Tons May

Zellgeflüster


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ihre Lieblingsarbeit von mir und ich dachte, sie würde es für sich behalten. Nun ist es verkauft. Es ging an einen Käufer, den keiner von uns kennt. Mir ist es egal, wo Die Mutter künftig hängen oder stehen wird. Ich bin dankbar für das Geld.

      Als ich nach Hause komme, ist die Alkoholeuphorie einer Mattheit gewichen. Ich mache mir einen Kaffee, rolle einen Joint, setze mich in den Sessel und schaue mir die letzten Bilder an. Etwas in mir sträubt sich, ich kann nicht arbeiten. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Zeit über mich schwappt, wie sie mich abschmirgelt, wie ich kleiner und glatter werde, während die Sekunden und Minuten an mir abperlen, in irgendeiner anderen Welt zu Stunden gerinnen, zu Zeiteinheiten, die nicht mir gehören. Stunden, die nur in der Uhr stattfinden, im Wechsel von Licht und Dunkelheit, Lärm und Stille. Verlorene Stunden.

      Manchmal zerfallen ganze Tage auf diese Weise, während ich auf dem Bett liege oder im Sessel und nicht male, nicht lese, nicht im Netz bin, nicht saufe, nicht wichse, keine Musik höre, nicht schlafe. Tage, in denen ich nichts mit mir anzufangen weiß. Tage, in denen mir Dinge passieren, ohne dass ich dabei bin.

      An diesen Tagen habe ich zu viel Zeit. Zu viel Zeit, um an einem Bild zu arbeiten oder ein Buch anzufangen. Zeit, die sich anhäuft, Stunde um Stunde, erwartungsvoll, voller Möglichkeiten. Zu viele Möglichkeiten. Sie wachsen in einen Berg, der sich dunkel vor mir aufwirft. Zu hoch, um bestiegen zu werden. Manchmal möchte ich nur in der Zeit schwimmen, mich treiben lassen, bis die Zeit wieder knapp wird, bis Struktur in die Stunden gespült wird. Bis ich aufstehe aus dem warmen Zeitbad und unter die kalte Dusche von Terminen, Alltagsritualen und Routine steigen muss.

      Heute ist keiner dieser Tage. Heute habe ich meine Termine, Alltagsrituale und Routinen wie ein verantwortungsbewusster Bürger wahrgenommen. Jetzt liegt die Blockade woanders. Ich merke es am metallischen Geschmack im Mund. Am Gefühl, dass etwas in der Luft hängt. Etwas, das raus will. Etwas, das raus muss. Als das Pochen in den Schläfen anfängt, nehme ich eine Schmerztablette, setze mich an den Küchentisch und klappe den Skizzenblock auf. Das Spiel beginnt.

      Während ich den Bleistift über das Papier führe, ist mir kein konkreter Gedanke bewusst. Ich versinke immer tiefer in Trance. Scheinbar ziellos verknüpft sich Kringel mit Kringel. Linien ziehen sich über die Fläche und zerschneiden das Blatt, bis es voll gekritzelt ist und ich es automatisch abreiße und auf dem nächsten weiterkritzle. Formen entstehen, eine Gestalt wächst aus der nächsten und eröffnet eine Welt an Möglichkeiten für neue Figuren, die sich sofort wieder zerlegen, Paralleluniversen zeigen sich, verschwinden mit dem nächsten Strich. Ich interpretiere nicht, ich werte nicht. Noch nicht. Ich lasse nur einfach die Gestalten auftauchen, die auftauchen wollen und zerstöre sie sofort wieder mit meiner Hand.

      Automatisches Zeichnen reinigt die Fantasie. Wenn ich sie nicht regelmäßig säubere, bekomme ich unerwünschten Besuch. Er kommt zu unpassenden Zeiten. Klopft leise an, als würde er um Einlass bitten. Dann bohrt er sich laut in den Hinterkopf, die Hände voller Geschenke. Ein Blumenstrauß mit Aura, Visionen zwischen den Schmerzspitzen.

      Heute lasse ich los, bevor mich die Migräne erwischt. Je tiefer ich sinke, desto leichter kann etwas anderes in mir auftauchen. Ein Kribbeln im Unterleib, ein Druck im Magen, ein Ziehen in der Brust, bis es sich voll entfaltet, wie eine Blume aus Blut in mein Gehirn schießt. Es fängt an. Ein Gefühl der Entfremdung, erst unangenehm phantomartig, dann verliere ich den Kontakt zum Papier. Es bekritzelt sich selbst, während etwas anderes mich bekritzelt, in mir kitzelt. Ich bin auf einmal bevölkert. Ich gebe auf.

      Am liebsten zeichne ich, wenn ich allein bin. Ich kann es nur schwer ertragen, wenn mir jemand dabei zusieht. Wenn jemand da draußen ist, während etwas anderes in mir drin ist. Wenn man sieht, wie ich wegtrete. Wie ich mich bevölkern lasse. Ein Zucken im Lid, ein Zittern in der Lippe, in der Schläfe. Mein Blick. Irgendetwas würde mich verraten.

      Einmal griff ich zum Skizzenblock, als ich nicht allein war. Maya lag neben mir, eingerollt. Ihr braunes Haar zeigte in alle Richtungen, eine Hand hatte sie ins Kopfkissen verkrallt. Ich konnte nicht einschlafen und betrachtete ihren Oberkörper, die Verdrehung in die Matratze, womöglich in einen Traum hinein. Sie atmete gleichmäßig. Ich nahm an, sie würde nicht so schnell aufwachen, ging zum Tisch und begann zu zeichnen. Etwas wollte raus. Ich kritzelte mich in wenigen Sekunden in eine Trance hinein. Ich fühlte das Frösteln, dann den Druck. Es war da. Ich war drin.

      Ich weiß nicht mehr, was danach kam, aber dann kam Maya. Auf einmal stand sie hinter mir, beugte sich über mich, drückte ihren Kopf an meinen. Es katapultierte mich heraus. Ich kippte mit dem Stuhl nach hinten, schrie wahrscheinlich. Ich erinnere mich, wie sie mich anstarrte. Wie sie auf den Block starrte. Wie sie den Kopf schüttelte. Ich weiß nicht, ob sie Jesse davon erzählte. Er erwähnte es nie. Aber vielleicht hatte er es auch gleich wieder vergessen.

      Es dämmert, als ich den Bleistift weglege. Ich blättere durch die Seiten und sehe überall Kringel, Kreise und Spiralen. Und etwas, das so aussieht, wie ein schlangenförmiger Drachen. Er windet sich aus einer unruhigen Fläche heraus und scheint Feuer zu speien. Die Interpretation des Gekritzels ist nicht wichtig. Was wichtiger ist: Es ist draußen, es ist frei. Jetzt kann ich weitermalen.

      Ich arbeite an Fiats Auftrag bis nachmittags, bis die Augen tränen und der Krampf in der linken Schulter unerträglich wird. Dann lege ich mich für ein paar Stunden hin. Jesse spielt mit seiner Band und mir fällt keine Ausrede ein, nicht vorbeizugehen. Ich denke an die vielen jungen Frauen und alten Freunde, die da sein werden und schlurfe ins Badezimmer. Wenn ich es mir lange genug schönrede, kann ich mich fast darauf freuen.

      Als ich unter der Dusche stehe, ruft Fiat an. Ich schicke ihm eine Nachricht, dass alles in Ordnung ist, dass ich mich am nächsten Tag melde.

      „Nicht mehr im Meer getrieben?“, textet er zurück.

      „Nur mein Astralleib“, antworte ich.

      „Und das Haus?“

      „Ist in Arbeit.“

      Das scheint ihn zu beruhigen. Er meldet sich nicht mehr.

      Bevor ich gehe, werfe ich einen Blick auf die Holzhütte. Den Geist hinter dem Fenster werde ich weglassen. Die Besucher sitzen woanders.

      Kapitel 2

      Sobald die Scheinwerfer von oben weiße und blaue Säulen werfen und der Staub in der Luft flimmert, erwischt es mich. Ich schaue nicht mehr nach rechts oder links. Nehme nichts mehr anderes wahr. Ich bin das erste Mal seit Ewigkeiten richtig da. Bin so präsent, dass ich an nichts mehr denke. Nichts lenkt mich ab. Ich bin ganz leer.

      Dieser Moment rollt über mich in einer Welle, die vielleicht zwei Sekunden dauert, vielleicht zwei Minuten. Ich bin leer, ich bin zeitlos, ich schwimme im Sound. Und dann stolpert die Frau neben mir in mich hinein und verschüttet ihr Getränk auf mir. Die Zeit läuft wieder.

      Die Frau entschuldigt sich und will mir unbedingt ein Bier ausgeben. Ich sage, später. Ich will jetzt nicht abgelenkt werden, mich nicht bedanken müssen, ich will wieder in der Welle und hier sein. Die Frau brüllt mir ins Ohr, sie könnte mir auch was anderes ausgeben, nach dem Konzert. Ich nicke und hoffe, dass sie bis dahin noch jemand anderen nass macht und ihr Angebot vergisst.

      Schnell drehe ich mich weg und hänge mich an die Stimme, die von der Bühne kommt, hänge mich daran wie an ein Seil, bring mich zurück, Stimme. Und der Sänger tut, was er immer tut. Er macht einen Salto ins Publikum, verschwindet zwischen Händen und Köpfen. Das Wogen bleibt unbestimmt, die Hysterie greifbar, ohne in eine bestimmte Richtung auszuschlagen. Doch dann kommt er näher. Er wird in meine Richtung getragen oder drückt sich selbst durch das Publikum, durch den massigen Körper, der immer höhere Wellen schlägt. Um mich herum fuchteln Telefone. Die Stimmung ist wie immer ausgelassen. Alle wollen ihn anfassen, sich an das Seil hängen und in die Welle gezogen werden, wie ich.

      Ich aber will ihn nicht anfassen. Ich bin kein Fan.

      Ich weiß jetzt, dass es eine Schnapsidee war, mich direkt vor der Bühne unter die harten Fans zu mischen. Ich habe das nur gemacht, weil Jesse nach jedem Konzert meint: „Das nächste Mal musst du dich ganz