Tons May

Zellgeflüster


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Sujet, weil sie alles sein können.“ Ich rede schneller. „Wir haben nicht nur einen Geist, jeder von uns ist eine potenzielle Geistererscheinung. Wir sind das unerklärliche Zeug, vor dem wir uns fürchten.“

      Larissa blickt mich verständnislos an.

      Ich zeige auf das Portrait des toten Jungen mit dem Fisch im Mund, ein kleines Bild für meine jetzigen Verhältnisse und schwarzweiß.

      „Was fühlst du, wenn du ihn siehst?“

      Ich hasse es über die Bilder zu reden. Für meine Frau mache ich eine Ausnahme.

      Sie legt den Kopf schief. „Ich bekomme Angst. Ich weiß nicht, wovor, aber ich schaue nicht gerne hin. Obwohl es ... Obwohl es auch eine gewisse Faszination hat.“

      Sie denkt, ich möchte das hören. Am liebsten würde ich meinen Vortrag abbrechen. Es geht weiter. Worte, die wie aus Versehen aus meinem Mund stolpern. Hände, die in der Luft rudern. Kein Geisterschaum, der mir aus der Nase tropft. Nur Sätze, die sich nicht zu einem Konzept verdichten wollen. Ich bin konzeptlos. Das Schlimmste, das einem Künstler passieren kann.

      „Angst ist wichtig. Sie hilft dir beim Überleben. Du siehst etwas Totes. Oder etwas scheinbar Totes. Und du hast Angst.“

      „Freud?“, fragt sie leise.

      „Nein. Ich meine ja, vielleicht. Du merkst, du bist noch nicht tot, du bist noch nicht an diesem Punkt angekommen. Du fühlst dich lebendig.“

      Ich werfe einen Blick auf ihren Bauch, in dem Silvester Tag für Tag größer wird.

      „Aber du hast auch Angst, weil ein bisschen Tod schon in dir steckt. Wenn du das nicht in dir erkennen würdest, hätte es keine Wirkung auf dich. Das Unheimliche ist, dass du vielleicht selbst ein Geist bist. Dass es eine Kontinuität zwischen dem Tod da ...“ Ich zeige auf das Bild des Jungen, „und dir gibt.“

      Larissa schaut an sich herunter. Sie muss es nicht sagen, aber sie sagt es trotzdem. „Da ist Leben drin, Beat. Nicht Tod.“

      „Wo Leben ist, ist auch Tod. Aber darum geht es mir nicht.“

      „Um was geht es dir dann?“

      Sie sieht mich mit ihren langgezogenen grauen Augen an, mit einem Ausdruck, den sie in den Wochen zuvor perfektioniert hat. Der sich selbst genügende, auf sich selbst zurückgeworfene Blick einer Schwangeren. Ich bin empfindlich geworden.

      „Ich kann nicht anders. Ich muss. Nein, ich will. Ich möchte ...“ Ich breche ab. Ich kann es nicht erklären.

      Damals, kurz vor Silvesters Geburt, konnte ich ihr nicht erklären, warum ich Geister male. Ich wusste es selbst nicht. Ich war fasziniert von dem Thema und es ließ mich nicht mehr los. Was ich auch nicht erklären konnte vor elf Jahren: Die Faszination begann zu einer Obsession zu werden. Ich war meinem Sujet immer mehr ausgeliefert. Und ich fing an, dieses Gefühl, diese Unausweichlichkeit meines thematischen Zwangs zu genießen. Ich ließ mich davon völlig ergreifen. Und diese Selbstaufgabe hat bis heute angehalten. Ich werde die Geister nicht mehr los.

      Vielleicht ist es die Migräne, vielleicht mein Hang zur Hingabe: In dem Moment, in dem die Geister nach mir greifen, lasse ich los. Ich gebe meinen Widerstand auf, nicht weil ich denke, dass Abwehr nichts bringt (sie bringt nichts), sondern weil etwas tief in mir kitzelt. Ein kaum wahrgenommener, aber mächtiger Reiz, der mich zum Kratzen zwingt. Ich will, dass es mich ergreift. Dass etwas Fremdes in mir lebendig wird, mit mir verschmelzt. Dass ich zum Wirt werde, zur Petrischale, zur organischen Hülle für ein anorganisches Experiment.

      Wie hätte ich das meiner schwangeren Frau erklären können?

      Also lenkte ich ab und zeigte ihr die Fotos, die ich als Vorlage benutze. Die gefälschten Phänomene und fantasierten Besucher aus anderen Welten. Doppelbelichtungen. Manipulationen in der Dunkelkammer. Inszenierungen mit unsichtbaren Fäden, an denen Stoffe durch den Raum schweben. Nägel und Holzstücke, die unter weißen Kleidern verborgen werden. Wachs, das aus Mundwinkeln tropft. Kleine Mädchen, die mit Poltergeistern spielen. Viktorianisch zugeknöpfte Damen mit entrücktem Blick. Körperlose Hände, kopflose Körper, schwebende Köpfe, Gespenstergewänder aus Fleisch und Blut. Fotos, auf denen man die Erscheinungen suchen muss, Spiegelungen in Fenstern, Lichtflecken neben Grabsteinen, dickflüssige Nebelschwaden, die sich um Stuhlbeine und Treppenstufen wickeln. Verwackelte, unscharfe, beschädigte Fotos, die mehr verbergen als zeigen. Geistertheater, festgehalten von Aura-Amateuren und Spiritismus-Spezialisten. Eine faszinierende Welt, in der Kunst und Trickbetrug, meist ungewollt und selten ironisch zusammenkommen. Das okkulte Blut unserer Gesellschaft: Aberglaube, Liebe, Hoffnung.

      In diesen zufälligen Momentaufnahmen von Geisteraktivität wie auch in der akribischen Dokumentation von Séancen und Ritualen werden die Toten oder eingebildeten Toten aus dem Nebel der Vergesslichkeit gezogen. Sie dürfen ihre halb erinnerte Form in Rauch, Blut, Ektoplasma oder Speichel gießen. Solange der Tod, die Dunkelheit, das Zwielicht mit Geistern bevölkert sind, gibt es Hoffnung. Dann ist das Schattenreich nicht leer und sinnlos. Er ist voller Versprechungen. Es deutet über sich hinaus.

      Diese Versprechungen interessieren mich. Ich sammle sie, ich male sie. Versprechungen, die der Welt ein letztes Geheimnis lassen. Sie machen letztendlich für mich den Reiz von Gespenstergeschichten aus: Geister sind ein Tor ins Unendliche. In unbegreifliche, körperlose Welten jenseits der Gesellschaft. Jenseits eines zu kleinen, zu anstrengenden Lebens, das von Anfang an zäh anläuft und nur die Perspektive auf ein noch anstrengenderes Erwachsenenleben mit noch komplexeren Problemen zulässt. Geister sind die Perspektive hinter der Perspektive. Das eigentliche Ziel, wenn alle vorherigen Ziele sich als sinnlos herausgestellt haben. Sie bevölkern nicht nur den Tod und machen ihn so erträglicher, sie stehen stellvertretend für alle Abschiede. Denn neben Besuchern aus anderen Dimensionen und Parallelwelten sind sie auch eine Erinnerung an vergangene Phasen, abgetrennte Identitätsteile, an die Vergangenheit.

      Larissa erklärte ich schließlich, dass es mir um die Hoffnung geht, um den Hunger nach Leben und das gepflegte Gruseln, das man zwischen den Mahlzeiten braucht, um zu verdauen und wieder hungrig zu werden. Ich sage ihr, dass mich Geister an meine Kindheit erinnern und ich mich damit zu meinen Wurzeln begebe, zu den mehrdeutigen Geschichten sadistischer Verwandter. Dass ich diese Rückversicherung meiner Ursprünge brauche, um mich konstanter zu fühlen, fester und stabiler.

      „Geistergeschichten gehören zu meiner Identität. Ich bin damit aufgewachsen.“

      Larissa legt den Kopf schief und schiebt die Hand auf den Bauch. Dann dreht sie sich weg. Sie lässt den Kopf hängen. Ihr blondes Haar fällt nach unten, damals trug sie es noch lang und offen, und ich hebe die Hand, möchte hineinfassen, sie zurückziehen. Doch dann lasse ich die Hand wieder fallen. Man könnte sagen, ich habe es ihr nicht leicht gemacht. Wir haben es uns beide nicht leicht gemacht.

      Kapitel 6

      Der Mensch, halb vornübergebeugt auf dem Holzstuhl, kann Mann oder Frau sein. Ich habe mich bemüht, ihn so vage wie möglich aussehen zu lassen. Mehr eine Idee als eine Person. Ein Hintergrund für die Protagonisten des Bildes: die Tauben, die auf ihm, dem Stuhl und der Straßenlaterne sitzen und herumfliegen. Die Laterne die einzige sichtbare Lichtquelle. Es ist neblig auf dem Bild und die Vögel verlieren sich im Dunst. Manche von ihnen kann man in ihrer Bewegung nur erahnen. Lediglich die auf dem Stuhl, der Laterne und dem Menschen sitzenden Tauben haben feste Konturen, Leiber und Augen, die den Betrachter fixieren.

      Es sind die Augen, die mir wichtig sind. Ich kann Stunden damit verbringen, den richtigen Ausdruck in Pupillen und Lidfalten zu legen. Meist entsteht er dann, wenn ich nicht mehr ganz bei mir bin. Wenn ich die Pinsel weglege und mit den Fingern über die Leinwand husche, weiße oder schwarze Flecken im Vorbeiwischen hinter mir lasse. Dann, wenn ich mir nicht mehr richtig bewusst bin, wie es aussehen soll, bekommt es sein Aussehen. Selten so, wie ich es mir wünsche. Aber immer so, dass es passt. Irgendwann.

      Für Taubenaugen mache ich keine Ausnahme. Ich gebe ihnen gemeine, zärtliche, gelangweilte Blicke. Manche sind erregt oder blutrünstig. Andere vollkommen entspannt. Sie entsprechen den Gefühlen des