Tons May

Zellgeflüster


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mir, der Text würde durch meine Haut diffundieren. Vorbei am Gehirn und direkt ins Blut.

      Als das Telefon klingelt, wache ich auf. Jesse. Im Hintergrund ist es laut. Er will, dass ich sofort vorbei komme, wo auch immer er ist (er weiß es nicht), sonst würde er zu mir kommen. Ich höre eine Frau im Hintergrund lachen, dann ein Zischen.

      Er flüstert heiser: „Die Frau bringt mich noch um, Mann, hol mich hier raus.“ Und noch leiser: „Bitte.“

      Ich lache, lege auf und schlafe sofort wieder ein. Keine Träume vom Meer, kein süßer Duft, keine Hand auf der Stirn lassen mich aufwachen. Zumindest kann ich mich danach an nichts mehr erinnern.

      Am nächsten Morgen verschütte ich meinen Kaffee, als es im Hausflur poltert. Einen Moment denke ich, es ist die Polizei und schleiche mich an die Tür, um durch den Spion zu sehen. Der Spion ist genauso blind wie das Fenster daneben und ich kann nichts erkennen, aber ich mache das immer. Vielleicht, weil ich hoffe, ich könnte die Person auf der anderen Seite der Tür „erspüren“.

      Bevor ich etwas erspüren kann, brüllt Jesse meinen Namen. Ich öffne die Tür. An seinem Blick kann ich erkennen, dass er schon länger nicht mehr geschlafen hat.

      „Willst du einen Kaffee?“

      Jesse verzieht den Mund zu einem Grinsen und lässt den Kopf hängen. Er hält sich an der Tür fest und fixiert mich mit wölfischer Miene. Seine linke Gesichtshälfte ist dunkel verfärbt.

      „Guten Morgen, altes Haus!“

      Er ist viel zu laut und ich flüchte in die Küche. Dort halte ich meine verbrühte Hand unter das kalte Wasser und frage: „Hast du noch was übrig von deiner guten Laune?“

      Jesse brüllt zurück, „Beat, was du brauchst, ist eine Frau, die auf dich aufpasst!“

      Ich überlege mir, wie viel Kaffee ich trinken muss, um auf sein Niveau zu kommen. Als ich zurückkomme, steht er vor dem Bild von der Frau vor der Treppe. Er hat den Kopf schief gelegt und zieht an einer abgebrannten Zigarette. „Das ist Maya.“

      „Ist es nicht.“

      „Doch, das ist Maya. Nachdem du sie gefickt hast. Danach sieht sie immer so aus.“ Er macht beschreibende Handbewegungen.

      Ich setze mich aufs Bett, schließe die Augen. Ich kann mich nicht daran erinnern, das Bild wieder umgedreht zu haben. Ich wünsche, ich hätte es nicht getan. Oder war ich das gar nicht? Jetzt ist es zu spät und ich weiß, es ist sinnlos, mit ihm zu diskutieren. Die Frau auf dem Bild ist ungefähr zwanzig Jahre älter als Maya und nach der Mode der Zeit gekleidet. Sie steht starr vor einer Treppe, mit einem panischen Gesichtsausdruck. Hinter ihr tropft ein Schatten in einer dunklen Lache die Stufen hinunter. Im Holz zeigt sich der Umriss eines Menschen. Auf dem Foto, von dem ich sie abgemalt habe, wirkt sie nicht halb so panisch. Und auch hier hat sie nicht viel Ähnlichkeit mit Maya. Ich zeige mit der Hand auf die Vorlage, ein Ausdruck in schwarzweiß, der links oben auf der Leinwand klebt. Es ist sinnlos. Jesses Augen werden zu Schlitzen.

      „Sie war hier, oder?“

      „Vor einer Woche. Mit dir.“

      „Nein, letzte Nacht.“

      „Leider nicht. Willst du ein Bier?“

      „Mann, sag mir die Wahrheit, war sie hier?“

      „Nein. Willst du was rauchen?“ Ich überlege krampfhaft, was ihn herunterbringen könnte. Migränemedikamente? Schlafmittel?

      „Lüge mich nicht an, verdammt. Sie war hier, oder?“ Er steht vor mir, beugt sich nach unten, holt aus. Auf einmal weiß ich, warum ich das Bild nicht mehr anrühren wollte.

      Es dämmert, als ich wieder aufwache. Ich rolle mich an den Rand des Bettes und mache das Licht an. Einer von uns hat geblutet. Jesse liegt neben mir auf dem Bauch. Die langen Kratzer auf seinem Rücken sehen aus wie Schaltkreise. Meridiane, an deren Schnittstellen ich die letzten Stunden rekonstruieren könnte. Wenn ich wollte. Ich will nicht. Ich ziehe mich an den Heizungsrohren hoch und gehe ins Bad. Spucke ins Waschbecken. Kein Blut im Speichel. Meine rechte Augenbraue ist verkrustet. Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

      Maya meldet sich nach dem ersten Klingeln. Ich sage ihr, dass ich es heute nicht mehr schaffe. Ich höre, wie sie ausatmet.

      Und dann stellt sie die Frage, die seit unserem letzten Telefonat durch den Raum geistert: „Hast du was von Jesse gehört?“

      Ich würde gern antworten, das ist schon ein paar Tage her, warum? Aber ich kann nicht. „Er ist hier. Schläft seinen Rausch aus. Ich schmeiße ihn raus, wenn er wach ist, OK?“

      „Ach, weißt du was? Behalte ihn einfach. Ich brauche ihn nicht mehr.“ Sie legt auf.

      Ich frage mich, ob das auch für mich gilt.

      Ich male an der Frau vor der Treppe, als Jesse aufwacht. Seine Reaktion hat mir die Zweifel an dem Bild genommen. Vielleicht habe ich unbewusst geahnt, was es auslösen würde. Jetzt kommt mir nichts mehr merkwürdig daran vor. Im Gegenteil, die Stimmung ist genauso, wie ich sie haben möchte. Die Angst ist in Panik umgeschlagen. Der Angreifer hat angegriffen. Jetzt ist die Luft rein. Wer das allerdings entschieden hat, ich oder das Bild oder irgendetwas anderes, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wer das Bild umgedreht hat. Aber ich weiß, ich kann mir wunderbar selbst aus dem Weg gehen.

      Als ich ein Geräusch höre, drehe ich mich um. Jesse setzt sich langsam auf. Sein normalerweise ausdrucksloses Gesicht wirkt kurz gequält, aber er fängt sich wieder. Ich bemerke, dass nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Oberkörper geprellt und zerkratzt ist. Mehr als meiner. Dann sehe ich die blutigen Kreise zwischen seinen Brustwarzen. Davor waren sie mir nicht aufgefallen.

      Ich mache einen Witz. „Hast du dir was von Robert Fludd einritzen lassen?“

      Er schaut mich mit roten Augen an. Dann hustet er, zuckt mit den Schultern und steht auf. Er geht ins Bad und ich kann hören, wie er sich übergibt. Danach höre ich die Dusche, mehr Kotzen, den Wasserhahn. Er kommt zurück, wickelt sich in die Decke und schaut mir beim Malen zu. Ich mache die Musik lauter und male weiter. Ich bin mir sicher, er wird sich gleich über die Musik beschweren. Wenn er das tut, kontere ich mit Wagner.

      Doch er bleibt still. Als ich mich umdrehe, blättert er in einem Buch. Ich drehe den Ton herunter. „Was liest du da?“

      Er hält das Buch von Fiat hoch. Verdammt.

      Ohne etwas zu sagen, blättert er weiter darin herum. Ich ahne Böses, aber ich drehe mich um und arbeite an dem Hut der Frau. Ich möchte, dass sie durchscheinend wird, so als sei sie der Geist, nicht die Erscheinung vor ihr oder der Schatten auf der Treppe.

      Auf einmal spüre ich ihn direkt hinter mir.

      „Woher hast du dieses Buch?“

      „Keine Ahnung.“

      „Du hast es von Fiat, oder?“

      „Fiat ist ein alter Freund.“

      „Fiat war mit Pernath unterwegs. Er ist nicht ganz dicht.“

      Der sagenumwobene Pernath? Auf diese Diskussion lasse ich mich nicht ein. Stattdessen zeige ich auf das Bild. „Was denkst du? Sieht sie wirklich aus wie Maya?“

      „Lass dir keine Bücher von ihm aufdrängen. Er denkt, er hat einen Auftrag.“

      „Was für einen Auftrag?“

      „Ich war bei einem dieser Treffen, die er organisiert. Das sind Psychopathen. Die haben nicht locker gelassen, haben ständig genervt. Wie eine Sekte, Mann. Lass dich darauf nicht ein.“

      Ich atme aus. „Schon gut. Da besteht keine Gefahr. Ich bin kein Gruppenmensch.“

      Er starrt mich einen Moment lang an. Dann geht er zurück zum Bett, sucht seine Klamotten, seine Zigaretten. Als er merkt, dass ich zu ihm hinüberschaue, sieht er mich herausfordernd an. „Was?“

      „Bist du in Ordnung? Was sollen diese Kreise da ...“ Ich zeige mit dem Finger