Tons May

Zellgeflüster


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eine klaffende Wunde zieht sich von der Augenbraue zur Wange.

      „Würden Sie bitte mitkommen? Wir haben noch ein paar Fragen an Sie.“

      Julianas Foto weckt Erinnerungen. Vor ein paar Wochen hatte ich sie am Auto getroffen. Eine kleine, schüchterne Frau. Ihr blondes Haar fiel strähnig auf ihren dunkelgrünen Parka. Sie nickte mir zu und ich nickte zurück. Sie war eine der wenigen im Haus, die ich öfters sah, neben der Familie über mir und dem Anwalt von ganz oben, der früh morgens in seinen alten Porsche steigt und spät abends wieder nach Hause kommt. An dem Tag, als ich Juliana traf, war ich gut gelaunt. Ich suchte meinen Geldbeutel im Auto und hatte mich gerade damit abgefunden, dass ich ihn verloren hatte, aber es war mir egal. Und das machte mich glücklich. Als sie vorbeikam, erzählte ich ihr davon. Sie lachte und ich fragte, ob sie etwas trinken wollte. Wir gingen zu mir und sie schaute sich die Bilder an.

      Ich drückte auf alle Lichtschalter. Die Neonröhren flackerten eine nach der anderen an, tauchten meine Höhle in ein grelles, kaltes Licht. Dennoch schien Juliana im Dunkeln zu stehen. Sie drehte sich um, die Hände in den Taschen ihres riesigen Parkas, und kam auf mich zu. Ich berührte sie am Arm. Einen Moment lang wollte ich sie an mich ziehen, trösten. Sie aus der Jacke retten, aus der Dunkelheit, Licht an ihre Haut lassen. Sie reichte mir den Joint, ohne mich anzusehen. Ich ließ sie los. Sie kratzte sich an der Nase, schaute auf den Boden, verfolgte mit ihrem Blick die Spuren der angetrockneten Farbkleckse, als wollte sie einen Code entziffern. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie verschwand vor mir, als würde ihr Parka sie einsaugen. Schließlich verabschiedete sie sich, ohne die Augen zu heben.

      Zuerst dachte ich, die Bilder hätten ihr Angst gemacht. Oder meine kurze Leidenschaft, die sofort wieder abflaute. Vielleicht war sie enttäuscht. Vielleicht hätte ich ihr nichts zu rauchen geben sollen. Dass sie Probleme hatte, ahnte ich. Die meisten Leute, die ich kenne, haben Probleme. Aber sie war anders als die meisten Leute, die ich kenne. Für einen Moment gestand ich mir ein, was ich sah, ihren verunsicherten Blick, ihre schmale Hand, ihren kleinen, weichen Mund, der so unbeteiligt im Gesicht hing. Ich hätte sie zerdrückt.

       # 2: 06. Januar

       Nachdem Lysian verschwand und mich auf der Rechnung sitzen ließ, ging ich aufs Klo. Ich setzte mich in eine der beiden Kabinen und starrte meine Schuhe an und die braunen Schlieren auf dem Stück Boden dazwischen. Ich blieb so lange, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann ging ich zum Waschbecken und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Auf dem Weg zurück zum Tisch sah ich ihn, diesmal mit einer anderen Frau. Sie saßen an der Bar und er lächelte mich kurz an, auf eine Art, auf die ich reagieren oder die ich ignorieren konnte, freundlich, aber unverbindlicher als das letzte Mal. Mein erster Impuls war zurückzuwinken und vorbeizugehen, doch dann war mir alles egal und ich ging zu den beiden hin, mit verquollenen Augen, angetrunken, schlimmer geht’s nimmer.

       Die Frau kicherte bei allem, was ich sagte auf eine nette, asiatische Art und ich musste auch lachen. Er gab mir eine Nummer, die ich anrufen kann, wenn ich das nächste Mal ‚zu viel Energie’ habe. Ich getraute mich nicht zu fragen, was er damit meinte, aber ich war ihm dankbar, dass er meine Hand berührte, dass er mich anschaute, dass seine Freundin mit mir lachte und dass er mir eine Telefonnummer gab. Obwohl mich das mit der Telefonnummer auch verunsicherte. War es seine? Wohl kaum. Ich bin mir sicher, ich werde nicht anrufen.

      Der Polizei erzähle ich, dass sie tatsächlich einmal in meiner Wohnung war, um sich die Bilder anzuschauen. Ich hatte es vergessen. Und vielleicht hatten sich ihre Gesichtszüge so eingeprägt, dass ich sie Wochen später gemalt habe. Das war Zufall. Und das mit dem Auge auch. Auf der Wache zeige ich ihnen das Foto, das ich als Vorlage benutzt habe. Die abgebildete Frau sieht ihr tatsächlich ähnlich. Ich zeige ihnen das Bild des verletzten Auges, „aus dem Internet“. Beide Abbildungen lagen glücklicherweise noch oben auf dem Schreibtisch und ich musste nicht lange suchen. Die Polizisten sehen sich an. Und dann mich. Einer schiebt mit kritischem Blick die Bilder in eine Folie. Ich muss irgendetwas erklären, aber mir ist nicht klar, was genau.

      Woher ich meine Inspirationen nehme?

      „Ich bin meistens betrunken, wenn ich male.“

      Der Polizist nickt mit einem wissenden Blick und ich muss mich zusammen reißen, um nicht wieder mitzunicken. Ich bin wie hypnotisiert. Sie haben mir Blut abgenommen und mich in einen Becher pinkeln lassen. Ich hoffe, sie nehmen mir den Führerschein nicht ab. Der Polizist nickt weiter und öffnet eine Mappe, die vor ihm liegt. Er zieht ein Foto heraus, legt es mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und schiebt es zu mir her. Während ich es aufdecke, beobachtet er mich mit gesenktem Kopf.

      Ein Foto von mir und Jesse. Wir stehen an einer Bar, um uns herum Leute. Wir schauen uns an, ich halte mich an einem Bier fest, Jesse gestikuliert mit einer Zigarette in der Hand. Offensichtlich bemerken wir nicht, dass wir fotografiert werden. Ich versuche zu erkennen, in welchem Laden das Foto aufgenommen wurde, aber der Tresen, das Personal und die Leute um uns herum kommen mir nicht bekannt vor. Dann sehe ich die ausgestopften Hirsch- und Wildschweinköpfe hinter dem Tresen. Toms neue Bar. Ich war letzte Woche dort. Langsam schiebe ich das Foto wieder zurück und schaue den Beamten fragend an.

      „Kennen Sie das Foto?“

      Ich schüttle den Kopf.

      „Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Nachbarin dieses Foto hatte?“

      „Nein.“

      „Wissen Sie, wann es gemacht wurde?“

      Ich schüttle wieder den Kopf. Die Schläfen pochen.

      „Und wer ist das da?“ Er zeigt auf Jesse.

      „Ein Bekannter.“ Ich erfinde einen Namen. „Ich glaube, er lebt inzwischen wieder in Spanien.“

      „Sie wissen nicht, wie Frau Narkos zu dem Foto gekommen ist?“

      „Keine Ahnung.“

      „Sie wissen auch nicht, wo es entstanden ist?“

      „Ich kann mich an den Laden ... oder die Situation ...“, ich gestikuliere fahrig in die Richtung des Fotos „nicht erinnern.“

      „Und Sie wissen nicht, wer das Foto gemacht hat? Frau Narkos selbst vielleicht?“

      Mein Blick fällt auf die Wand hinter dem Kopf des Polizisten. Sie ist gelblich vergilbt und kahl. Am Übergang zur Decke wird sie weiß. Wenn der Beamte den Mund öffnet, haben seine Zähne denselben Ton. Ich schüttle den Gedanken ab.

      „Warum sollte sie mich fotografieren? Wir kannten uns kaum.“

      Die Polizisten werfen sich einen Blick zu. Sie glauben mir nicht. Der eine fragt weiter. „Wissen Sie, wo wir das Foto gefunden haben?“

      Ich hebe die Hände. „Auf ihrem Schreibtisch?“

      „Waren Sie schon einmal in der Wohnung von Frau Narkos?“

      „Nein.“

      „Es gibt keinen Schreibtisch in ihrer Wohnung. Es gibt überhaupt keinen Tisch oder irgendwelche anderen Möbel. Nur eine Matratze. Ist das nicht merkwürdig?“

      Der Mann schaut mich an, als könnte ich dieses Rätsel lösen. Ich starre zurück.

      „Und neben der Matratze haben wir ein Notizbuch gefunden“, fährt er fort. „Eine Art Tagebuch. Da drin steckte das Foto. Sie wissen nicht, wie es dahin gekommen ist?“

      „Vielleicht steht es in dem Notizbuch?“

      Der Polizist lehnt sich wieder zurück. „Leider können wir mit den Einträgen nicht viel anfangen. Ein paar Experten schauen sich das gerade genauer an.“

      „Was für Experten?“

      „Experten für Hexerei und Satanismus.“ Der Polizist lächelt säuerlich.

      Ich lächle zurück.

       # 3: 14. Januar

       Ich weiß nicht mehr genau, wann es wieder angefangen hat, ob der Streit mit Lysian daran schuld ist