt ganz ruhig ist und spiegelglatt, erkenne mein Gesicht, das nasse Haar wie Algen auf der Stirn, wie Schlamm, spüre, dass es vorbei ist und

      Nachdem Jesse gegangen ist, nehme ich mein Notizbuch und schreibe los. Ich kann mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern, aber der Traum schreibt sich von selbst auf die Seiten, rekonstruiert sich, während meine Handschrift immer unleserlicher wird. Ich weiß nur eins: Ich war in einem Gewitter und habe mich langsam aufgelöst. In viele einzelne Teile, die jeder für sich weitergeträumt haben. Es noch jetzt tun.

      Und jeder Teil badete in einer dunklen, klebrigen Flüssigkeit, die organisch roch und voller Zellen war. Voller kleiner Lebewesen, die ständig ihren Zustand wechselten, aufleuchteten, sich vereinten, sich lösten, abstarben, in einem Raunen verschwanden, während ich nicht verschwinden konnte. Ich konnte einfach nicht loslassen.

      Der Traum hinterlässt eine Unruhe, die mich an den Zustand vor der Migräne erinnert. Ich klappe das Notizbuch zu und verstecke es unter der Matratze. Vielleicht, weil mich Tagebuchschreiben an meine Pubertät erinnert. Ich selbst habe nie Tagebuch geschrieben, aber ich habe die Tagebücher von anderen gelesen und darin herumgekritzelt. Mit kleinen Zeichnungen die immer gleichen Dramen illustriert. Wer in der Schule neben wem sitzt, wer wen nicht beachtet, wer mit wem raucht und wer in der Pause allein bleibt. Ich stehe auf und gehe einkaufen.

      Choco Crispies und Milch für Silvester. Gemüse und anderes Zeug, das ich ihm vorsetzen werde und das er nicht essen wird. Bier, Wein, Tabak und Brot für mich. Ich lasse mich durch die Gänge des Supermarktes treiben und überlege mir, was ich noch alles kaufen könnte. Ich könnte vieles brauchen, aber es ist mir zu anstrengend, die Packungen aus dem Regal zu ziehen und nach Hause zu schleppen.

      An der Kasse fange ich an zu husten.

      Ich schaffe es noch bis nach Hause und lasse die Tüten fallen. Die Milch muss in den Kühlschrank, das meiste andere Zeug wahrscheinlich auch, aber ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Ein Hustenanfall schüttelt mich minutenlang und ich krieche ins Bett. Mir ist kalt, ich habe Durst, aber der Weg in die Küche ist zu lang. Der Weg zu der Wolldecke auf der Couch auch. Ich liege unter zwei Decken, zittere und huste.

      Es beginnt schleichend, kriecht lautlos von hinten heran wie ein geruchloses Tier. Leichtfüßig, tödlich. In der ersten Phase fühlst du die Schwäche in den Gliedern. Ein leises Räuspern in der Brust. Der Atem wird kürzer, rasselt hinter Rippengittern. Die Augen brennen, der Kopf pulsiert, Lichtreflexe bohren sich hinter geschlossene Lider. Alles ist zu eng und du ziehst dich noch weiter in dich zurück, weil dir kalt ist. Phase zwei: Dir ist so kalt, dass du dir an- und überziehen kannst, was du willst. Dir wird nicht wärmer. Die berühmte Eiseskälte der viralen Erscheinung macht es dir unmöglich, dich zu bewegen. Du erstarrst. Erst wenn du im Bett liegst und langsam eindöst, beginnt die Glut in dir zu schwelen. Die Hitze deines Bluts, das Antikörper produziert und immer schneller fließt, gepumpt von einem unregelmäßigen Herzschlag. Dir wird unglaublich heiß. Der Kopf glüht. Die Augen tränen. Die Nase läuft. Der Hals brennt. Fieber. Alles, was starr war, wird jetzt flüssig. Nun beginnt die dritte Phase.

      Du bist auf einmal ganz bei dir. Die Welt so groß wie dein Kopf, der sich aufbläht, das Bett, das ganze Zimmer, die Wohnung umfasst und sich dann wieder zusammenzieht, in die Größe einer Walnuss. Du bist in deiner Welt und alles