Tons May

Zellgeflüster


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und von enthusiastischen Betrunkenen, die rhythmisch in meinen Rücken wogen. Das hätte ich tun können, aber dann wäre ich nie in die Welle geraten. Die Welle gibt es nur zwischen den Fans direkt vor der Bühne. Wo die Energie mit einem Klatschen auf die nassen Gesichter der Pogo-Tänzer prallt, der Oben-ohne-Mädchen und der brüllenden Jungs, die ihre Haare schütteln, egal ob sie welche haben oder nicht.

      Nur hier, inmitten der Begeisterung, erreicht mich die Kraft. Eine Keule, ein Sog, der mich ein- und aussaugt, ein Nebel, der überall hängen bleibt, vor allem in meinem Kopf. Ich schließe die Augen und lasse die Welle durch meine Schultern ziehen, durch den Bauch, die Beine und wieder zurück, bis mich das Kreischen um mich herum wieder herausreißt.

      Als ich die Augen öffne, steht der Sänger vor mir. Um ihn herum hysterisch zuckende Hände, Arme, Beine. Ich stehe wie angewurzelt vor ihm. Ich bin da, ich bin so was von da, bis er lächelt. Im nächsten Moment ist er schon hinter mir. Der Druck seiner Hand auf meinem Oberarm brennt und ich drehe mich um, sehe, wie er verschwindet, Hände, Arme, Beine falten sich um ihn, kleine Wellen, die nach hinten auslaufen, über mich drüber.

      Sein Lächeln: Er weiß, dass ich ein Freund von Jesse bin und den Platz hier ganz bewusst gewählt habe. Er weiß, dass ich wegen der Welle hier bin, nicht wegen ihm.

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       # 1: 21. Dezember

       Ich sollte nicht, aber ich schaue ihn immer wieder an, von weitem, versteckt hinter Leuten, hinter meinem Haar, das ich mir beim Trinken ins Gesicht fallen lasse, damit niemand sehen kann, wo mein Blick hingeht. Als würde es irgendwen interessieren. Wann immer ich ihn sehe, muss ich zu ihm hinüber schauen und mehr Alkohol trinken, als mir gut tut. Und gestern passierte es: Er schaute zurück. Er lächelte mich an – und das bildete ich mir nicht ein – er schaute mich an, so als würde er sich wirklich für mich interessieren. Nicht nur für die Schöne neben ihm, die durch mich hindurch sah, wie alle anderen in der Bar.

       Als ich an ihm vorbei ging, hielt er mich fest und nahm meine Hand, drehte sie um und blickte in die Handfläche. Und er sagte, wenn du es nicht versuchst, weißt du nicht, ob du es kannst. Seine Stimme war genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe, dunkel und heiser. Ziemlich sexy.

       Die Schöne sah mich einen Moment lang an, fast interessiert, und mir fiel ein, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Vor ein paar Jahren fuhr Lysian auf sie ab, aber er hatte keine Chance. Jetzt ist sie da, wo sie gut hinpasst: an seinem Arm.

       Sie war es dann auch, die ihn von mir wegriss. Er lächelte zum Abschied und sagte, bis bald.

      Jesse ist der Bassist der Band und das ganze Konzert über nüchtern geblieben. „Anweisung von oben.“ Jetzt tut er alles, um schnell in seinen Normalzustand zu kommen. Mindestens fünf Leute sind abwechselnd mit ihm beschäftigt und er kommt nach jedem Ausflug glücklicher zurück. Sein Blick ist nicht mehr klar, aber noch halbwegs fokussiert, als er mich an der Schulter packt und beiseite zieht.

      „Du musst dich heute um Maya kümmern“, flüstert er mir ins Ohr.

      Ich schaue auf den Boden. Maya ist seine Freundin, mehr als meine.

      Jesse kneift die Augen zusammen, formt mit der Hand einen Revolver und zielt auf eine Frau in der Nähe des Ausgangs. Sie sieht gut aus, vielleicht eine Spur zu nüchtern, aber sie ist nicht wegen eines romantischen Abends hier.

      Ich winke ihr zu. „Die kenne ich von irgendwo her. Tanja?“

      Jesse starrt mich an. „Woher?“

      Ich habe die Frau noch nie gesehen, aber ich bin mir sicher, dass Jesse auch nicht weiß, wie sie heißt.

      „Keine Ahnung. Von einer Party vielleicht? Oder der Bastille?“

      Ich huste, damit er nicht merkt, dass ich lachen muss. Es spielt keine Rolle. Jesse merkt nicht mehr viel.

      Er starrt sie weiter an, dann schweift sein Blick ab. „Wie ist sie?“

      „Ich erinnere mich nicht mehr.“

      Er schlägt mir mit der Faust auf den Oberarm.

      „Sehr witzig. Du gehst nachher zu Maya, OK? Sag ihr, dass wir noch feiern. Dass es später wird. Ach, sag ihr, was du willst, Mann.“

      Dann klopft er mir auf die Rücken und drängelt sich durch die Leute bis zu der Frau, die vielleicht Tanja heißt, aber wahrscheinlich nicht.

      Maya kommt nur noch selten zu den Konzerten. Jesse schiebt es auf ein Problem, das sie mit der Band hat. Mir sagt sie, sie könne Jesse nach einer Show kaum ertragen. Ich weiß, was sie meint. Auch ich halte mich an diesem Abend von ihm fern. Als ich um drei bei ihr klingele, öffnet sie mit einem Glas Wein in der Hand. Sie hat mich erwartet.

      Wir sprechen nicht viel und sie zieht mich auf das Sofa, wo wir so schnell und hektisch Sex haben, als könnte Jesse jeden Moment reinkommen. Als würde es ihn stören. Danach steht sie auf und geht ins Schlafzimmer. Während sie durch die Tür geht, gleitet ihre Hand an der Wand entlang und schaltet das Licht aus. Ich höre, wie sie eine Schublade öffnet und schließt. Dann kommt sie zurück und steht in der Tür, ein dunkler Schatten, in dem ich ihre Form erahne, die Kurve ihrer Rippen, die sich in den Körper hinein windet und an der Hüfte wieder heraus. Die Kurve, an der ich mich noch vor wenigen Minuten festgehalten habe.

      Jetzt sitze ich auf dem Sofa und bewundere sie. Ich höre ein Klicken, sehe eine Flamme vor ihrem Gesicht. In ihrem Mund ein perfekt gerollter Joint, so weit ich das erkennen kann, obwohl ich gar nicht genau hinschauen muss, denn ihre Joints sind immer perfekte, konisch schlanke Zweiblatt-Tüten, liebevoll gedreht mit ökologisch angebautem Tabak und Gras aus Krisengebieten. Sie kommt auf mich zu, ins Licht der Straßenlaternen, mit ihrem leuchtenden Körper und der Stille, die immer über sie kommt nach dem Sex. Auch ich bin still und hoffe, die Ruhe hält an. Hoffe, dass wir nicht mehr über Jesse reden müssen, über andere Themen, die ich heute Nacht gerne aussparen würde.

      Wir rauchen in beinverschlungener Entspanntheit. Ich fahre mit dem Finger an ihren Rippen entlang, bis sie kichert. Sie bricht das Schweigen. Etwas in ihr nagt und kratzt, muss raus, muss immer raus, wenn wir zu lange zu entspannt waren. Sie muss das Gleichgewicht herstellen, die andere Seite der Waage beladen mit ihrer Frage, die nur darauf abzielt, mich aus meinem weichen, wohligen Embryonalzustand herauszuholen und in den Regen der Realität zu stellen.

      „Was macht Jesse heute Abend? War er schon dicht, als du gegangen bist?“

      Ich kann nicht lügen, also lege ich den Arm um sie, versuche, die Frage in einer Umarmung zu ersticken, aber sie lässt nicht locker.

      „War er allein, als du gegangen bist?“

      „Es waren ziemlich viele Leute da. Die feiern bestimmt noch.“

      „Du weißt, was ich meine.“

      Obwohl ich sie in dem gelben Licht der Straßenlaternen gut erkennen kann, fühle ich ihre Augen mehr, als dass ich sie sehe. Groß, dunkel, vorwurfsvoll. Ihr Blick bohrt sich in mich und ich schaue weg.

      „Warum müssen wir immer über Jesse reden, wenn wir Sex hatten?“

      „Warum nimmst du ihn immer in Schutz?“ Sie seufzt und ihre Stimme wird leiser: „Hat er mit jemandem herumgemacht?“

      Jetzt seufze ich. „Nicht, solange ich da war“, rede ich mich heraus.

      „Er hat gesagt, du sollst dich um mich kümmern, stimmt’s?“

      „Habe ich mich schlecht gekümmert?“

      Und so geht es weiter, ein Satz prallt auf den nächsten, Fragen haben keine Fragezeichen mehr, Vorwürfe treffen auf Gedankenstriche und ich überlege mir mehrere Minuten lang, ob ich nach Hause gehen soll. Dann werfe ich einen Blick auf Mayas halbsitzenden Körper neben mir auf dem Sofa. Beobachte, wie sie die Arme um die Beine schlingt, den Kopf auf die Knie legt und entscheide mich dagegen. Ich helfe ihr hoch und bringe sie ins Bett. Sie schwankt an meiner