Tons May

Zellgeflüster


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ist eine freie Idee. Ich hatte sie im Traum und nun male ich sie, wie ich sie erinnere. Ich interpretiere kein Foto. Das Bild wächst aus mir heraus wie eine Wurzel, die sich irgendwo festhalten will, die neuen Boden unter sich sucht. Dieses Bild ist eines meiner Bodenbilder.

      Die Bodenbilder zeigen Motive, die mir am nächsten sind. Motive, die mir Angst machen, für die ich eine große Leidenschaft entwickle. Sie basieren nicht auf Geisterfotografien, die inszenierte, unerklärliche, geglaubte oder beglaubigte Phänomene festhalten. Sie entstehen aus dem Bodensatz meiner Fantasien. Von dort kommt auch der Taubenstuhl. Er setzte sich eines Morgens nach dem Aufwachen auf mich drauf und ließ mich nicht mehr los, bis ich ihn skizzierte. Jetzt male ich ihn, um ihn endgültig los zu werden. Das bilde ich mir ein. Die Tauben wissen es besser.

      Ich bekomme Hunger, aber ich kann nicht essen. Also hole ich mir ein Bier. Die Tauben stimmen nicht. Eine schaut mich spöttisch an. Ich schüttle den Kopf, schließe die Augen, schaue wieder hin. Sie hat sich verändert, seit ich in der Küche war. Sie sieht nicht mehr aus wie ein Vogel. Ihr Ausdruck ist anders. Viel zu menschlich, viel zu unverschämt. Ich ziehe mit dem dünnsten Pinsel, den ich habe, weiße Fäden um die obere Hälfte ihres linken Auges. Es wird praller, noch ausdrucksstärker und wölbt sich feucht über die grauen Federn darunter, wölbt sich aus dem wolkigen Gewebe heraus, wie grün schillerndes Öl. Das Telefon klingelt.

      Fiat. Ich habe unsere Verabredung vergessen. Er erinnert mich freundlich daran, dass ich vor einer Stunde bei ihm sein wollte. Ich nicke den Tauben zu und verspreche ihm, dass ich sofort losgehe. Als ich die Pinsel und meine Hände reinige, spüre ich ihre Blicke, bohrend, belustigt. Sie wissen, ich haue ab. Ich weiche ihnen aus. Sie wissen auch, ich werde wieder zurückkommen und weiterkämpfen. Ich komme immer wieder zurück. Ich versuche zu fliehen, aber am Schluss lande ich immer da, wo sie mich haben wollen. Auf dem Rücken.

      Als ich an der Tür stehe, drehe ich mich um. Ich weiß nicht, warum, aber ich ahne vage, dass ich irgendetwas kontrollieren muss, den Herd, den Wasserhahn, irgendeine Lampe, die noch angeschaltet sein könnte. Ich gehe zurück zum Bett und schaue zum Nachttisch. Funzi steht neben der Lampe und schimmert grünlich. Ich winke ihm zu und gehe hinaus.

      Nachdem ich Fiat ein Foto von dem aktuellen Stand von Hydesville auf dem Telefon gezeigt habe, will er wissen, wie es mit dem Klarträumen klappt. Ich erzähle ihm von dem Spiegeltraum und der Geruchshalluzination, die mich zurück in die Kindheit transportierte.

      „Das waren interessante Zustände, aber ich kann nicht behaupten, dass ich irgendwas beeinflussen konnte.“

      Er macht ein nachdenkliches Gesicht, dann dreht er sich um und geht zum Bücherregal. An der Zielstrebigkeit, mit der er das Buch herauszieht, erkenne ich, dass er eine neue Strategie verfolgt. Fiat, der Mann für flexible Lösungen.

      „Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist.“ Er hält mir ein Buch vors Gesicht und macht mit der anderen Hand Spiralen in die Luft. Ich kann den Titel nicht lesen.

      „Die Alpträume, deine Vorahnungen, die Bilder, die du seit Jahren malst, Herrgott, Beat, merkst du es nicht?“

      „Ich mag Geister, was ist dabei?“

      „Du magst Geister?“ Fiats Stimme wird lauter. „Du magst Geister? Du bist besessen, mein Freund!“ Seine Stimme dröhnt wie die eines Exorzisten.

      „Was hast du gesagt?“, brülle ich zurück.

      „OK, OK“, er wird leiser, „dann stelle dir mal vor, dass jemand versucht, zu dir Kontakt aufzunehmen. Derjenige ist aber, wie soll ich sagen, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Wie würde es dieses Wesen anstellen, dass du ihm zuhörst?“

      Ich muss lachen. „Hm, knifflige Frage. Es schickt mir eine Mail?“

      Fiat wirft mir einen langen Blick zu.

      Ich beiße mir auf die Lippe. „Was willst du mir sagen? Dass ein Geist bei mir spukt? Der Geist meines Vormieters?“

      Er schüttelt den Kopf und faltet die Hände. „Du erzählst mir schon seit Jahren von merkwürdigen Träumen und Vorahnungen. Das hat nichts mit deiner Wohnung zu tun.“

      Ich werde nachdenklich. Vielleicht ist etwas dran an dem, was er sagt. Die Vorahnungen und Zufälle, das Interesse für Geister, die merkwürdigen Erscheinungen haben vor vielen Jahren angefangen. Sie haben vielleicht wirklich nichts mit dem Ort zu tun. Obwohl sie sich in meiner aktuellen Wohnung am besten zu manifestieren scheinen. Wahrscheinlich weil ich dort meistens allein bin. Weil ich dort offen bin. Ich greife nach der Jacke, um nicht weiterdenken zu müssen. Fiat hält mir das Buch hin.

      „Lies einfach mal rein und überlege dir, was das mit dir zu tun haben könnte.“

      Ich sehe den Titel: Daimones.

      „Was ist das, ein Grimoire?“

      Fiat winkt ab. „Nein, nein. Das Buch ist von einer Psychologin. Da geht es um Archetypen und so. Vielleicht bringt dich das auf neue Ideen.“

       # 5: 20. Januar

      Eigentlich wollte ich Lysian nichts von der Party erzählen, aber dann bekam ich doch Muffensausen und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox. Er rief eine Stunde später zurück und tat so, als würde ihn das alles nicht interessieren, aber ich merkte trotzdem, er war total scharf darauf, auf die Leute, die dort sein würden, das ganze Volk von Musikern und Künstlern, und ich bereute es, ihn eingeweiht zu haben, denn ich wollte aus einem anderen Grund dahin gehen, nicht wegen der Drogen oder der coolen Leute oder der Musik, aber das konnte ich ihm nicht sagen. Um zehn holte er mich ab. Er kam nicht nach oben, sondern wartete im Taxi. Im Treppenhaus stand mein Nachbar vor den Briefkästen und telefonierte. Er winkte mir zu und ich winkte zurück. Ich mag ihn, aber ich glaube, er hat noch mehr Probleme als ich.

       Als wir ankamen, war ich sehr aufgeregt. Er war nicht da und ich stritt mich mit Lysian, weil ich ein kurzärmeliges Oberteil anhatte. Er meinte, ich würde extra so was anziehen, damit man die Narben sieht. Weil ich es nötig hätte und andere damit aufgeilen wollte. Klar. Ich schmiss das Glas auf den Boden und ging aufs Klo, wo ich gefühlte Stunden damit verbrachte, an mir herum zu kratzen und meine schmutzigen Schuhe und den Dreck zwischen den Füßen anzustarren. Als ich wieder rauskam, war Lysian weg und ich betrank mich. Er hatte mir nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Egal.

       Und dann sah ich ihn. Er lächelte mich an, aber kam nicht zu mir her und ich merkte, wie mir übel wurde, als ich den Kopf hob und zurück lächelte. Also ging ich wieder aufs Klo kotzen. Als ich zurückkam, lächelte er noch immer und ich ging zu ihm hin, immer noch betrunken, aber auf eine angenehmere Art. Die unfreundliche schöne Frau stand in einer Ecke, die kichernde Frau in einer anderen Ecke. Er lehnte mit einem großen dünnen Mann an der Bar, vor sich ein großes Glas Wasser oder Wodka.

       Sein Freund sah durch mich hindurch, wie fast alle anderen auf der Party, aber er lächelte mich an und umarmte mich, als würden wir uns kennen. Dann nahm er meine Hände und schaute sich meine Arme an. Er fragte mich, wer macht das? Und ich antwortete, ich. Und er sagte, es gibt bessere Wege. Dann gab er mir eine Visitenkarte von einer ‚Alchemistin’. Auf der einen Seite der Karte entdeckte ich eine Zeichnung von zwei Figuren mit Kronen, die nebeneinander in einer Kiste liegen. Ich fragte ihn, was ist das, Alchemie?

       Er sah mich einen Moment lang an, sie ist Hypnotherapeutin. Wenn du willst, kann sie dir helfen. Ich fragte weiter, brauche ich denn Hilfe? Er zuckte mit den Achseln, was denkst du? Er hörte auf zu lächeln und ich bemerkte zum ersten Mal, dass seine Augen nicht braun waren, obwohl ich ihn schon hundert Mal angeschaut hatte.

       Ich war so betrunken, dass ich gerne mit ihm herumgemacht hätte oder mit seinem Freund, der mich ignorierte und eine Zigarette nach der anderen rauchte und klare Schnäpse mit knappen Handbewegungen bestellte. Ich war so betrunken, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte aus meinem Körper heraustreten, ohne dass es weh tut, ich könnte einfach hinaus in die Welt gehen, meine Zunge in andere Menschen stecken, glücklich sein, leicht sein, sichtbar sein, ohne dass es weh tut.

       Er flüsterte seinem Freund