Tons May

Zellgeflüster


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sie einschläft, haben wir noch einmal Sex. Ich versuche, Jesse aus ihren Gedanken zu stoßen, was mir insofern gelingt, dass ich selbst nicht mehr an ihn denken muss. Ich bin in einem Zustand zwischen Orgasmus und Traum und sehe nur noch verschwommen, wie Maya den Kopf auf die Seite dreht und die Augen schließt. Als ich meine Augen wieder öffne, bricht die Sonne hart durch die halb geschlossenen Jalousien. Ich ziehe mir die Decke über die Augen und höre, wie jemand die Tür aufschließt. Es ist nachmittags. Der Raum ist heiß und ich habe ein Kratzen im Hals. Auch in meiner Erinnerung kratzt etwas, mein schlechtes Gewissen. Ich habe meinen Termin mit Larissa verschlafen. Jetzt wird sich ihr Zeitfenster wieder für mindestens eine Woche schließen. Ich muss husten, aber das Kratzen werde ich nicht los. Das schlechte Gewissen auch nicht.

      *****

      Der Pinsel sinkt ein und hinterlässt ein weißes Dreieck in der Pupille. Hier zeigt sich der Angreifer. Er spiegelt sich winzig klein, in einer Bewegungsunschärfe. Doch er ist keineswegs unscharf. Sein Opfer ist mein Opfer: die Frau vor der Treppe. Vor zwei Wochen fing ich mit ihr an und kam anfangs nur langsam voran. Die wiederkehrende Angst vor der leeren Leinwand. Die ersten anstrengenden Schritte und Fehltritte. Dann nahm die Arbeit an Fahrt auf und Treppe und Hintergrund sind nun fast fertig. Der Schatten hinter ihr hat die richtige Form und Kontur. Vage genug, um jederzeit wieder im Bild zu verschwinden. Dunkel genug, um die Fantasie anzuregen. Glänzend wie eine Flüssigkeit. Am wichtigsten jedoch ist der Ausdruck der Frau. Noch ist sie nur verwirrt. Doch die Panik zerrt schon an ihr. Ihre Augen sind glasig, ihr Körper angespannt. Im nächsten Augenblick wird sie aufschreien. Ihre Muskeln werden zusammenzucken, durchschossen von Hormonen und widersprüchlichen Fluchtreflexen.

      Das Bild zeigt den Moment vor dem Moment.

      Zitternd setze ich zarte, helle Blitze auf die Reflektion in der Pupille, darauf kommen schwarze Punkte. Ich türme das Grauen Strich um Strich auf. Ich sehe, was der potenzielle Angreifer sieht. Mit jeder Bewegung des Pinsels wird das, auf was sie schaut, unerträglicher, ihre Angst fassbarer. Meine Augen brennen und ich blinzle, um den Fokus wieder scharf zu stellen. Ich kann nicht aufhören. Ihr Ausdruck stimmt noch nicht, etwas fehlt. Der Horror geht nicht tief genug, erfasst sie noch nicht komplett. Meine Hand zittert, die Schulter schmerzt, aber die Farben erreichen ihr Ziel. Sie wird lebendiger. Der Schock umgibt sie wie ein magnetisches Feld, in das der Pinsel hineinfährt, langsam, wie in Zeitlupe. Minute um Minute nimmt sie Form an, ihre Angst.

      Und dann passiert es.

      Ich berühre mit dem kleinen Finger einen Winkel ihres Mundes, zärtlich, und streichele ihr eine leichte Falte über die Lippen, kurz bevor sich der Mund in einen Schrei wölbt. In diesem Augenblick rieche ich es. Ein fremder Geruch, ein Duft, den ich hier noch nie wahrgenommen habe. Ich bin irritiert. Ich kenne diesen Duft. Eine Schublade in meinem Gedächtnis öffnet sich, weckt Erinnerungen. Ich drehe mich um und schaue in den Raum hinein. Die Deckenlichter sind angeschaltet, ein gnadenloses Neonlicht liegt auf allen Oberflächen. Ein Licht, unter dem sich die Schatten nur mit Fantasie halten. Ich kann in die Küche sehen, erkenne die Hälfte des Tisches, einen Stuhl, meine Jacke auf dem Stuhl, Geschirr und Gläser vom Abendessen.

      Neben der Küche ist der Schlafbereich. Hier stehen das Bett, die Kleiderstange und die alte braune Kommode mit dem Spiegel, den ich mit einem Tuch verhänge, wenn ich ihn nicht brauche. Daneben die Tür in den Raum, in dem Silvester schlafen soll, wenn er mich besucht. Da er sich weigert, woanders als in meinem Bett zu schlafen, benütze ich das Zimmer als Lager für meine fertigen Bilder. Auf der anderen Seite der Küche befinden sich die Tür zum Bad und der Schreibtisch. Regale an der Wand, Lautsprecherboxen, ein Sofa, ein kleiner Tisch und Leinwände. Überall stehen Leinwände, zwischen und hinter Möbeln, sie lehnen an drei Seiten des Raums. Leinwände, die ich auslagern sollte, aber nie die Zeit dazu finde. Alles sieht aus wie immer.

      Auch die Ecke zwischen Bett und Eingang, in der ich male und die ich „Atelier“ nenne, wenn ich lustig sein will, wirkt wie immer. Eigentlich wollte ich Wände einziehen, damit der Bereich vom Wohnraum abgetrennt ist, aber ich habe es bis jetzt nicht geschafft. Und eigentlich wollte ich auch schon längst ausgezogen sein oder mir irgendwo einen Atelierraum besorgt haben. Aber bis jetzt kam immer etwas dazwischen und ich stecke weiterhin in meiner dunklen, aber immerhin großen Zweizimmerwohnung im Parterre fest.

      Der Duft wird stärker und ich erinnere mich daran, wie meine Mutter abends im Bad vor dem Spiegel steht und sich schminkt. Hellbraune Korkwände ziehen sich bis an die Decke. Über dem Spiegel hängt eine Leiste halbversilberter Glühbirnen. Sie steht barfüßig auf den dunkelbraunen Kacheln und trägt ein hellbraunes kurzärmeliges Kleid, das wie eine logische Fortsetzung ihrer gebräunten Arme und Beine und der Korkwände wirkt. Ihr Haar fällt in dunklen Locken auf den Rücken. Sie lächelt mich schief im Spiegel an, während sie einen dunkelroten Lippenstift über ihre geschwungenen Lippen zieht, um die großen, geraden Zähne ihres vollen Mundes herum. Dann presst sie die Lippen aufeinander, steckt die Kappe auf den Lippenstift und dreht sich um. Sie beugt sich zu mir hinunter und nimmt mich in die Arme. Vor dem Spiegel sehe ich die braune Flasche, auf der in goldenen Buchstaben OPIUM steht. Das Lieblingsparfüm meiner Mutter.

      Einige Jahre später wechselte meine Mutter das Parfüm und ich habe es seitdem nicht mehr gerochen. Jetzt überfällt mich der anachronistische Duft mit voller Wucht und schickt mich in eine andere Zeit. Ich bin wieder das Kind, das auf den Babysitter wartet, während sich meine Eltern zum Ausgehen bereit machen. Der Babysitter kommt nicht und ich krieche ängstlich ins Bett, rutsche bis zum Haaransatz unter die Decke und stelle mich schlafend, aus Angst vor dem Dunklen Mann. Ich bete zu Gott oder was ich dafür halte, dass mich der Dunkle Mann verschont. Ein kurzatmiges Mantra gegen das, was in den Schatten und Träumen lauert, das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Meine Eltern wissen nichts von diesen Gebeten. Der Dunkle Mann ist eine effektive Erziehungsmaßnahme. Er wirkt immer. So auch in dieser Nacht.

      Jetzt, über 30 Jahre später, ist er zurückgekehrt. Ich erkenne ihn am Geruch. An der blitzartigen Erinnerung an eine Zeit, als ich nicht anders konnte, als Angst zu haben. Auch wenn ich nicht mehr an ihn glaube, ist die Wirkung dieselbe. Das Herz schlägt schneller. Mir wird heiß. Ich will mich sofort ins Bett legen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Atem anhalte, um kein Geräusch zu machen. Er ist nah. Mein Angreifer.

      Ich lege den Pinsel auf den Tisch neben der Leinwand und gehe in die Küche, um mir die Hände zu reinigen. Der Duft des Parfüms ist schwächer hier und ich schütte mir Terpentinersatz über die Haut. Der scharfe Lösungsmittelgeruch lenkt mich ab. Aus der Küche heraus sehe ich die Frau vor der Treppe. Ihr Ausdruck ist jetzt richtig. Und mir fällt noch etwas anderes auf. Ihre Nase ist gekräuselt, ihre Augenbrauen zusammengezogen. Die Frau sieht ihren Angreifer nicht nur – sie kann ihn auch riechen.

      Ich weiß, dass der Geruchssinn der älteste und archaischste unserer Sinne ist. Er beeinflusst direkt den Teil des Gehirns, der uns überlebenswichtige Impulse gibt. Flucht, Hunger, Geilheit. Wir erkennen am Geruch, was gut für uns ist und was uns schadet. Ich merke intuitiv, dass das, was ich rieche, nicht gut für mich ist. Und tatsächlich: Ich stehe noch in der Küche, als ich das Ziehen im Hinterkopf spüre. Es ist soweit.

      Migräne.

      Bevor mich der Schmerz komplett lähmt, suche ich nach den Tabletten. Ich finde nur leere Packungen und verfluche mich selbst. Dann schlucke ich eine Handvoll Paracetamol-Pillen, die nicht wirken werden, mir aber das Gefühl geben, mich gewehrt zu haben, und halte ein Handtuch unter das Wasser. Ich schaffe es noch aufs Bett und spüre, wie ein Teil von mir immer tiefer in die Matratze versinkt, während ein anderer Teil an der Stirn klebt, unter dem feuchten Handtuch, so weit wie möglich weg von dem Ziehen im Hinterkopf, das langsam lange, knochige Finger nach vorne ausstreckt. Das Lid meines linken Auges beginnt zu flattern. Grelle Lichtblitze knistern bis in den Hals. Ein Schlüssel dreht sich.

      Ein heller Spalt, eine Tür öffnet sich, etwas schlüpft hinein. In mich hinein. Klopft mir von innen an die Brust. Begrüßt mich. Dann dreht sich wieder alles. Ich schlüpfe irgendwo hinein. Um mich herum ein Sturm. Ich bin im Zentrum eines Wirbelwinds. Im pulsierenden Auge eines Orkans. Ich bin so tief im Schmerz, dass alles nur noch in einem Punkt stattfindet. Dann: Eine Vision unterhöhlt den Schmerz, schenkt mir kurz frische Luft, wenn auch mehr mental als körperlich. Ich bin mitten