Tons May

Zellgeflüster


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       Als Lysian das letzte Mal da war, schrie er mich an. Er meinte, er kommt erst wieder vorbei, wenn ich damit aufhöre. Ich gab zurück, dass er gar nicht mehr vorbeikommen muss. Danach ging’s mir zwei Sekunden lang besser.

       Nach dem Sex haute er sofort wieder ab und seitdem geht er nicht mehr ans Telefon. Ich habe seine Sachen in einer Plastiktüte gesammelt und stelle mir vor, wie ich sie im Wald verbrenne. Und dann stelle ich mir vor, wie sich mein Leben verändert, wie ich mich endlich wieder mit Sylvia oder Des verabrede, wieder an die Uni gehe, einen Job finde und mit meiner Mutter telefoniere. An dieser Stelle hört meine Fantasie auf und ich rufe ihn zum hundertsten Mal an und atme auf seine Mailbox.

      Als ich auf der Straße stehe, fängt es an zu nieseln. Ein warmer, weicher Sommerregen. Ich lege den Kopf in den Nacken und frage mich, warum ich Juliana – oder eine Frau, die ihr ähnlich sieht – in einem Autounfall gemalt habe. Hatte ich mir irgendetwas dabei gedacht? Blöde Frage. Ich denke nie beim Malen. Ich blinzle und fühle, wie der Regen den Hals hinunter ins T-Shirt läuft. Hatte ich an dem Autounfall schon gearbeitet, als sie bei mir war? Hatte ich der Frau nachträglich ihre Züge gegeben? Ich lasse den Kopf nach vorne fallen und sehe, wie Tropfen aus dem Haar in die Jacke perlen. Wenn ich die Augen zusammenkneife, sind die Tropfen bunt, gefüllt mit kleinen, zitternden Tieren. Ich reiße die Augen auf, bevor die Tiere zu groß werden und schüttle den Kopf.

      Warum hatte Juliana ein Foto von mir? Fotografierte sie mich heimlich? Gab ihr jemand anderes das Foto? War es das einzige Foto, das die Polizisten bei ihr von mir fanden? Verfolgte sie mich? Ich versuche mir alle Begegnungen mit ihr in den letzten Wochen in den Kopf zu rufen. Verhielt sie sich jemals merkwürdig mir gegenüber? Ich kann mich nicht erinnern. Sie wirkte nicht so, als sei sie interessiert an mir. Wie eine Satanistin wirkte sie auch nicht, aber wer kann das schon beurteilen?

      Ich mache mich zu Fuß auf den Heimweg, bis mir der Geruch von letzter Nacht einfällt. Ich will nicht allein sein.

      Erst rufe ich Jesse an. Er geht nicht ans Telefon, also versuche ich es bei Maya. Ich erzähle irgendetwas Unzusammenhängendes. Meine Nachbarin, komische Zufälle, die Polizei. Maya sagt, sie sitze mit einer Freundin im Café. Aber Jesse sei zu Hause. Ich rufe wieder bei ihm an und lasse es bis zur Mailbox klingeln. Immer wieder. Schließlich nimmt er ab. Seine Stimme ist heiser. Bevor er sich beschweren kann, sage ich ihm, dass ich vorbeikommen muss, weil es bei mir spukt.

      „Scheiße, Mann, bei dir spukt’s immer.“

      Ich nicke und warte. Ich bin mir sicher, dass Jesse mein Nicken und Warten hören kann.

      Er gähnt. „Dann komm halt vorbei. Kannst du was mitbringen?“

      „Ich war gerade bei den Bullen und habe nichts dabei.“

      Auf einmal klingt er wach. „Was machst du bei den Bullen?“

      Ich kaufe im Park überteuertes Gras und stehe eine halbe Stunde später vor Jesses Tür. Er macht mir in Mayas Bademantel auf. Sie versinkt in dem flauschigen blaugrünen Frottee, während der Mantel an seinem Körper wie an einer Vogelscheuche hängt. Der Stoff riecht nach ihrem Parfüm. Leicht, frisch, mädchenhaft. Nichts an diesem Duft ist braun, schwer oder erinnert an die Siebziger. Ich habe sofort ein Gefühl von Geborgenheit, auch wenn ich weiß, dass es der Wolf ist, der mir die Tür öffnet, nicht Rotkäppchen. Ich halte ihm die kleine Tüte vor die Nase und er lächelt langsam. Dann zieht er mich ins Schlafzimmer und stößt die Tür mit dem Fuß zu.

      „Was ist das für eine Geschichte? Die Bullen waren bei dir?“

      „Anscheinend hat sich meine Nachbarin umgebracht.“

      Jesse lässt den Bademantel auf den Boden fallen und setzt sich aufs Bett. Sein langer, dünner Körper wirkt wie immer krank, zerbrechlich. Der erste Eindruck täuscht. Wenn er krank ist, dann nur, weil er das will. Ich setze mich daneben.

      „Kanntest du sie?“ Seine Stimme ist immer noch heiser, der Husten hinter den Stimmbändern erahnbar.

      „Flüchtig.“

      Ich bemerke lange Kratzspuren auf seinem linken Arm.

      „Sie hat sich angeblich vorher ein Auge ausgestochen.“

      Jesse reißt die Augen auf und reibt sich das Haar aus dem Gesicht. „Krass.“

      Er riecht nach kaltem Rauch und Kater, säuerlich. Ich lasse mich aufs Bett fallen und schaue an die Decke. Mein Blick fällt auf seinen Rücken, auf die Liebe Frau von Guadalupe, die ihre Hände über seiner Wirbelsäule faltet. Ich fahre mit meinem Finger die Konturen des Engels auf seinen Nieren ab, während er sich nach unten beugt und nach einem Aschenbecher sucht. Er wehrt sich nicht.

      „Was auch krass ist, ich habe sie letzte Woche gemalt. Mit einem fehlenden Auge.“

      Jesse dreht sich um. „Du hast was gemacht?“

      „Ich habe eine Frau gemalt, die ihr ähnlich sieht. Die Frau liegt in einem Autowrack und hat nur noch ein Auge.“

      Er starrt mich an. „Schon wieder. Mann, das kann kein Zufall sein.“

      Ich zwicke ihn in die Hüfte, suche vergebens nach Fett.

      Er schlägt meine Hand weg. „Lass den Scheiß.“

      Ich erzähle ihm von dem Verhör. Von dem Bild, das ich gemalt habe. Das Foto lasse ich weg. Ich will ihn nicht paranoid machen. Stattdessen rede ich auf einmal von der Party, der Frau und dem Verfolger. Jesse rollt einen Joint und zündet ihn an, ohne mich zu unterbrechen. Als ich fertig bin, hält er ihn mir hin.

      „Glaubst du, das sind alles Zufälle?“

      „Nein, Jesse, ich habe das Zweite Gesicht.“

      „Und wo hast du dein erstes gelassen?“

      Meistens überhört er meine Ironie, aber manchmal überrascht er mich.

      „OK, keine Zufälle. Alles von langer Hand von irgendwem geplant. Was soll ich tun?“

      „Du hast dir also den Typ gegriffen und dann?“

      „Was dann? Ich habe ihm eine reingehauen und bin zurück zum Fahrrad.“

      „Du haust dem Typ eine rein, ohne zu fragen, was er will?“

      Meine Geschichte hat offensichtlich so viele Löcher, dass selbst Jesse merkt, dass was faul ist.

      „Er hat angefangen.“

      „Mit was?“

      „Er hat mich verfolgt. Und dann hat er mich in diesen Hinterhof gelockt. Und dann.“

      Ich mache eine vage Handbewegung. Jesse scheint zu verstehen, was ich meine. Besser als ich selbst. Ihm passieren ständig Dinge, die unerklärlich bleiben. Ein Zustand tropft in den nächsten, ohne dass er begreift, warum. Jesses Welt: permanentes Vorsprechen im Vorzimmer der Bewusstlosigkeit. Er gibt sich mit meiner Handbewegung zufrieden. Dann beugt er sich über mich. Er fährt mir mit der Hand über den Hinterkopf und ich spüre den Stich.

      „Fette Beule. Hat er dich da erwischt?“

      „Kann mich nicht mehr erinnern.“

      Amnesie ist auch etwas, das er verstehen kann. Amnesie gehört zu seinem täglichen Leben.

      „Und was hast du jetzt vor?“

      „Ich habe keine Ahnung. Die Bullen denken, ich habe damit was zu tun. Dass ich irgendwie mitschuldig bin an ihrer Psychose. Dass ich ihr Drogen gegeben habe. Dass sie ausgerastet ist wegen meiner Bilder.“

      „Das haben sie gesagt?“

      „Angedeutet. Ich glaube, die halten mich für einen Spinner.“

      „Du bist ein Spinner.“ Er schubst mich zurück aufs Bett, drückt mich nach unten mit einer Energie, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Als er mein Hemd nach oben zieht, greife ich nach dem Joint und ziehe den Rauch tief in meine Lungen. Der Rauch legt sich über meine Schleimhäute wie eine zweite Haut. Ich tu so, als würde ich mich wehren, aber ich